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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Es kam dazu noch die allgemeine Abwendung der deutschen Poesie von
dein Individuellen und Realen ins symbolische. Man interessirte sich bei den
Gegenständen nicht für das, was sie waren, sondern für das, was sie be¬
deuteten. Aber die Poesie ist überall unfähig, allgemeine Gedanken ohne
realistische Grundlage, ohne individuelle Ausführung darzustellen., Man erinnere
sich z. B, an die Beschreibung der pädagogischen Provinz in den Wanderjahren.
Die Gedanken, die den darin ausgesprochnen Symbolen zu Grunde liegen,
sind durchweg bedeutend, wahr und tief; aber man stelle sich die symbolischen
Gebräuche, die als Ideen vortrefflich sind, in einer wirklichen plastischen Aus¬
führung vor,, so wird man sich wie in einem Tollhause vorkommen. Wie un¬
glücklich müßten die Kinder werden, die ihre Erzieher wirklich dazu anhielten,
in stiller Betrachtung bald nach oben, bald nach unten zu blicken und sich
symbolisch an die Beziehung des Menschen zur Erde und zum Himmel zu
erinnern.

Wenn das wirkliche Leben in diesem Roman gewissermaßen wie eine
Massenbewegung aussieht, in deren Triebrad der Einzelne untergeht, so stechen
dagegen die episodischen Novellen, die zum großen Theil noch der frühern Zeit
angehören, und in denen das individuellste Leben in seiner höchsten Ercentri-
cität gefeiert wird, aus eine wunderliche Weise ab. Die Personen dieser No¬
vellen werden in jenes wunderbar anmuthige, dämonische Schicksal verflochten,
das Goethe so schön zu schildern wußte, aber sie setzen diesem Schicksal keine
innere Bestimmtheit entgegen, die uns in menschlichem Sinn verständlich wurde.
Es sind launenhafte Geschöpfe, deren arabeskenartige Bewegungen uns an- -
ziehen, denen wir aber keine innere Theilnahme schenken können. Diese Erccn-
trieität gipfelt in der Figur der Makarie, jener schönen Seele, deren innerer
Organismus so in daS Planetensystem verflochten ist, daß ein dilettantischer
Astronom daraus die überraschendsten Berechnungen herzuleiten vermag. So
verflüchtigt sich hier durch gesteigerte Ercentricität das Geistige ganz in ein
wunderliches Spiel der Natur, das der Poesie ebenso fremd ist wie dem
wirklichen Leben, denn die bloße Verwunderung ist kein poetischer Eindruck.

Makarie zeigt uns, in wie bedenkliche Abwege den Dichter die Compo^
sition einer Figur verleitet, die er sich nicht in allen Theilen klar gemacht hat,
und wenn wir mit diesem Gedanken wieder an die Lehrjahre gehen, so gewin-.
nen Mignon und der Harfenspieler eine gan^ andre Beleuchtung.

Wie Novalis haben wol die meisten Leser die Romantik jener beiden
Figuren als den tiefsten poetischen Zug in diesem lebenswarmen Gemälde
empfunden. Der Eindruck geht zunächst aus den Liedern hervor, die uns in
die Tiefen ihres Gemüths einführen: Stimmen aus einer höhern Welt, wun¬
derbare Accorde, in denen nicht blos das Wort, sondern auch der Gedanke zur
Melodie wird. Die übrige Erscheinung der beiden schlingt sich wie in seltsamen


Es kam dazu noch die allgemeine Abwendung der deutschen Poesie von
dein Individuellen und Realen ins symbolische. Man interessirte sich bei den
Gegenständen nicht für das, was sie waren, sondern für das, was sie be¬
deuteten. Aber die Poesie ist überall unfähig, allgemeine Gedanken ohne
realistische Grundlage, ohne individuelle Ausführung darzustellen., Man erinnere
sich z. B, an die Beschreibung der pädagogischen Provinz in den Wanderjahren.
Die Gedanken, die den darin ausgesprochnen Symbolen zu Grunde liegen,
sind durchweg bedeutend, wahr und tief; aber man stelle sich die symbolischen
Gebräuche, die als Ideen vortrefflich sind, in einer wirklichen plastischen Aus¬
führung vor,, so wird man sich wie in einem Tollhause vorkommen. Wie un¬
glücklich müßten die Kinder werden, die ihre Erzieher wirklich dazu anhielten,
in stiller Betrachtung bald nach oben, bald nach unten zu blicken und sich
symbolisch an die Beziehung des Menschen zur Erde und zum Himmel zu
erinnern.

Wenn das wirkliche Leben in diesem Roman gewissermaßen wie eine
Massenbewegung aussieht, in deren Triebrad der Einzelne untergeht, so stechen
dagegen die episodischen Novellen, die zum großen Theil noch der frühern Zeit
angehören, und in denen das individuellste Leben in seiner höchsten Ercentri-
cität gefeiert wird, aus eine wunderliche Weise ab. Die Personen dieser No¬
vellen werden in jenes wunderbar anmuthige, dämonische Schicksal verflochten,
das Goethe so schön zu schildern wußte, aber sie setzen diesem Schicksal keine
innere Bestimmtheit entgegen, die uns in menschlichem Sinn verständlich wurde.
Es sind launenhafte Geschöpfe, deren arabeskenartige Bewegungen uns an- -
ziehen, denen wir aber keine innere Theilnahme schenken können. Diese Erccn-
trieität gipfelt in der Figur der Makarie, jener schönen Seele, deren innerer
Organismus so in daS Planetensystem verflochten ist, daß ein dilettantischer
Astronom daraus die überraschendsten Berechnungen herzuleiten vermag. So
verflüchtigt sich hier durch gesteigerte Ercentricität das Geistige ganz in ein
wunderliches Spiel der Natur, das der Poesie ebenso fremd ist wie dem
wirklichen Leben, denn die bloße Verwunderung ist kein poetischer Eindruck.

Makarie zeigt uns, in wie bedenkliche Abwege den Dichter die Compo^
sition einer Figur verleitet, die er sich nicht in allen Theilen klar gemacht hat,
und wenn wir mit diesem Gedanken wieder an die Lehrjahre gehen, so gewin-.
nen Mignon und der Harfenspieler eine gan^ andre Beleuchtung.

Wie Novalis haben wol die meisten Leser die Romantik jener beiden
Figuren als den tiefsten poetischen Zug in diesem lebenswarmen Gemälde
empfunden. Der Eindruck geht zunächst aus den Liedern hervor, die uns in
die Tiefen ihres Gemüths einführen: Stimmen aus einer höhern Welt, wun¬
derbare Accorde, in denen nicht blos das Wort, sondern auch der Gedanke zur
Melodie wird. Die übrige Erscheinung der beiden schlingt sich wie in seltsamen


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[0462] Es kam dazu noch die allgemeine Abwendung der deutschen Poesie von dein Individuellen und Realen ins symbolische. Man interessirte sich bei den Gegenständen nicht für das, was sie waren, sondern für das, was sie be¬ deuteten. Aber die Poesie ist überall unfähig, allgemeine Gedanken ohne realistische Grundlage, ohne individuelle Ausführung darzustellen., Man erinnere sich z. B, an die Beschreibung der pädagogischen Provinz in den Wanderjahren. Die Gedanken, die den darin ausgesprochnen Symbolen zu Grunde liegen, sind durchweg bedeutend, wahr und tief; aber man stelle sich die symbolischen Gebräuche, die als Ideen vortrefflich sind, in einer wirklichen plastischen Aus¬ führung vor,, so wird man sich wie in einem Tollhause vorkommen. Wie un¬ glücklich müßten die Kinder werden, die ihre Erzieher wirklich dazu anhielten, in stiller Betrachtung bald nach oben, bald nach unten zu blicken und sich symbolisch an die Beziehung des Menschen zur Erde und zum Himmel zu erinnern. Wenn das wirkliche Leben in diesem Roman gewissermaßen wie eine Massenbewegung aussieht, in deren Triebrad der Einzelne untergeht, so stechen dagegen die episodischen Novellen, die zum großen Theil noch der frühern Zeit angehören, und in denen das individuellste Leben in seiner höchsten Ercentri- cität gefeiert wird, aus eine wunderliche Weise ab. Die Personen dieser No¬ vellen werden in jenes wunderbar anmuthige, dämonische Schicksal verflochten, das Goethe so schön zu schildern wußte, aber sie setzen diesem Schicksal keine innere Bestimmtheit entgegen, die uns in menschlichem Sinn verständlich wurde. Es sind launenhafte Geschöpfe, deren arabeskenartige Bewegungen uns an- - ziehen, denen wir aber keine innere Theilnahme schenken können. Diese Erccn- trieität gipfelt in der Figur der Makarie, jener schönen Seele, deren innerer Organismus so in daS Planetensystem verflochten ist, daß ein dilettantischer Astronom daraus die überraschendsten Berechnungen herzuleiten vermag. So verflüchtigt sich hier durch gesteigerte Ercentricität das Geistige ganz in ein wunderliches Spiel der Natur, das der Poesie ebenso fremd ist wie dem wirklichen Leben, denn die bloße Verwunderung ist kein poetischer Eindruck. Makarie zeigt uns, in wie bedenkliche Abwege den Dichter die Compo^ sition einer Figur verleitet, die er sich nicht in allen Theilen klar gemacht hat, und wenn wir mit diesem Gedanken wieder an die Lehrjahre gehen, so gewin-. nen Mignon und der Harfenspieler eine gan^ andre Beleuchtung. Wie Novalis haben wol die meisten Leser die Romantik jener beiden Figuren als den tiefsten poetischen Zug in diesem lebenswarmen Gemälde empfunden. Der Eindruck geht zunächst aus den Liedern hervor, die uns in die Tiefen ihres Gemüths einführen: Stimmen aus einer höhern Welt, wun¬ derbare Accorde, in denen nicht blos das Wort, sondern auch der Gedanke zur Melodie wird. Die übrige Erscheinung der beiden schlingt sich wie in seltsamen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/462>, abgerufen am 25.08.2024.