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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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raschend diese Umgestaltung der poetischen Welt auf den ersten Anblick erscheinen
muß, so war sie doch im Meister selbst schon angedeutet: die Poesie war wie
jenes heldische Roth behandelt, dessen unendlich rührender, unendlich anziehen¬
der Anblick den Tod verbirgt. Mignon und der Harfenspieler mußten sterben, das
war ihre einzige Aufgabe in dieser geordneten Welt. Die Wanderjahre streifen
den letzten Hauch des Poetischen ab. Wie schade, daß auch diese Umkehr nur
aus der Reflerion hervorging, nicht aus der unmittelbaren lebendigen An¬
schauung und daß daher das wiederhergestellte Bürgerthum kein natürliches
war.

Kein Dichter hätte es vermocht, die Arbeit des deutschen Volks in ihrem
Wesen und ihren Erscheinungen mit einer so sinnlichen, charakteristischen Wahr¬
heit darzustellen, als Goethe. Der Dichter, an eine blos geistige Arbeit
gewöhnt und von den realen Bedingungen des Lebens in der Regel nur un¬
angenehm berührt, übersieht leicht das Bedeutende und Anmuthige, das in
jeder das Leben ausfüllenden und die Talente anregenden Beschäftigung liegt.
Goethe hatte auch für diese'Beziehungen des Lebens ein sehr scharfes Auge,
er kannte die Arbeit und wu^te sie zu schätzen, denn sie w/,r ihm nicht blos
in der allgemeinen Betrachtung, sondern in der individualisirten Verstellung
gegenwärtig. Einzelne Beschreibungen in den Wanderjahren gehören zu dem
Vollendetsten, was in dieser Beziehung geleistet worden ist. Allein die Arbeit
erscheint doch wie ein Triebrad, das die Individualitäten zu bloßen Theilen
herabsetzt. Das wahrhaft Menschliche, das individuelle Leben ist verloren'ge¬
gangen. Der Einzelne macht nicht, wie es in dem wahren Handwerk geschieht,
in der Arbeit selbst und in dem Umgang mit seinen Genossen mit Freude und
Behagen seine eigne Persönlichkeit geltend, sondern er gibt sie um der Arbeit
willen auf, er betrachtet sich als einen Entsagenden. Das ist nicht das gesunde
Verhältniß des Menschen zu seinem Beruf; er soll sich ihm nicht als eine
Maschine fügen, sondern er soll sich in der ganzen Kraft seines Gemüths, seiner
Eigenthümlichkeiten, ja seiner Laune dabei bethätigen. Hier rächrc sich nun
der Dilettantismus des Lebens, dem unsre Kunst bei ihrem ersten Aufblühen
zu einseitig gehuldigt. In jedem beliebigen englischen Roman finden wir die
einzelnen Personen nicht als Menschen an sich, sondern in ihrer bestimmten
-Stellung zum Leben charakterisirt, die uns im Einzelnen vorgeführt und ver¬
ständlich gemacht wird. Selbst die Possen und Ausgelassenheiten, welche die
Gewohnheiten eines jeden bestimmten Lebenskreises mit sich bringen, gehören
zur idealen Darstellung solcher Figuren. Wenn Goethe dagegen in seiner
frühern Periode seinen Helden die Bestimmtheit der Arbeit nahm, so unterwarf
er in der spätern ihr ganzes Sein dem Gedanken der Arbeit, und darin zeigte
er allerdings einige Verwandschaft mit dem Socialismus, die man ihm im
Uebrigen nur angedichtet hat.


raschend diese Umgestaltung der poetischen Welt auf den ersten Anblick erscheinen
muß, so war sie doch im Meister selbst schon angedeutet: die Poesie war wie
jenes heldische Roth behandelt, dessen unendlich rührender, unendlich anziehen¬
der Anblick den Tod verbirgt. Mignon und der Harfenspieler mußten sterben, das
war ihre einzige Aufgabe in dieser geordneten Welt. Die Wanderjahre streifen
den letzten Hauch des Poetischen ab. Wie schade, daß auch diese Umkehr nur
aus der Reflerion hervorging, nicht aus der unmittelbaren lebendigen An¬
schauung und daß daher das wiederhergestellte Bürgerthum kein natürliches
war.

Kein Dichter hätte es vermocht, die Arbeit des deutschen Volks in ihrem
Wesen und ihren Erscheinungen mit einer so sinnlichen, charakteristischen Wahr¬
heit darzustellen, als Goethe. Der Dichter, an eine blos geistige Arbeit
gewöhnt und von den realen Bedingungen des Lebens in der Regel nur un¬
angenehm berührt, übersieht leicht das Bedeutende und Anmuthige, das in
jeder das Leben ausfüllenden und die Talente anregenden Beschäftigung liegt.
Goethe hatte auch für diese'Beziehungen des Lebens ein sehr scharfes Auge,
er kannte die Arbeit und wu^te sie zu schätzen, denn sie w/,r ihm nicht blos
in der allgemeinen Betrachtung, sondern in der individualisirten Verstellung
gegenwärtig. Einzelne Beschreibungen in den Wanderjahren gehören zu dem
Vollendetsten, was in dieser Beziehung geleistet worden ist. Allein die Arbeit
erscheint doch wie ein Triebrad, das die Individualitäten zu bloßen Theilen
herabsetzt. Das wahrhaft Menschliche, das individuelle Leben ist verloren'ge¬
gangen. Der Einzelne macht nicht, wie es in dem wahren Handwerk geschieht,
in der Arbeit selbst und in dem Umgang mit seinen Genossen mit Freude und
Behagen seine eigne Persönlichkeit geltend, sondern er gibt sie um der Arbeit
willen auf, er betrachtet sich als einen Entsagenden. Das ist nicht das gesunde
Verhältniß des Menschen zu seinem Beruf; er soll sich ihm nicht als eine
Maschine fügen, sondern er soll sich in der ganzen Kraft seines Gemüths, seiner
Eigenthümlichkeiten, ja seiner Laune dabei bethätigen. Hier rächrc sich nun
der Dilettantismus des Lebens, dem unsre Kunst bei ihrem ersten Aufblühen
zu einseitig gehuldigt. In jedem beliebigen englischen Roman finden wir die
einzelnen Personen nicht als Menschen an sich, sondern in ihrer bestimmten
-Stellung zum Leben charakterisirt, die uns im Einzelnen vorgeführt und ver¬
ständlich gemacht wird. Selbst die Possen und Ausgelassenheiten, welche die
Gewohnheiten eines jeden bestimmten Lebenskreises mit sich bringen, gehören
zur idealen Darstellung solcher Figuren. Wenn Goethe dagegen in seiner
frühern Periode seinen Helden die Bestimmtheit der Arbeit nahm, so unterwarf
er in der spätern ihr ganzes Sein dem Gedanken der Arbeit, und darin zeigte
er allerdings einige Verwandschaft mit dem Socialismus, die man ihm im
Uebrigen nur angedichtet hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/461>, abgerufen am 25.08.2024.