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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Bruder, dient bei Philinen , die seiner Schwester die Hand küßt, und ihr die
Schuhe zuknöpft, als Friseur, muß ihre Liebhaber bedienen, wird zuweilen
von ihnen geohrfeigt und soll einmal öffentlich ausgepeitscht werden. Seine
Familie läßt sich viese Streiche ruhig gefallen; sie hat auch nichts dagegen,
als er Philine später heirathet. Jarno, der Offizier und Weltmann, heirathet
die abgelegte Maitresse seines Freundes. Die Mißheirathen erscheinen als
Regel. Nathalie und Therese wetteifern um die Hand des Bürgerlichen.
Dieser wird von seinen Lehrjahren losgesprochen, als er seinen unehelichen
Sohn wiederfindet. Ist denn Felir sein Sohn? Die geheime Gesellschaft ver¬
sichert es, aber ohne ihre Quelle anzugeben, und daß noch andre Ansprüche
auf ihn gemacht werden, zeigt der Brief des jungen Norberg (XVII. S.

Das alles sind so wunderliche Verhältnisse, daß wir sie nur aus dem
fragmentarischen Schaffen Goethes erklären können: er vergaß alle Augenblicke
seine Voraussetzungen. AIS Meister auf das Schloß des Lothario kommt, hat
er im Anfang wenig Gelegenheit, mit diesem zu verkehren: trotzdem erzählt er
zwei Seiten darauf, jetzt erst habe er wahre Bildung angetroffen, jetzt erst seine
Ideale lebendig vor sich gesehen. Goethe hätte gewiß nicht verfehlt, diese ver¬
sprochenen Ideale wirklich zu schildern, aber er hat es in der Eile vergessen,
und Schiller hat ihn nicht darauf aufmerksam gemacht. So kommt es nun,
daß uns die einseitigen Figuren des Adels, der Graf und die Gräfin, der
Baron und die Baronesse, Jarno :c. in lebendigster sinnlicher Klarheit gegen¬
wärtig werden, während wir von den beiden idealen Charakteren, Lothario und
Nathalie, nur ein blasses Schattenbild erhalten. Darum bleibt auch in ihrer
Beziehung zu Wilhelm etwas Unklares. Dieser ist bis jetzt von tugendhaften
Intriguanten willenlos im Kreise herumgeführt; er ist ein Lebensvirtuose ge¬
worden, und es dämmert nun in ihm aus, daß er auch nach Selbstbestimmung
zu streben habe; allein es gelingt ihm nicht, sich frei zu machen: er wird
glücklich, aber er läßt sich sein Glück schenken. In den Verhältnissen, die sich
aus dem Umgang des strebsamen Bürgers mit den vornehmen Leuten ent¬
wickeln, ist kein einziges, das uns mit dem warmen Gefühl der Wahrheit
durchdränge. Ganz in den Kreis dieser dilettantischen Lebensvirtuosität gehört
die geheime Verbindung, die eine Ironie auf sich selbst ist: denn sie wendet
die abenteuerlichsten Mittel auf, um der individuellen Natur nachzuhelfen,
d. l). um alles geschehen zu lassen, wie es eben geschieht. Daß der intriguante
Abb<5 und sein gchnmnißvoller Zmillingsbruder an diesem Possenspiel Gefallen
finden, mögen wir begreifen; was aber Jarno und Lolhario dabei zu suchen
baben, ist uns unverständlich. Nun wendet der Dichter zwar gleichfalls die
Ironie an,*) aber grade die abgeschmacktesten Possen, die Aufnahme Wilhelms



") Man vergleiche Jarnos Geständnisse, Bd. t7, S. 328.
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Bruder, dient bei Philinen , die seiner Schwester die Hand küßt, und ihr die
Schuhe zuknöpft, als Friseur, muß ihre Liebhaber bedienen, wird zuweilen
von ihnen geohrfeigt und soll einmal öffentlich ausgepeitscht werden. Seine
Familie läßt sich viese Streiche ruhig gefallen; sie hat auch nichts dagegen,
als er Philine später heirathet. Jarno, der Offizier und Weltmann, heirathet
die abgelegte Maitresse seines Freundes. Die Mißheirathen erscheinen als
Regel. Nathalie und Therese wetteifern um die Hand des Bürgerlichen.
Dieser wird von seinen Lehrjahren losgesprochen, als er seinen unehelichen
Sohn wiederfindet. Ist denn Felir sein Sohn? Die geheime Gesellschaft ver¬
sichert es, aber ohne ihre Quelle anzugeben, und daß noch andre Ansprüche
auf ihn gemacht werden, zeigt der Brief des jungen Norberg (XVII. S.

Das alles sind so wunderliche Verhältnisse, daß wir sie nur aus dem
fragmentarischen Schaffen Goethes erklären können: er vergaß alle Augenblicke
seine Voraussetzungen. AIS Meister auf das Schloß des Lothario kommt, hat
er im Anfang wenig Gelegenheit, mit diesem zu verkehren: trotzdem erzählt er
zwei Seiten darauf, jetzt erst habe er wahre Bildung angetroffen, jetzt erst seine
Ideale lebendig vor sich gesehen. Goethe hätte gewiß nicht verfehlt, diese ver¬
sprochenen Ideale wirklich zu schildern, aber er hat es in der Eile vergessen,
und Schiller hat ihn nicht darauf aufmerksam gemacht. So kommt es nun,
daß uns die einseitigen Figuren des Adels, der Graf und die Gräfin, der
Baron und die Baronesse, Jarno :c. in lebendigster sinnlicher Klarheit gegen¬
wärtig werden, während wir von den beiden idealen Charakteren, Lothario und
Nathalie, nur ein blasses Schattenbild erhalten. Darum bleibt auch in ihrer
Beziehung zu Wilhelm etwas Unklares. Dieser ist bis jetzt von tugendhaften
Intriguanten willenlos im Kreise herumgeführt; er ist ein Lebensvirtuose ge¬
worden, und es dämmert nun in ihm aus, daß er auch nach Selbstbestimmung
zu streben habe; allein es gelingt ihm nicht, sich frei zu machen: er wird
glücklich, aber er läßt sich sein Glück schenken. In den Verhältnissen, die sich
aus dem Umgang des strebsamen Bürgers mit den vornehmen Leuten ent¬
wickeln, ist kein einziges, das uns mit dem warmen Gefühl der Wahrheit
durchdränge. Ganz in den Kreis dieser dilettantischen Lebensvirtuosität gehört
die geheime Verbindung, die eine Ironie auf sich selbst ist: denn sie wendet
die abenteuerlichsten Mittel auf, um der individuellen Natur nachzuhelfen,
d. l). um alles geschehen zu lassen, wie es eben geschieht. Daß der intriguante
Abb<5 und sein gchnmnißvoller Zmillingsbruder an diesem Possenspiel Gefallen
finden, mögen wir begreifen; was aber Jarno und Lolhario dabei zu suchen
baben, ist uns unverständlich. Nun wendet der Dichter zwar gleichfalls die
Ironie an,*) aber grade die abgeschmacktesten Possen, die Aufnahme Wilhelms



") Man vergleiche Jarnos Geständnisse, Bd. t7, S. 328.
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[0459] Bruder, dient bei Philinen , die seiner Schwester die Hand küßt, und ihr die Schuhe zuknöpft, als Friseur, muß ihre Liebhaber bedienen, wird zuweilen von ihnen geohrfeigt und soll einmal öffentlich ausgepeitscht werden. Seine Familie läßt sich viese Streiche ruhig gefallen; sie hat auch nichts dagegen, als er Philine später heirathet. Jarno, der Offizier und Weltmann, heirathet die abgelegte Maitresse seines Freundes. Die Mißheirathen erscheinen als Regel. Nathalie und Therese wetteifern um die Hand des Bürgerlichen. Dieser wird von seinen Lehrjahren losgesprochen, als er seinen unehelichen Sohn wiederfindet. Ist denn Felir sein Sohn? Die geheime Gesellschaft ver¬ sichert es, aber ohne ihre Quelle anzugeben, und daß noch andre Ansprüche auf ihn gemacht werden, zeigt der Brief des jungen Norberg (XVII. S. Das alles sind so wunderliche Verhältnisse, daß wir sie nur aus dem fragmentarischen Schaffen Goethes erklären können: er vergaß alle Augenblicke seine Voraussetzungen. AIS Meister auf das Schloß des Lothario kommt, hat er im Anfang wenig Gelegenheit, mit diesem zu verkehren: trotzdem erzählt er zwei Seiten darauf, jetzt erst habe er wahre Bildung angetroffen, jetzt erst seine Ideale lebendig vor sich gesehen. Goethe hätte gewiß nicht verfehlt, diese ver¬ sprochenen Ideale wirklich zu schildern, aber er hat es in der Eile vergessen, und Schiller hat ihn nicht darauf aufmerksam gemacht. So kommt es nun, daß uns die einseitigen Figuren des Adels, der Graf und die Gräfin, der Baron und die Baronesse, Jarno :c. in lebendigster sinnlicher Klarheit gegen¬ wärtig werden, während wir von den beiden idealen Charakteren, Lothario und Nathalie, nur ein blasses Schattenbild erhalten. Darum bleibt auch in ihrer Beziehung zu Wilhelm etwas Unklares. Dieser ist bis jetzt von tugendhaften Intriguanten willenlos im Kreise herumgeführt; er ist ein Lebensvirtuose ge¬ worden, und es dämmert nun in ihm aus, daß er auch nach Selbstbestimmung zu streben habe; allein es gelingt ihm nicht, sich frei zu machen: er wird glücklich, aber er läßt sich sein Glück schenken. In den Verhältnissen, die sich aus dem Umgang des strebsamen Bürgers mit den vornehmen Leuten ent¬ wickeln, ist kein einziges, das uns mit dem warmen Gefühl der Wahrheit durchdränge. Ganz in den Kreis dieser dilettantischen Lebensvirtuosität gehört die geheime Verbindung, die eine Ironie auf sich selbst ist: denn sie wendet die abenteuerlichsten Mittel auf, um der individuellen Natur nachzuhelfen, d. l). um alles geschehen zu lassen, wie es eben geschieht. Daß der intriguante Abb<5 und sein gchnmnißvoller Zmillingsbruder an diesem Possenspiel Gefallen finden, mögen wir begreifen; was aber Jarno und Lolhario dabei zu suchen baben, ist uns unverständlich. Nun wendet der Dichter zwar gleichfalls die Ironie an,*) aber grade die abgeschmacktesten Possen, die Aufnahme Wilhelms ") Man vergleiche Jarnos Geständnisse, Bd. t7, S. 328. 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/459>, abgerufen am 25.08.2024.