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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Zweck alle Kräfte opfert, erscheint als ein Widerspruch gegen das Ideal, weil
sie ein Widerspruch gegen die Freiheit und die Allseitigkeit des Bildungstriebes
ist. Nur der Adel, nur die Classe der Genießenden, die ihre Freiheit an keinen
bestimmten Beruf verpfändet, hat Theil an der Poesie des Lebens. Die
bürgerlichen Dichter hatten sich den allgemein sittlichen Vorstellungen ange¬
schlossen, und selbst wo sie polemisch verfuhren, diese Beziehung nie aus den
Augen gesetzt. Der vornehmen Welt, die sich nun der Poesie annahm, war
damit nicht gedient, sie wollte leicht, lebhaft, aber auf eine bequeme Weise
angeregt sein. Die einzelne Stimmung ging ihr über die künstlerische Totalität,
das Gesetz des Schicklichen über den sittlichen Ernst, das Interesse über die
Leidenschaft. Die neue Dichtung zeigt ein Herausstreben des bürgerlichen
Lebens aus seiner Sphäre, das allen Halt unserer Gesellschaft zu zerstören
droht. Der Stand, welcher die feste Grundlage der Gesellschaft bilden muß,
hat den Glauben an sich selbst verloren, und sobald wir uns dem Zauber der
Darstellung entreißen, so macht das drückende Gefühl der Unfertigkeit, das
sich nach einer Ergänzung sehnt, ohne zu ahnen, woher sie kommen soll, und
das sich daher blind dem abenteuerlichsten Zufall überläßt, einen höchst peinli-
, chen Eindruck. Es ist nicht allein die Zwecklosigkeit seiner Beschäftigungen,
nicht blos der unstete Dilettantismus des Lebens, was uns bei Wilhelm
verletzt, sondern vor allen Dingen die Leichtfertigkeit seines Verhältnisses zu
der Grundlage aller sittlichen Entwicklung, zu der Familie. Die völlige Lö¬
sung von tem Kreise, zu dem er gehört, von den Pflichten, die ihm um so
ernster erscheinen müssen, da er nach dem Tode seines Vaters das Haupt der
Familie ist, das alles wird uns zwar durch den Firniß der bunten Abenteuer
versteckt, aber umsomehr verletzt es uns, sobald wir näher nachdenken.

Und dies Verhältniß wird uns, wenn auch nur mittelbar, als die Norm
für den strebsamen Bürger, der die wahre Bildung sucht, dargestellt. -- Nun
war die Abwendung der Poesie von dem beschränkten Bezirk des bürgerlichen
Lebens für den Augenblick nicht zu vermeiden: das zeigt uns Anton Reiser,
Bahrdt, Stilling u, f. w.; der pietistischen Verkümmerung des Volks mußte
die Aristokratie als ein glänzendes Ideal erscheinen, in dem 'sich das Leben
der Nation in seiner reichsten Fülle zusammendrängt.

Aber ein Unglück für unsre Dichtung war es, daß der Adel, wie er sich
in der "guten Gesellschaft" krystallisirte, ihr sogar keinen Inhalt entgegen¬
brachte, gar kein nationales Leben, gar keine festen sittlichen Ueberlieferungen.
Die ideale Welt, welche sich im Meister dem Bürgerthum entgegenstellt, er¬
öffnet uns keine sehr erbaulichen Aussichten. Der Schein und die mit ihm
verbundene Lüge ist fast zur zweiten Natur geworden. Keine Spur von den
höheren Interessen, die den Adel andrer Nationen wenigstens für Augenblicke
über den. gemeinen Haufen erheben: das Vaterland und die großen Weltver-


Grenjboten. II. -1866. Z?

Zweck alle Kräfte opfert, erscheint als ein Widerspruch gegen das Ideal, weil
sie ein Widerspruch gegen die Freiheit und die Allseitigkeit des Bildungstriebes
ist. Nur der Adel, nur die Classe der Genießenden, die ihre Freiheit an keinen
bestimmten Beruf verpfändet, hat Theil an der Poesie des Lebens. Die
bürgerlichen Dichter hatten sich den allgemein sittlichen Vorstellungen ange¬
schlossen, und selbst wo sie polemisch verfuhren, diese Beziehung nie aus den
Augen gesetzt. Der vornehmen Welt, die sich nun der Poesie annahm, war
damit nicht gedient, sie wollte leicht, lebhaft, aber auf eine bequeme Weise
angeregt sein. Die einzelne Stimmung ging ihr über die künstlerische Totalität,
das Gesetz des Schicklichen über den sittlichen Ernst, das Interesse über die
Leidenschaft. Die neue Dichtung zeigt ein Herausstreben des bürgerlichen
Lebens aus seiner Sphäre, das allen Halt unserer Gesellschaft zu zerstören
droht. Der Stand, welcher die feste Grundlage der Gesellschaft bilden muß,
hat den Glauben an sich selbst verloren, und sobald wir uns dem Zauber der
Darstellung entreißen, so macht das drückende Gefühl der Unfertigkeit, das
sich nach einer Ergänzung sehnt, ohne zu ahnen, woher sie kommen soll, und
das sich daher blind dem abenteuerlichsten Zufall überläßt, einen höchst peinli-
, chen Eindruck. Es ist nicht allein die Zwecklosigkeit seiner Beschäftigungen,
nicht blos der unstete Dilettantismus des Lebens, was uns bei Wilhelm
verletzt, sondern vor allen Dingen die Leichtfertigkeit seines Verhältnisses zu
der Grundlage aller sittlichen Entwicklung, zu der Familie. Die völlige Lö¬
sung von tem Kreise, zu dem er gehört, von den Pflichten, die ihm um so
ernster erscheinen müssen, da er nach dem Tode seines Vaters das Haupt der
Familie ist, das alles wird uns zwar durch den Firniß der bunten Abenteuer
versteckt, aber umsomehr verletzt es uns, sobald wir näher nachdenken.

Und dies Verhältniß wird uns, wenn auch nur mittelbar, als die Norm
für den strebsamen Bürger, der die wahre Bildung sucht, dargestellt. — Nun
war die Abwendung der Poesie von dem beschränkten Bezirk des bürgerlichen
Lebens für den Augenblick nicht zu vermeiden: das zeigt uns Anton Reiser,
Bahrdt, Stilling u, f. w.; der pietistischen Verkümmerung des Volks mußte
die Aristokratie als ein glänzendes Ideal erscheinen, in dem 'sich das Leben
der Nation in seiner reichsten Fülle zusammendrängt.

Aber ein Unglück für unsre Dichtung war es, daß der Adel, wie er sich
in der „guten Gesellschaft" krystallisirte, ihr sogar keinen Inhalt entgegen¬
brachte, gar kein nationales Leben, gar keine festen sittlichen Ueberlieferungen.
Die ideale Welt, welche sich im Meister dem Bürgerthum entgegenstellt, er¬
öffnet uns keine sehr erbaulichen Aussichten. Der Schein und die mit ihm
verbundene Lüge ist fast zur zweiten Natur geworden. Keine Spur von den
höheren Interessen, die den Adel andrer Nationen wenigstens für Augenblicke
über den. gemeinen Haufen erheben: das Vaterland und die großen Weltver-


Grenjboten. II. -1866. Z?
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[0457] Zweck alle Kräfte opfert, erscheint als ein Widerspruch gegen das Ideal, weil sie ein Widerspruch gegen die Freiheit und die Allseitigkeit des Bildungstriebes ist. Nur der Adel, nur die Classe der Genießenden, die ihre Freiheit an keinen bestimmten Beruf verpfändet, hat Theil an der Poesie des Lebens. Die bürgerlichen Dichter hatten sich den allgemein sittlichen Vorstellungen ange¬ schlossen, und selbst wo sie polemisch verfuhren, diese Beziehung nie aus den Augen gesetzt. Der vornehmen Welt, die sich nun der Poesie annahm, war damit nicht gedient, sie wollte leicht, lebhaft, aber auf eine bequeme Weise angeregt sein. Die einzelne Stimmung ging ihr über die künstlerische Totalität, das Gesetz des Schicklichen über den sittlichen Ernst, das Interesse über die Leidenschaft. Die neue Dichtung zeigt ein Herausstreben des bürgerlichen Lebens aus seiner Sphäre, das allen Halt unserer Gesellschaft zu zerstören droht. Der Stand, welcher die feste Grundlage der Gesellschaft bilden muß, hat den Glauben an sich selbst verloren, und sobald wir uns dem Zauber der Darstellung entreißen, so macht das drückende Gefühl der Unfertigkeit, das sich nach einer Ergänzung sehnt, ohne zu ahnen, woher sie kommen soll, und das sich daher blind dem abenteuerlichsten Zufall überläßt, einen höchst peinli- , chen Eindruck. Es ist nicht allein die Zwecklosigkeit seiner Beschäftigungen, nicht blos der unstete Dilettantismus des Lebens, was uns bei Wilhelm verletzt, sondern vor allen Dingen die Leichtfertigkeit seines Verhältnisses zu der Grundlage aller sittlichen Entwicklung, zu der Familie. Die völlige Lö¬ sung von tem Kreise, zu dem er gehört, von den Pflichten, die ihm um so ernster erscheinen müssen, da er nach dem Tode seines Vaters das Haupt der Familie ist, das alles wird uns zwar durch den Firniß der bunten Abenteuer versteckt, aber umsomehr verletzt es uns, sobald wir näher nachdenken. Und dies Verhältniß wird uns, wenn auch nur mittelbar, als die Norm für den strebsamen Bürger, der die wahre Bildung sucht, dargestellt. — Nun war die Abwendung der Poesie von dem beschränkten Bezirk des bürgerlichen Lebens für den Augenblick nicht zu vermeiden: das zeigt uns Anton Reiser, Bahrdt, Stilling u, f. w.; der pietistischen Verkümmerung des Volks mußte die Aristokratie als ein glänzendes Ideal erscheinen, in dem 'sich das Leben der Nation in seiner reichsten Fülle zusammendrängt. Aber ein Unglück für unsre Dichtung war es, daß der Adel, wie er sich in der „guten Gesellschaft" krystallisirte, ihr sogar keinen Inhalt entgegen¬ brachte, gar kein nationales Leben, gar keine festen sittlichen Ueberlieferungen. Die ideale Welt, welche sich im Meister dem Bürgerthum entgegenstellt, er¬ öffnet uns keine sehr erbaulichen Aussichten. Der Schein und die mit ihm verbundene Lüge ist fast zur zweiten Natur geworden. Keine Spur von den höheren Interessen, die den Adel andrer Nationen wenigstens für Augenblicke über den. gemeinen Haufen erheben: das Vaterland und die großen Weltver- Grenjboten. II. -1866. Z?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/457>, abgerufen am 25.08.2024.