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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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dern. Uns fällt so etwas immer ein, weil wir überall nach Wahrheit streben,
der Dichter aber wollte uns nur die Schönheit zeigen; wir gehen darauf aus,
das Wesen zu ergreifen, der Dichter blieb bei der Erscheinung stehen. Dies
ist die ungeheure Kluft, welche den Wilhelm Meister von unserer Bildung
trennt; und daS möge man nicht vergessen, wenn man die Kritik Pustkuchcns
aus dem Jahre 1822 richtig würdigen will. Dieser rohe, täppische Gesell griff
mit so plumpen Händen in die zarten Gebilde der Goethescher Poesie, daß
wir unwillig zusammenschaudern; aber er that es in einer Zeit, wo die Noth
das deutsche Volk bereits beten gelehrt, wo man erkannt hatte, daß die Poesie
des Scheins, daß die absolute Kunst nicht das richtige Bildungsmittel gewesen
war. Wenn man im Wilhelm Meister anfängt zu analysiren, so wird man
Pustkuchen in den meisten Fällen Recht geben, das heißt, man wird begreifen,
daß das poetische Princip dieses Romans nicht mehr das unsere sein kann.
Das damalige Geschlecht, an Analyse noch nicht gewöhnt, überließ sich mit
Vertrauen den leitenden Händen des Dichters: die liebenswürdige Unbefangen¬
heit des Tons, die hohe Bildung des Urtheils, die Feinheit der Anschauung
und die schöne saftige Farbe schmeichelten sich der Einbildungskraft ein. Die
Menschen in jenem Zauberkreise haben ebensowenig ein Schicksal oder eine
Geschichte, als sie eine sittliche Bestimmtheit haben; aber dieses Schicksal wird
durch ein reizendes dämonisches Spiel des Zufalls ersetzt, durch eine anmu¬
thige Verknüpfung des Grundlosen und des Wesentlichen, die uns überrascht,
bezaubert und täuscht. Die Figuren des Romans bewegen sich inmitten der
sonderbarsten Verwicklungen mit einer Freiheit und Anmuth, die auch das
Unschickliche verbirgt und die uns ganz vergessen läßt, wie unterwühlt die
Fundamente sind, auf denen die Gesellschaft ruht. Der Held des Romans,
unfertig und inhaltlos wie er ist, bringt den Erscheinungen ein ehrliches Zu¬
trauen, ein warmes Herz und eine offene Empfänglichkeit entgegen, und in
der Künstlerwelt wie in der guten Gesellschaft .eröffnet sich ihm eine zierliche
Bilderreihe, in der eS nicht musterhaft, aber heiter und lebendig zugeht. Den
Humor, der ohne stark aufgetragene Farben nicht denkbar ist, ersetzt der Dichter
durch eine gelinde wohlwollende Ironie, welche den romantischen Inhalt auf¬
löst, und uns zur reinsten Sphäre der Bildung erhebt. Die Ahnung einer
tiefern Poesie des Lebens dämmert aus einigen dunkeln Gestalten, wenn auch
nur räthselhaft, in diese Welt des Scheins, und eine Reihe bedeutender Per¬
sönlichkeiten sehen wir geschäftig, auf bald zweckmäßige, bald unzweckmäßige
Weise den fehlenden idealen Gehalt des Lebens nothdürftig herzustellen.

Wie in kurzer Zeit die innere Bildung des Dichters sich umgewandelt
hatte, zeigt am deutlichsten der Vergleich des Wilhelm Meister, mit dem Werther.
Beide Romane gehen auf die Herstellung dessen aus, was der damaligen
Richtung des Geistes als die Hauptsache erschien, auf die Uebereinstimmung


dern. Uns fällt so etwas immer ein, weil wir überall nach Wahrheit streben,
der Dichter aber wollte uns nur die Schönheit zeigen; wir gehen darauf aus,
das Wesen zu ergreifen, der Dichter blieb bei der Erscheinung stehen. Dies
ist die ungeheure Kluft, welche den Wilhelm Meister von unserer Bildung
trennt; und daS möge man nicht vergessen, wenn man die Kritik Pustkuchcns
aus dem Jahre 1822 richtig würdigen will. Dieser rohe, täppische Gesell griff
mit so plumpen Händen in die zarten Gebilde der Goethescher Poesie, daß
wir unwillig zusammenschaudern; aber er that es in einer Zeit, wo die Noth
das deutsche Volk bereits beten gelehrt, wo man erkannt hatte, daß die Poesie
des Scheins, daß die absolute Kunst nicht das richtige Bildungsmittel gewesen
war. Wenn man im Wilhelm Meister anfängt zu analysiren, so wird man
Pustkuchen in den meisten Fällen Recht geben, das heißt, man wird begreifen,
daß das poetische Princip dieses Romans nicht mehr das unsere sein kann.
Das damalige Geschlecht, an Analyse noch nicht gewöhnt, überließ sich mit
Vertrauen den leitenden Händen des Dichters: die liebenswürdige Unbefangen¬
heit des Tons, die hohe Bildung des Urtheils, die Feinheit der Anschauung
und die schöne saftige Farbe schmeichelten sich der Einbildungskraft ein. Die
Menschen in jenem Zauberkreise haben ebensowenig ein Schicksal oder eine
Geschichte, als sie eine sittliche Bestimmtheit haben; aber dieses Schicksal wird
durch ein reizendes dämonisches Spiel des Zufalls ersetzt, durch eine anmu¬
thige Verknüpfung des Grundlosen und des Wesentlichen, die uns überrascht,
bezaubert und täuscht. Die Figuren des Romans bewegen sich inmitten der
sonderbarsten Verwicklungen mit einer Freiheit und Anmuth, die auch das
Unschickliche verbirgt und die uns ganz vergessen läßt, wie unterwühlt die
Fundamente sind, auf denen die Gesellschaft ruht. Der Held des Romans,
unfertig und inhaltlos wie er ist, bringt den Erscheinungen ein ehrliches Zu¬
trauen, ein warmes Herz und eine offene Empfänglichkeit entgegen, und in
der Künstlerwelt wie in der guten Gesellschaft .eröffnet sich ihm eine zierliche
Bilderreihe, in der eS nicht musterhaft, aber heiter und lebendig zugeht. Den
Humor, der ohne stark aufgetragene Farben nicht denkbar ist, ersetzt der Dichter
durch eine gelinde wohlwollende Ironie, welche den romantischen Inhalt auf¬
löst, und uns zur reinsten Sphäre der Bildung erhebt. Die Ahnung einer
tiefern Poesie des Lebens dämmert aus einigen dunkeln Gestalten, wenn auch
nur räthselhaft, in diese Welt des Scheins, und eine Reihe bedeutender Per¬
sönlichkeiten sehen wir geschäftig, auf bald zweckmäßige, bald unzweckmäßige
Weise den fehlenden idealen Gehalt des Lebens nothdürftig herzustellen.

Wie in kurzer Zeit die innere Bildung des Dichters sich umgewandelt
hatte, zeigt am deutlichsten der Vergleich des Wilhelm Meister, mit dem Werther.
Beide Romane gehen auf die Herstellung dessen aus, was der damaligen
Richtung des Geistes als die Hauptsache erschien, auf die Uebereinstimmung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/454>, abgerufen am 25.08.2024.