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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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stimmen, was vor einiger Zeit so laut gefordert worden war. Die folgenden
Bemerkungen werden selbst denen verständlich sein, welche jene Erlasse nicht
kennen.

Jede Uebertreibung ruft nothwendig Widerspruch hervor. ES ist nicht
schwer einzusehen, daß die Lectüre des Sophokles und Pindar eine schlechte
Vorschule für denjenigen ist, der die Fibel sein ganzes Leben nicht aus der
Hand legen darf, oder daß man der Integralrechnung nicht nöthig hat. um
das Addiren beizubringen. Zu viel theoretische Bildung kann den Land¬
schulmeister überhaupt nur unglücklich machen, indem sie sein Leben und
seine Beschäftigung in schreienden Gegensat) mit seinen Wünschen und sei¬
nem Wissen bringt. Soweit wird ein jeder einstimmen. Aber jetzt sagt
man: die Elementarlehrer wollten höher hinaus, sie schämten sich ihrer
Stellung, der Hochmuthsteufel war in sie gefahren; -- bringen wir ihnen also
vor allem Demuth ,bei; -- ein Gefühl mangelhafter Bildung, ein Drang nach
bessrer Einsicht hatte sie erfaßt, -- bilden wir sie also weniger, und um
so geringer wird ihr Bedürfniß der Bildung, um so geringer ihre Sehnsucht
nach größerem Wissen sein; beschränken wir den Kreis ihrer Kenntnisse und sie
werden sich umsoweniger aus der Sphäre ihrer Thätigkeit verirren. So strich
man aus den Lehrgegenständen deS Seminars die allgemeine Geschichte ganz,
die deutsche zwar nicht völlig, legte aber daS Hauptgewicht auf die preußisch-
brandenburgische und Provinzialgeschichte, so daß von jener vermuthlich nicht
mehr übrig bleiben soll, als was durchaus zum Verständniß der letztern noth¬
wendig ist; von deutscher Grammatik ist nicht mehr als die Kenntniß der Wörter-
classcn und Satztheile; von Arithmetik die vier Species und die Brüche; von
Geometrie etwas Formenlehre und die rein mechanische Berechnung der im ge¬
wöhnlichen Leben vorkommenden Figuren und Körper, von Naturwissenschaften
etwas beschreibende Thier- und Pflanzenkunde, sowie einige Belehrungen über
die wichtigsten physikalischen Erscheinungen und über die einfachen Maschinen,
wie Hebel, Wage, Schraube u. f. w. gestattet; am besten kommt noch die
Geographie fort, die in verhältnißmäßig beträchtlichem Umfange gelehrt werden
darf. Im Allgemeinen wird der wissenschaftliche Standpunkt eines zwanzig-
bis vierundzwanzigjährigen, im Seminar ausgebildeten Lehrers, der eines zehn-
bis zwölfjährigen Quintaners sein, wenigstens wenn man die weitergehende
Kenntniß der Realien bei dem einen, gegen die Uebung in den Formen
zweier fremder Sprachen bei dem andern in Abrechnung bringt. Mit den in
den Regulativen angegebenen Disciplinen und der dort bezeichneten Ausdeh-
nung des Unterrichts sind die Schranken gezogen, über welche die wissenschaft¬
liche Seminarbildung, ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums nicht
hinausgehen darf. Damit hat der Seminarist wol das, , was er selbst chimal
in der Elementarschule lehren wird, aber weiter nichts; -- der unmittelbare


stimmen, was vor einiger Zeit so laut gefordert worden war. Die folgenden
Bemerkungen werden selbst denen verständlich sein, welche jene Erlasse nicht
kennen.

Jede Uebertreibung ruft nothwendig Widerspruch hervor. ES ist nicht
schwer einzusehen, daß die Lectüre des Sophokles und Pindar eine schlechte
Vorschule für denjenigen ist, der die Fibel sein ganzes Leben nicht aus der
Hand legen darf, oder daß man der Integralrechnung nicht nöthig hat. um
das Addiren beizubringen. Zu viel theoretische Bildung kann den Land¬
schulmeister überhaupt nur unglücklich machen, indem sie sein Leben und
seine Beschäftigung in schreienden Gegensat) mit seinen Wünschen und sei¬
nem Wissen bringt. Soweit wird ein jeder einstimmen. Aber jetzt sagt
man: die Elementarlehrer wollten höher hinaus, sie schämten sich ihrer
Stellung, der Hochmuthsteufel war in sie gefahren; — bringen wir ihnen also
vor allem Demuth ,bei; — ein Gefühl mangelhafter Bildung, ein Drang nach
bessrer Einsicht hatte sie erfaßt, — bilden wir sie also weniger, und um
so geringer wird ihr Bedürfniß der Bildung, um so geringer ihre Sehnsucht
nach größerem Wissen sein; beschränken wir den Kreis ihrer Kenntnisse und sie
werden sich umsoweniger aus der Sphäre ihrer Thätigkeit verirren. So strich
man aus den Lehrgegenständen deS Seminars die allgemeine Geschichte ganz,
die deutsche zwar nicht völlig, legte aber daS Hauptgewicht auf die preußisch-
brandenburgische und Provinzialgeschichte, so daß von jener vermuthlich nicht
mehr übrig bleiben soll, als was durchaus zum Verständniß der letztern noth¬
wendig ist; von deutscher Grammatik ist nicht mehr als die Kenntniß der Wörter-
classcn und Satztheile; von Arithmetik die vier Species und die Brüche; von
Geometrie etwas Formenlehre und die rein mechanische Berechnung der im ge¬
wöhnlichen Leben vorkommenden Figuren und Körper, von Naturwissenschaften
etwas beschreibende Thier- und Pflanzenkunde, sowie einige Belehrungen über
die wichtigsten physikalischen Erscheinungen und über die einfachen Maschinen,
wie Hebel, Wage, Schraube u. f. w. gestattet; am besten kommt noch die
Geographie fort, die in verhältnißmäßig beträchtlichem Umfange gelehrt werden
darf. Im Allgemeinen wird der wissenschaftliche Standpunkt eines zwanzig-
bis vierundzwanzigjährigen, im Seminar ausgebildeten Lehrers, der eines zehn-
bis zwölfjährigen Quintaners sein, wenigstens wenn man die weitergehende
Kenntniß der Realien bei dem einen, gegen die Uebung in den Formen
zweier fremder Sprachen bei dem andern in Abrechnung bringt. Mit den in
den Regulativen angegebenen Disciplinen und der dort bezeichneten Ausdeh-
nung des Unterrichts sind die Schranken gezogen, über welche die wissenschaft¬
liche Seminarbildung, ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums nicht
hinausgehen darf. Damit hat der Seminarist wol das, , was er selbst chimal
in der Elementarschule lehren wird, aber weiter nichts; — der unmittelbare


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[0376] stimmen, was vor einiger Zeit so laut gefordert worden war. Die folgenden Bemerkungen werden selbst denen verständlich sein, welche jene Erlasse nicht kennen. Jede Uebertreibung ruft nothwendig Widerspruch hervor. ES ist nicht schwer einzusehen, daß die Lectüre des Sophokles und Pindar eine schlechte Vorschule für denjenigen ist, der die Fibel sein ganzes Leben nicht aus der Hand legen darf, oder daß man der Integralrechnung nicht nöthig hat. um das Addiren beizubringen. Zu viel theoretische Bildung kann den Land¬ schulmeister überhaupt nur unglücklich machen, indem sie sein Leben und seine Beschäftigung in schreienden Gegensat) mit seinen Wünschen und sei¬ nem Wissen bringt. Soweit wird ein jeder einstimmen. Aber jetzt sagt man: die Elementarlehrer wollten höher hinaus, sie schämten sich ihrer Stellung, der Hochmuthsteufel war in sie gefahren; — bringen wir ihnen also vor allem Demuth ,bei; — ein Gefühl mangelhafter Bildung, ein Drang nach bessrer Einsicht hatte sie erfaßt, — bilden wir sie also weniger, und um so geringer wird ihr Bedürfniß der Bildung, um so geringer ihre Sehnsucht nach größerem Wissen sein; beschränken wir den Kreis ihrer Kenntnisse und sie werden sich umsoweniger aus der Sphäre ihrer Thätigkeit verirren. So strich man aus den Lehrgegenständen deS Seminars die allgemeine Geschichte ganz, die deutsche zwar nicht völlig, legte aber daS Hauptgewicht auf die preußisch- brandenburgische und Provinzialgeschichte, so daß von jener vermuthlich nicht mehr übrig bleiben soll, als was durchaus zum Verständniß der letztern noth¬ wendig ist; von deutscher Grammatik ist nicht mehr als die Kenntniß der Wörter- classcn und Satztheile; von Arithmetik die vier Species und die Brüche; von Geometrie etwas Formenlehre und die rein mechanische Berechnung der im ge¬ wöhnlichen Leben vorkommenden Figuren und Körper, von Naturwissenschaften etwas beschreibende Thier- und Pflanzenkunde, sowie einige Belehrungen über die wichtigsten physikalischen Erscheinungen und über die einfachen Maschinen, wie Hebel, Wage, Schraube u. f. w. gestattet; am besten kommt noch die Geographie fort, die in verhältnißmäßig beträchtlichem Umfange gelehrt werden darf. Im Allgemeinen wird der wissenschaftliche Standpunkt eines zwanzig- bis vierundzwanzigjährigen, im Seminar ausgebildeten Lehrers, der eines zehn- bis zwölfjährigen Quintaners sein, wenigstens wenn man die weitergehende Kenntniß der Realien bei dem einen, gegen die Uebung in den Formen zweier fremder Sprachen bei dem andern in Abrechnung bringt. Mit den in den Regulativen angegebenen Disciplinen und der dort bezeichneten Ausdeh- nung des Unterrichts sind die Schranken gezogen, über welche die wissenschaft¬ liche Seminarbildung, ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums nicht hinausgehen darf. Damit hat der Seminarist wol das, , was er selbst chimal in der Elementarschule lehren wird, aber weiter nichts; — der unmittelbare

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/376>, abgerufen am 22.07.2024.