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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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besondern Studiums, um dem natürlichen Entwicklungsprincip in der Kunst
als der treuen Nachbildnerin der Natur folgen zu können. Ein solches Stu¬
dium ist bei uns fast ausschließlich Sache des Architekten. Die symmetrische
Anordnung, die Gliederungen zum Umwinden, Anheften und Zusammenhalten
und soviele ähnliche Kunstmittel sind ihm vorzugsweise geläufig. Die Gebilde
der Kunstindustrie müssen wie die Formen der Baukunst aus den einfachsten,
naheliegendsten und verständlichsten Motiven gleichsam nothwendig hervorgehen.
Auch die Kunstindustrie duldet keine Willkür in der Erfindung und Aneinan¬
derreihung der Theile, Glieder und Zierrathen, sondern alles muß bis auf die
Einzelnheiten auf naturgemäße Weise aus der Bestimmung und der Kernform
des Gegenstandes hervorgehen.

Für alle diese Dinge, welche die Tektonik umfaßt, gilt folgendes Princip:
daß auf ihrer höhern Stufe auch diese Kunst keinen Schmuck sucht, womit
nicht ein Gedanke verbunden, wozu nicht ein natürlicher Anlaß gegeben wäre.
Die Gegenstände der Tektonik sollen ihre Bestimmung nicht nur erfüllen,
fondern zugleich auch eine Hinweisung auf diese ihre Bestimmung in ihren Haupt¬
formen ausdrücken und somit auch für die Anschauung der Zwecke, wozu sie
vorhanden sind, darstellen. Die Kernformen müssen sich deshalb dem in der
Natur zu gleichem Zwecke schon Gesehenen anschließen, ja wir überkommen sie
meist schon als fertige Formen theils aus dem anorganischen, theils aus. dem
organischen Naturreich. Wenn hier auch nicht von der Wucht ver schweren
anorganischen Massen die Rede sein kann, wie sie der monumentalen Architek¬
tur angemessen ist, so darf doch der Conflict des Druckes und Gegendruckes
nicht ganz verschwinden, er ist auch hier ein wesentliches Moment der Belebung.
Es tritt hier das umgekehrte Verhältniß ein wie bei der Architektur; dort
schließt sich das Organische in bescheidener Weise an das stark vorherrschende
Unorganische an, gleichsam um die Strenge desselben zu mildern, hier dagegen
übernimmt die starre Form die untergeordnete Rolle, während fast alles in
freierer Entfaltung sich bewegt. Dennoch ist jene höchst wichtig; sie erleichtert
die Uebersichtlichkeit, gewährt Ruhe- und Anhaltepunkte für das Auge, hebt
das Wesentliche, das Zweckerfüllendc entschieden hervor u. f. w. Eine Haupt¬
regel für diese Zusammenbringung ist der sichtbare Halt, der natürliche Zu¬
sammenhang, in dem das Ganze stehen muß. Bedürfen wir z. B. der Tafeln
zum Lager, zum Sitz, zum Tisch :c., so müssen sie aus eine Weise gehoben
und getragen werden, die den Anforderungen eines natürlichen Hervorgehens
und einer genügenden Kraft entspricht; die dazu verwandten Mittel dürfen nicht
starr und leblos erscheinen. Brauchen wir aber solche Tafeln, um Schreine,
Kisten und dergl. durch ihre Zusammensetzung zu bilden, so bedarf es der man¬
nigfachsten Hilfsmittel, um ihren Halt dem Auge fühlbar zu machen, denn die
etwa durch unsichtbare mechanische Bindemittel bewirkte Zusammenfügung und


besondern Studiums, um dem natürlichen Entwicklungsprincip in der Kunst
als der treuen Nachbildnerin der Natur folgen zu können. Ein solches Stu¬
dium ist bei uns fast ausschließlich Sache des Architekten. Die symmetrische
Anordnung, die Gliederungen zum Umwinden, Anheften und Zusammenhalten
und soviele ähnliche Kunstmittel sind ihm vorzugsweise geläufig. Die Gebilde
der Kunstindustrie müssen wie die Formen der Baukunst aus den einfachsten,
naheliegendsten und verständlichsten Motiven gleichsam nothwendig hervorgehen.
Auch die Kunstindustrie duldet keine Willkür in der Erfindung und Aneinan¬
derreihung der Theile, Glieder und Zierrathen, sondern alles muß bis auf die
Einzelnheiten auf naturgemäße Weise aus der Bestimmung und der Kernform
des Gegenstandes hervorgehen.

Für alle diese Dinge, welche die Tektonik umfaßt, gilt folgendes Princip:
daß auf ihrer höhern Stufe auch diese Kunst keinen Schmuck sucht, womit
nicht ein Gedanke verbunden, wozu nicht ein natürlicher Anlaß gegeben wäre.
Die Gegenstände der Tektonik sollen ihre Bestimmung nicht nur erfüllen,
fondern zugleich auch eine Hinweisung auf diese ihre Bestimmung in ihren Haupt¬
formen ausdrücken und somit auch für die Anschauung der Zwecke, wozu sie
vorhanden sind, darstellen. Die Kernformen müssen sich deshalb dem in der
Natur zu gleichem Zwecke schon Gesehenen anschließen, ja wir überkommen sie
meist schon als fertige Formen theils aus dem anorganischen, theils aus. dem
organischen Naturreich. Wenn hier auch nicht von der Wucht ver schweren
anorganischen Massen die Rede sein kann, wie sie der monumentalen Architek¬
tur angemessen ist, so darf doch der Conflict des Druckes und Gegendruckes
nicht ganz verschwinden, er ist auch hier ein wesentliches Moment der Belebung.
Es tritt hier das umgekehrte Verhältniß ein wie bei der Architektur; dort
schließt sich das Organische in bescheidener Weise an das stark vorherrschende
Unorganische an, gleichsam um die Strenge desselben zu mildern, hier dagegen
übernimmt die starre Form die untergeordnete Rolle, während fast alles in
freierer Entfaltung sich bewegt. Dennoch ist jene höchst wichtig; sie erleichtert
die Uebersichtlichkeit, gewährt Ruhe- und Anhaltepunkte für das Auge, hebt
das Wesentliche, das Zweckerfüllendc entschieden hervor u. f. w. Eine Haupt¬
regel für diese Zusammenbringung ist der sichtbare Halt, der natürliche Zu¬
sammenhang, in dem das Ganze stehen muß. Bedürfen wir z. B. der Tafeln
zum Lager, zum Sitz, zum Tisch :c., so müssen sie aus eine Weise gehoben
und getragen werden, die den Anforderungen eines natürlichen Hervorgehens
und einer genügenden Kraft entspricht; die dazu verwandten Mittel dürfen nicht
starr und leblos erscheinen. Brauchen wir aber solche Tafeln, um Schreine,
Kisten und dergl. durch ihre Zusammensetzung zu bilden, so bedarf es der man¬
nigfachsten Hilfsmittel, um ihren Halt dem Auge fühlbar zu machen, denn die
etwa durch unsichtbare mechanische Bindemittel bewirkte Zusammenfügung und


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[0354] besondern Studiums, um dem natürlichen Entwicklungsprincip in der Kunst als der treuen Nachbildnerin der Natur folgen zu können. Ein solches Stu¬ dium ist bei uns fast ausschließlich Sache des Architekten. Die symmetrische Anordnung, die Gliederungen zum Umwinden, Anheften und Zusammenhalten und soviele ähnliche Kunstmittel sind ihm vorzugsweise geläufig. Die Gebilde der Kunstindustrie müssen wie die Formen der Baukunst aus den einfachsten, naheliegendsten und verständlichsten Motiven gleichsam nothwendig hervorgehen. Auch die Kunstindustrie duldet keine Willkür in der Erfindung und Aneinan¬ derreihung der Theile, Glieder und Zierrathen, sondern alles muß bis auf die Einzelnheiten auf naturgemäße Weise aus der Bestimmung und der Kernform des Gegenstandes hervorgehen. Für alle diese Dinge, welche die Tektonik umfaßt, gilt folgendes Princip: daß auf ihrer höhern Stufe auch diese Kunst keinen Schmuck sucht, womit nicht ein Gedanke verbunden, wozu nicht ein natürlicher Anlaß gegeben wäre. Die Gegenstände der Tektonik sollen ihre Bestimmung nicht nur erfüllen, fondern zugleich auch eine Hinweisung auf diese ihre Bestimmung in ihren Haupt¬ formen ausdrücken und somit auch für die Anschauung der Zwecke, wozu sie vorhanden sind, darstellen. Die Kernformen müssen sich deshalb dem in der Natur zu gleichem Zwecke schon Gesehenen anschließen, ja wir überkommen sie meist schon als fertige Formen theils aus dem anorganischen, theils aus. dem organischen Naturreich. Wenn hier auch nicht von der Wucht ver schweren anorganischen Massen die Rede sein kann, wie sie der monumentalen Architek¬ tur angemessen ist, so darf doch der Conflict des Druckes und Gegendruckes nicht ganz verschwinden, er ist auch hier ein wesentliches Moment der Belebung. Es tritt hier das umgekehrte Verhältniß ein wie bei der Architektur; dort schließt sich das Organische in bescheidener Weise an das stark vorherrschende Unorganische an, gleichsam um die Strenge desselben zu mildern, hier dagegen übernimmt die starre Form die untergeordnete Rolle, während fast alles in freierer Entfaltung sich bewegt. Dennoch ist jene höchst wichtig; sie erleichtert die Uebersichtlichkeit, gewährt Ruhe- und Anhaltepunkte für das Auge, hebt das Wesentliche, das Zweckerfüllendc entschieden hervor u. f. w. Eine Haupt¬ regel für diese Zusammenbringung ist der sichtbare Halt, der natürliche Zu¬ sammenhang, in dem das Ganze stehen muß. Bedürfen wir z. B. der Tafeln zum Lager, zum Sitz, zum Tisch :c., so müssen sie aus eine Weise gehoben und getragen werden, die den Anforderungen eines natürlichen Hervorgehens und einer genügenden Kraft entspricht; die dazu verwandten Mittel dürfen nicht starr und leblos erscheinen. Brauchen wir aber solche Tafeln, um Schreine, Kisten und dergl. durch ihre Zusammensetzung zu bilden, so bedarf es der man¬ nigfachsten Hilfsmittel, um ihren Halt dem Auge fühlbar zu machen, denn die etwa durch unsichtbare mechanische Bindemittel bewirkte Zusammenfügung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/354>, abgerufen am 22.07.2024.