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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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schaften, daß der durch sie genährte Geist feinerer Humanität überall darnieder¬
liege, daß überall wieder die alte kirchliche Finsterniß des Mittelalters über
das Leben hereinbreche. Insbesondre jene alte Feindschaft gegen die Sinnlich¬
keit war jetzt wiedergekehrt, welche früher als das Charakteristische der ersten
christlichen Jahrhunderte geschildert wurde und die von dem Mittelalter im
Ganzen so glücklich überwunden war. Klöster und Cölibat waren jetzt freilich
aufgehoben, aber statt daß sich dort die Ascese und Abstinenz nur äußerlich,
nur in einzelnen Instituten und wie um den guten Schein zu wahren, vom
Leben zurückgezogen hatte, um dasselbe nach allen seinen übrigen Beziehungen
i"it liebenswürdiger Indulgenz nur um so freier gewähren lassen zu können,
war jetzt der finstre Ernst der Ascese über das ganze Leben ausgebreitet. Wie
nachher die Idee der.Genialität, die bei dem Wiederaufblühen der deutschen
Bildung als maßgebendes Princip sich geltend macht, auch der Liebe eine
falsche Richtung gab, wird sehr scharfsinnig nachgewiesen. Das Verfehlte war,
daß das Individuum von den concreten Verhältnissen sich ganz lostrennte und
in der Liebe ein poetisches Kunstprodukt, eine von dem wirklichen Leben ganz
geschiedene illusorische Eristenz sah. Der Mann betrachtete die Liebe als einen
Gegenstand seiner Willkür, so daß er sich in ihre Gefühle einließ oder sich
aus denselben zurückzog, ohne sich von ihnen in Wahrheit ergreifen zu lassen.
In dieselbe falsche Stellung zum Leben geriet!) auch das Weib. Die Dar¬
stellung genialer Heldinnen, von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängiger
Künstlerinnen u. s. w., daS Beispiel einzelner wirklich ausgezeichneter und
selbst die meisten Männer überragender Frauen hat dem Geschmack allmcilig
die Richtung gegeben, daß an der Frau nicht mehr Schönheit und Anmuth
geschätzt werden, sondern das in leiblicher und geistiger Beziehung Interessante
und Pikante, das Abnorme. Auf der andern Seite aber ist die weibliche
Bildung, welcher man in neuester Zeit soviele Aufmerksamkeit zuzuwenden an¬
fängt, grade von der Art, daß keine individuelle Entwicklung dabei möglich
ist, nichts als Oberflächlichkeit und uniforme Scheindrcssur. -- Nach dieser
historischen Einleitung kommt der Verfasser zu dem Resultat, dem wir aus
voller Ueberzeugung beitreten: "Läßt sich der Mann aus jener eitlen Genialität
herab auf das wirkliche Leben ein, gibt er sich andrerseits den praktischen
Tendenzen nicht vollständig hin, sondern sucht er seine von allen höheren
wissenschaftlichen, philosophischen und poetischen Einflüssen erfüllte Individualität
sich zu wahren und kommt ihm das Weib entgegen, welches allen thörichten
Emancipationsgedanken, allen pikanten uno interessanten Gelüsten entsagt,
dagegen an dem Leben des Mannes nach seinen verschiedenen Seiten, nach
der wissenschaftlichen wie nach der politischen in freier Receptivität sich zu be-
theiligen bemüht ist, so sehen wir einem allseitig erfüllten, wahrhaft schönen
Leben entgegen, in welchem die beiden großen Gegensätze, das Allgemeine


schaften, daß der durch sie genährte Geist feinerer Humanität überall darnieder¬
liege, daß überall wieder die alte kirchliche Finsterniß des Mittelalters über
das Leben hereinbreche. Insbesondre jene alte Feindschaft gegen die Sinnlich¬
keit war jetzt wiedergekehrt, welche früher als das Charakteristische der ersten
christlichen Jahrhunderte geschildert wurde und die von dem Mittelalter im
Ganzen so glücklich überwunden war. Klöster und Cölibat waren jetzt freilich
aufgehoben, aber statt daß sich dort die Ascese und Abstinenz nur äußerlich,
nur in einzelnen Instituten und wie um den guten Schein zu wahren, vom
Leben zurückgezogen hatte, um dasselbe nach allen seinen übrigen Beziehungen
i»it liebenswürdiger Indulgenz nur um so freier gewähren lassen zu können,
war jetzt der finstre Ernst der Ascese über das ganze Leben ausgebreitet. Wie
nachher die Idee der.Genialität, die bei dem Wiederaufblühen der deutschen
Bildung als maßgebendes Princip sich geltend macht, auch der Liebe eine
falsche Richtung gab, wird sehr scharfsinnig nachgewiesen. Das Verfehlte war,
daß das Individuum von den concreten Verhältnissen sich ganz lostrennte und
in der Liebe ein poetisches Kunstprodukt, eine von dem wirklichen Leben ganz
geschiedene illusorische Eristenz sah. Der Mann betrachtete die Liebe als einen
Gegenstand seiner Willkür, so daß er sich in ihre Gefühle einließ oder sich
aus denselben zurückzog, ohne sich von ihnen in Wahrheit ergreifen zu lassen.
In dieselbe falsche Stellung zum Leben geriet!) auch das Weib. Die Dar¬
stellung genialer Heldinnen, von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängiger
Künstlerinnen u. s. w., daS Beispiel einzelner wirklich ausgezeichneter und
selbst die meisten Männer überragender Frauen hat dem Geschmack allmcilig
die Richtung gegeben, daß an der Frau nicht mehr Schönheit und Anmuth
geschätzt werden, sondern das in leiblicher und geistiger Beziehung Interessante
und Pikante, das Abnorme. Auf der andern Seite aber ist die weibliche
Bildung, welcher man in neuester Zeit soviele Aufmerksamkeit zuzuwenden an¬
fängt, grade von der Art, daß keine individuelle Entwicklung dabei möglich
ist, nichts als Oberflächlichkeit und uniforme Scheindrcssur. — Nach dieser
historischen Einleitung kommt der Verfasser zu dem Resultat, dem wir aus
voller Ueberzeugung beitreten: „Läßt sich der Mann aus jener eitlen Genialität
herab auf das wirkliche Leben ein, gibt er sich andrerseits den praktischen
Tendenzen nicht vollständig hin, sondern sucht er seine von allen höheren
wissenschaftlichen, philosophischen und poetischen Einflüssen erfüllte Individualität
sich zu wahren und kommt ihm das Weib entgegen, welches allen thörichten
Emancipationsgedanken, allen pikanten uno interessanten Gelüsten entsagt,
dagegen an dem Leben des Mannes nach seinen verschiedenen Seiten, nach
der wissenschaftlichen wie nach der politischen in freier Receptivität sich zu be-
theiligen bemüht ist, so sehen wir einem allseitig erfüllten, wahrhaft schönen
Leben entgegen, in welchem die beiden großen Gegensätze, das Allgemeine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/270>, abgerufen am 03.07.2024.