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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Inspiration angewiesen. Die Theorie und Kritik hat weiter nichts zu thun,
als eine Verwechslung der Inspiration mit dem bloßen Einfall zu verhüten,
wobei sie wiederum hauptsächlich auf das im menschlichen Ohr sich manifestirende
Naturgesetz hinzuweisen hat.

Schon aus dieser Bemerkung ergibt sich die naheliegende polemische Rich¬
tung jeder Theorie. Die Theorie des vorliegenden Buchs ist durch die Polemik
gegen Wagner hervorgerufen, und Wagners Theorie vorzüglich durch den
Verdruß eines gebildeten Mannes über die unsinnigen Opernterte. Wenn
Wagner weiter nichts behauptet hatte, als daß ein wahrhaft künstlerischer
Eindruck in der Oper nur dann hervorgebracht wird, wenn die Musik mit dem
Text, der Text mit sich selbst und das Ganze mit den allgemeinen poetischen
Gesetzen übereinstimmt, so hätte ihm jeder Verständige beigepflichtet, auch wenn
er den einzelnen Versuchen, einen poetischen Tert und eine mit diesem Text
übereinstimmende Musik herzustellen, seinen Beifall hätte versagen müssen. Aber
Wagner ging weiter. Er behauptete, daß die Kunst überhaupt kein andres
Recht habe, als Ausdruck der Poesie zu sein, und aus dieser Behauptung
leitete er erstens die Verwerfung aller tertlosen Musik her, zweitens das noch
viel erstaunlichere Arion, daß in der Musik eigentlich zum Tert kein neuer
Inhalt hinzukomme, daß sie nur vervollständige, was im Tert bereits liegen
müsse. Um die UnHaltbarkeit dieser Behauptung nachzuweisen, hatte man gar
nicht nöthig, auf das Wesen der Musik einzugehen, man durfte nur Shake¬
speares Tragödie mit der zu Grunde gelegten Novelle vergleichen. Auch in
der Poesie wird durch die zu Grunde gelegte Begebenheit nur der Nahmen ge¬
geben; der Werth der Ausführung muß dann nach den Gesetzen des Dramas,
des Romans, des Epos :c. beurtheilt werdeu. Schon der Dichter verdankt nichts,
was wahrhaft dichterisch ist, dem Stoff; in wieviel höherm Grade muß das bei
der Oper der Fall sein, wo eine ganz neue, dem Stoff (dem Tert) ursprüng¬
lich ganz fremde Kunst hinzutritt. Daß aber eine Vereinigung zwischen
diesen beiden Künsten dennoch möglich ist, liegt eben darin, daß allerdings
der Ton nicht blos durch seine Bewegung, durch seinen Rythmus, durch
Stärke oder Schwäche :c., sondern an und für sich durch seine Qualität eine
unmittelbare Erregung des Gefühls ist. Wir kommen darauf noch weiter
zurück.

Bei Wagner war jener Irrthum nur aus der individuellen Beschaffenheit
seines Talents zu erklären. Erbesaß keine musikalische Productivität im höhern
Grade, wol aber eine lebhafte Gabe der Combination. Um diese individuelle
Beschaffenheit zu rechtfertigen, machte er daraus ein Gesetz, nach welchem das
erste werthlos, das zweite dagegen sehr werthvoll sein , sollte; und daß er mit
diesen unerhörten Behauptungen Glück machte, lag an der correspondirenden
Neigung eines großen Theils im Publicum, der Neigung, mühelos erregt zu


Inspiration angewiesen. Die Theorie und Kritik hat weiter nichts zu thun,
als eine Verwechslung der Inspiration mit dem bloßen Einfall zu verhüten,
wobei sie wiederum hauptsächlich auf das im menschlichen Ohr sich manifestirende
Naturgesetz hinzuweisen hat.

Schon aus dieser Bemerkung ergibt sich die naheliegende polemische Rich¬
tung jeder Theorie. Die Theorie des vorliegenden Buchs ist durch die Polemik
gegen Wagner hervorgerufen, und Wagners Theorie vorzüglich durch den
Verdruß eines gebildeten Mannes über die unsinnigen Opernterte. Wenn
Wagner weiter nichts behauptet hatte, als daß ein wahrhaft künstlerischer
Eindruck in der Oper nur dann hervorgebracht wird, wenn die Musik mit dem
Text, der Text mit sich selbst und das Ganze mit den allgemeinen poetischen
Gesetzen übereinstimmt, so hätte ihm jeder Verständige beigepflichtet, auch wenn
er den einzelnen Versuchen, einen poetischen Tert und eine mit diesem Text
übereinstimmende Musik herzustellen, seinen Beifall hätte versagen müssen. Aber
Wagner ging weiter. Er behauptete, daß die Kunst überhaupt kein andres
Recht habe, als Ausdruck der Poesie zu sein, und aus dieser Behauptung
leitete er erstens die Verwerfung aller tertlosen Musik her, zweitens das noch
viel erstaunlichere Arion, daß in der Musik eigentlich zum Tert kein neuer
Inhalt hinzukomme, daß sie nur vervollständige, was im Tert bereits liegen
müsse. Um die UnHaltbarkeit dieser Behauptung nachzuweisen, hatte man gar
nicht nöthig, auf das Wesen der Musik einzugehen, man durfte nur Shake¬
speares Tragödie mit der zu Grunde gelegten Novelle vergleichen. Auch in
der Poesie wird durch die zu Grunde gelegte Begebenheit nur der Nahmen ge¬
geben; der Werth der Ausführung muß dann nach den Gesetzen des Dramas,
des Romans, des Epos :c. beurtheilt werdeu. Schon der Dichter verdankt nichts,
was wahrhaft dichterisch ist, dem Stoff; in wieviel höherm Grade muß das bei
der Oper der Fall sein, wo eine ganz neue, dem Stoff (dem Tert) ursprüng¬
lich ganz fremde Kunst hinzutritt. Daß aber eine Vereinigung zwischen
diesen beiden Künsten dennoch möglich ist, liegt eben darin, daß allerdings
der Ton nicht blos durch seine Bewegung, durch seinen Rythmus, durch
Stärke oder Schwäche :c., sondern an und für sich durch seine Qualität eine
unmittelbare Erregung des Gefühls ist. Wir kommen darauf noch weiter
zurück.

Bei Wagner war jener Irrthum nur aus der individuellen Beschaffenheit
seines Talents zu erklären. Erbesaß keine musikalische Productivität im höhern
Grade, wol aber eine lebhafte Gabe der Combination. Um diese individuelle
Beschaffenheit zu rechtfertigen, machte er daraus ein Gesetz, nach welchem das
erste werthlos, das zweite dagegen sehr werthvoll sein , sollte; und daß er mit
diesen unerhörten Behauptungen Glück machte, lag an der correspondirenden
Neigung eines großen Theils im Publicum, der Neigung, mühelos erregt zu


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[0212] Inspiration angewiesen. Die Theorie und Kritik hat weiter nichts zu thun, als eine Verwechslung der Inspiration mit dem bloßen Einfall zu verhüten, wobei sie wiederum hauptsächlich auf das im menschlichen Ohr sich manifestirende Naturgesetz hinzuweisen hat. Schon aus dieser Bemerkung ergibt sich die naheliegende polemische Rich¬ tung jeder Theorie. Die Theorie des vorliegenden Buchs ist durch die Polemik gegen Wagner hervorgerufen, und Wagners Theorie vorzüglich durch den Verdruß eines gebildeten Mannes über die unsinnigen Opernterte. Wenn Wagner weiter nichts behauptet hatte, als daß ein wahrhaft künstlerischer Eindruck in der Oper nur dann hervorgebracht wird, wenn die Musik mit dem Text, der Text mit sich selbst und das Ganze mit den allgemeinen poetischen Gesetzen übereinstimmt, so hätte ihm jeder Verständige beigepflichtet, auch wenn er den einzelnen Versuchen, einen poetischen Tert und eine mit diesem Text übereinstimmende Musik herzustellen, seinen Beifall hätte versagen müssen. Aber Wagner ging weiter. Er behauptete, daß die Kunst überhaupt kein andres Recht habe, als Ausdruck der Poesie zu sein, und aus dieser Behauptung leitete er erstens die Verwerfung aller tertlosen Musik her, zweitens das noch viel erstaunlichere Arion, daß in der Musik eigentlich zum Tert kein neuer Inhalt hinzukomme, daß sie nur vervollständige, was im Tert bereits liegen müsse. Um die UnHaltbarkeit dieser Behauptung nachzuweisen, hatte man gar nicht nöthig, auf das Wesen der Musik einzugehen, man durfte nur Shake¬ speares Tragödie mit der zu Grunde gelegten Novelle vergleichen. Auch in der Poesie wird durch die zu Grunde gelegte Begebenheit nur der Nahmen ge¬ geben; der Werth der Ausführung muß dann nach den Gesetzen des Dramas, des Romans, des Epos :c. beurtheilt werdeu. Schon der Dichter verdankt nichts, was wahrhaft dichterisch ist, dem Stoff; in wieviel höherm Grade muß das bei der Oper der Fall sein, wo eine ganz neue, dem Stoff (dem Tert) ursprüng¬ lich ganz fremde Kunst hinzutritt. Daß aber eine Vereinigung zwischen diesen beiden Künsten dennoch möglich ist, liegt eben darin, daß allerdings der Ton nicht blos durch seine Bewegung, durch seinen Rythmus, durch Stärke oder Schwäche :c., sondern an und für sich durch seine Qualität eine unmittelbare Erregung des Gefühls ist. Wir kommen darauf noch weiter zurück. Bei Wagner war jener Irrthum nur aus der individuellen Beschaffenheit seines Talents zu erklären. Erbesaß keine musikalische Productivität im höhern Grade, wol aber eine lebhafte Gabe der Combination. Um diese individuelle Beschaffenheit zu rechtfertigen, machte er daraus ein Gesetz, nach welchem das erste werthlos, das zweite dagegen sehr werthvoll sein , sollte; und daß er mit diesen unerhörten Behauptungen Glück machte, lag an der correspondirenden Neigung eines großen Theils im Publicum, der Neigung, mühelos erregt zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/212>, abgerufen am 22.07.2024.