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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Seher und Offenbarer. Selbst die Gesetzgebung kann keine Anordung treffen,
welche gegen die Aussprüche des letzteren verstößt. Sie kann sie nur den An¬
forderungen des gesellschaftlichen Lebens anpassen. Die Gerechtigkeitspflege ist
von der einfachsten Art. Sie ist auf den Grundsatz allgemeiner Gleichheit
basirt und lehnt sich an die Vorschriften des mosaischen Gesetzes an, dessen
Strafen verhängt werden, soweit dies thunlich ist. Bei den unteren Gerichts¬
höfen werden die Zeugen selten vereidet, ebensowenig kümmert man sich um die
unzähligen Hinterpförtchen und Doppeldeutigkeiten der amerikanischen Gesetze, die
den Advocaten fortwährend Gelegenheit zu Winkelzügen geben. Nirgend wird das
Schwert, das einst den gordischen Knoten zerhieb, so fleißig gebraucht, als von
den Richtern der Mormonen. Criminalfälle sollen künstig nach "den Gesetzen
des Herrn" abgeurtheilt werden, einem Coder, der durch Offenbarung erlangt,
aber noch nicht publicirt ist, da das Volk Gottes als noch nicht reif dazu er¬
kannt wurde. Derselbe soll jedoch bald in Kraft treten. Was davon verlautet,
läßt an Drakons Gesetze denken. Alle schweren Verbrechen werden nach ihm
mit Enthauptung geahndet werden; denn "ohne Blutvergießen ist keine Ver¬
gebung der Sünden." Man steht dies sogar als einen Act der Barmherzigkeit
gegen den Missethäter an, der, wenn er durch seine Unklugheit oder vom Satan
verlockt, seine Seligkeit durch Sünde verscherzt hat, dadurch, daß er sem Haupt
dem Beile darbietet, seine Schuld sühnen und in einen Zustand gelangen kann,
wo er von neuem eine Prüfungszeit beginnt.

So gehässig sich auch die Führer der Mormonen wiederholt über die
Persönlichkeiten ausgesprochen haben, welche an der Spitze der Negierung in
Washington standen, gegen den Staatenbund als solchen und gegen die Con-
stitution haben sie stets die größte Achtung an den Tag gelegt, und mag dies
bei Einigen eine bloße Kundgebung der Vorsicht gewesen sein, bei der Mehrzahl
war eS gewiß aufrichtig und ehrlich gemeint. In Missouri und Illinois grau¬
sam und ungerecht behandelt, von der Centralgrwalt nicht geschützt, wanderten
sie vor der Verfolgung nach einem Lande aus, welches damals zu Meriko
gehörte. Ihre Tapferkeit half dasselbe erobern, ihr unermüdlicher Fleiß ver¬
wandelte es aus einer Wildniß in ein blühendes Culturland. Da erfuhren sie,
daß Utah an die Vereinigten Staaten abgetreten sei, und nicht sobald hatten
sie die Kunde vernommen, als sie die erste Gelegenheit ergriffen, ihre Anhäng¬
lichkeit an die Union zu erklären. Die Verfassung, sagen sie, dieselbe ihren
Glaubenssätzen asstmilirend, ist den patriotischen Vätern durch göttliche Ein¬
gebung verliehen worden, und darum sind sie "entschlossen, die Bestimmungen
derselben aufrecht zu erhalten und zu vertheidigen, wenn auch alle bisherigen
Parteien von ihnen abfallen und sie mit Füßen treten." Sie wollen "kein
Gesetz aufstellen, daS von der geheiligten Verfassungsurkunde der Vereinigten
Staaten verboten ist," ja sie weissagen sogar, daß der Tag nicht fern ist, wo


Grenzboten. II. 17

Seher und Offenbarer. Selbst die Gesetzgebung kann keine Anordung treffen,
welche gegen die Aussprüche des letzteren verstößt. Sie kann sie nur den An¬
forderungen des gesellschaftlichen Lebens anpassen. Die Gerechtigkeitspflege ist
von der einfachsten Art. Sie ist auf den Grundsatz allgemeiner Gleichheit
basirt und lehnt sich an die Vorschriften des mosaischen Gesetzes an, dessen
Strafen verhängt werden, soweit dies thunlich ist. Bei den unteren Gerichts¬
höfen werden die Zeugen selten vereidet, ebensowenig kümmert man sich um die
unzähligen Hinterpförtchen und Doppeldeutigkeiten der amerikanischen Gesetze, die
den Advocaten fortwährend Gelegenheit zu Winkelzügen geben. Nirgend wird das
Schwert, das einst den gordischen Knoten zerhieb, so fleißig gebraucht, als von
den Richtern der Mormonen. Criminalfälle sollen künstig nach „den Gesetzen
des Herrn" abgeurtheilt werden, einem Coder, der durch Offenbarung erlangt,
aber noch nicht publicirt ist, da das Volk Gottes als noch nicht reif dazu er¬
kannt wurde. Derselbe soll jedoch bald in Kraft treten. Was davon verlautet,
läßt an Drakons Gesetze denken. Alle schweren Verbrechen werden nach ihm
mit Enthauptung geahndet werden; denn „ohne Blutvergießen ist keine Ver¬
gebung der Sünden." Man steht dies sogar als einen Act der Barmherzigkeit
gegen den Missethäter an, der, wenn er durch seine Unklugheit oder vom Satan
verlockt, seine Seligkeit durch Sünde verscherzt hat, dadurch, daß er sem Haupt
dem Beile darbietet, seine Schuld sühnen und in einen Zustand gelangen kann,
wo er von neuem eine Prüfungszeit beginnt.

So gehässig sich auch die Führer der Mormonen wiederholt über die
Persönlichkeiten ausgesprochen haben, welche an der Spitze der Negierung in
Washington standen, gegen den Staatenbund als solchen und gegen die Con-
stitution haben sie stets die größte Achtung an den Tag gelegt, und mag dies
bei Einigen eine bloße Kundgebung der Vorsicht gewesen sein, bei der Mehrzahl
war eS gewiß aufrichtig und ehrlich gemeint. In Missouri und Illinois grau¬
sam und ungerecht behandelt, von der Centralgrwalt nicht geschützt, wanderten
sie vor der Verfolgung nach einem Lande aus, welches damals zu Meriko
gehörte. Ihre Tapferkeit half dasselbe erobern, ihr unermüdlicher Fleiß ver¬
wandelte es aus einer Wildniß in ein blühendes Culturland. Da erfuhren sie,
daß Utah an die Vereinigten Staaten abgetreten sei, und nicht sobald hatten
sie die Kunde vernommen, als sie die erste Gelegenheit ergriffen, ihre Anhäng¬
lichkeit an die Union zu erklären. Die Verfassung, sagen sie, dieselbe ihren
Glaubenssätzen asstmilirend, ist den patriotischen Vätern durch göttliche Ein¬
gebung verliehen worden, und darum sind sie „entschlossen, die Bestimmungen
derselben aufrecht zu erhalten und zu vertheidigen, wenn auch alle bisherigen
Parteien von ihnen abfallen und sie mit Füßen treten." Sie wollen „kein
Gesetz aufstellen, daS von der geheiligten Verfassungsurkunde der Vereinigten
Staaten verboten ist," ja sie weissagen sogar, daß der Tag nicht fern ist, wo


Grenzboten. II. 17
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/137>, abgerufen am 01.10.2024.