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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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was er anders als vielleicht die Kunst des Stils vor denen voraus hat, die
hier verschrieen oder lächerlich gemacht werden.

Aber Alexander von Humboldt ist zu vorsichtig und zu selbstbeherrscht, um
in dem Kosmos irgendwelchen Anstoß gegeben zu haben. Zwar zieht sich
Burmeister hinter ihn zurück, um sich für seine Geschichte der Schöpfung gegen
die -Zeloten zu sichern. Zwar pflegte ihn Ancillon die Encyklopädie zu nennen
-- vermuthlich nur wegen der Universalität seines Wissens -- zwar war er
Schiller darum nicht recht, weil er alles berechnen wollte; aber trotz der
Macht seiner Waffen und des Vortheils seiner Stellung ist er nie angreifend
zu Werk gegangen; das ist genug; aalglatt ist er über die Verfiinglichkeiten
hinweggeschlüpft, behutsam über das unter verrätherischer Asche glimmende
Feuer einhergeschritten. Es ist nicht blos klug zu schreiben und zu lehren, es
ist oft viel klüger zu schweigen und geduldig anzuhören.

Wie Goethe die Poesie und Alexander von Humboldt die Naturwissenschaft
vertritt, so ist Jacob Grimm ohne Zweifel der würdigste Vertreter der histo¬
rischen Forschung.

Ich will hier nicht die überaus großen Verdienste der Brüder Grimm um
die Erforschung der altdeutschen Dichtung, des deutschen Alterthums, der nor¬
dischen Mythologie aufzählen; auch kann ich es nicht; jede Seite unsrer alt¬
deutschen Literaturgeschichte erwähnt sie. Wenn man das überhaupt von Ein¬
zelnen sagen kann, so darf man von ihnen rühmen, sie haben eine neue, große,
stolze Wissenschaft geschaffen.

Es ist sicher, daß ihre Bestrebungen dem deutschen Leben goldene
Frucht bringen. Aber auch die Früchte, welche die Feinde moderner Aufklä¬
rung ersehnen? Werden die mittelalterlichen Anschauungen in das Fleisch
und Blut der Neuzeit übergehen? Wird die Dichtkunst deS Mittelalters be¬
lebende Töne in die Brust unsrer Dichter hauchen? Wenn es nicht geschieht,
ist es nicht die Schuld der Gebrüder Grimm; sie haben das Ihrige gethan;
sie haben es mit Vorliebe und aus der Fülle eines begeisterten Herzens
gethan.

In Form und Inhalt läßt sich unser Leben und sein idealer Ausdruck, unsre -
Poesie, nicht auf den Standpunkt früherer Jahrhunderte zurückschrauben. Was
war, trägt seine Berechtigung in sich, aber nicht die Berechtigung immer zu
sein. Die Anzahl der Factoren des modernen Lebens ist zu groß und zu ver-
schiedenartig, als daß die beiden Primzahlen, die das Zeitalter der Kreuzzüge
bilden, ohne Rest darin aufgingen. Unsre Straße kehrt, trotz aller Krümmungen,
nicht an die Ariadnefaden zurück, die durch das Labyrinth einer wilden Zeit
führen. Der Arm, der ins Mittelalter zurückweist, kann nicht auch Wegweiser
für die Zukunft sein.

Unsre Poesie ist von dem altdeutschen Wesen wenig berührt worden. Wie


was er anders als vielleicht die Kunst des Stils vor denen voraus hat, die
hier verschrieen oder lächerlich gemacht werden.

Aber Alexander von Humboldt ist zu vorsichtig und zu selbstbeherrscht, um
in dem Kosmos irgendwelchen Anstoß gegeben zu haben. Zwar zieht sich
Burmeister hinter ihn zurück, um sich für seine Geschichte der Schöpfung gegen
die -Zeloten zu sichern. Zwar pflegte ihn Ancillon die Encyklopädie zu nennen
— vermuthlich nur wegen der Universalität seines Wissens — zwar war er
Schiller darum nicht recht, weil er alles berechnen wollte; aber trotz der
Macht seiner Waffen und des Vortheils seiner Stellung ist er nie angreifend
zu Werk gegangen; das ist genug; aalglatt ist er über die Verfiinglichkeiten
hinweggeschlüpft, behutsam über das unter verrätherischer Asche glimmende
Feuer einhergeschritten. Es ist nicht blos klug zu schreiben und zu lehren, es
ist oft viel klüger zu schweigen und geduldig anzuhören.

Wie Goethe die Poesie und Alexander von Humboldt die Naturwissenschaft
vertritt, so ist Jacob Grimm ohne Zweifel der würdigste Vertreter der histo¬
rischen Forschung.

Ich will hier nicht die überaus großen Verdienste der Brüder Grimm um
die Erforschung der altdeutschen Dichtung, des deutschen Alterthums, der nor¬
dischen Mythologie aufzählen; auch kann ich es nicht; jede Seite unsrer alt¬
deutschen Literaturgeschichte erwähnt sie. Wenn man das überhaupt von Ein¬
zelnen sagen kann, so darf man von ihnen rühmen, sie haben eine neue, große,
stolze Wissenschaft geschaffen.

Es ist sicher, daß ihre Bestrebungen dem deutschen Leben goldene
Frucht bringen. Aber auch die Früchte, welche die Feinde moderner Aufklä¬
rung ersehnen? Werden die mittelalterlichen Anschauungen in das Fleisch
und Blut der Neuzeit übergehen? Wird die Dichtkunst deS Mittelalters be¬
lebende Töne in die Brust unsrer Dichter hauchen? Wenn es nicht geschieht,
ist es nicht die Schuld der Gebrüder Grimm; sie haben das Ihrige gethan;
sie haben es mit Vorliebe und aus der Fülle eines begeisterten Herzens
gethan.

In Form und Inhalt läßt sich unser Leben und sein idealer Ausdruck, unsre -
Poesie, nicht auf den Standpunkt früherer Jahrhunderte zurückschrauben. Was
war, trägt seine Berechtigung in sich, aber nicht die Berechtigung immer zu
sein. Die Anzahl der Factoren des modernen Lebens ist zu groß und zu ver-
schiedenartig, als daß die beiden Primzahlen, die das Zeitalter der Kreuzzüge
bilden, ohne Rest darin aufgingen. Unsre Straße kehrt, trotz aller Krümmungen,
nicht an die Ariadnefaden zurück, die durch das Labyrinth einer wilden Zeit
führen. Der Arm, der ins Mittelalter zurückweist, kann nicht auch Wegweiser
für die Zukunft sein.

Unsre Poesie ist von dem altdeutschen Wesen wenig berührt worden. Wie


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[0118] was er anders als vielleicht die Kunst des Stils vor denen voraus hat, die hier verschrieen oder lächerlich gemacht werden. Aber Alexander von Humboldt ist zu vorsichtig und zu selbstbeherrscht, um in dem Kosmos irgendwelchen Anstoß gegeben zu haben. Zwar zieht sich Burmeister hinter ihn zurück, um sich für seine Geschichte der Schöpfung gegen die -Zeloten zu sichern. Zwar pflegte ihn Ancillon die Encyklopädie zu nennen — vermuthlich nur wegen der Universalität seines Wissens — zwar war er Schiller darum nicht recht, weil er alles berechnen wollte; aber trotz der Macht seiner Waffen und des Vortheils seiner Stellung ist er nie angreifend zu Werk gegangen; das ist genug; aalglatt ist er über die Verfiinglichkeiten hinweggeschlüpft, behutsam über das unter verrätherischer Asche glimmende Feuer einhergeschritten. Es ist nicht blos klug zu schreiben und zu lehren, es ist oft viel klüger zu schweigen und geduldig anzuhören. Wie Goethe die Poesie und Alexander von Humboldt die Naturwissenschaft vertritt, so ist Jacob Grimm ohne Zweifel der würdigste Vertreter der histo¬ rischen Forschung. Ich will hier nicht die überaus großen Verdienste der Brüder Grimm um die Erforschung der altdeutschen Dichtung, des deutschen Alterthums, der nor¬ dischen Mythologie aufzählen; auch kann ich es nicht; jede Seite unsrer alt¬ deutschen Literaturgeschichte erwähnt sie. Wenn man das überhaupt von Ein¬ zelnen sagen kann, so darf man von ihnen rühmen, sie haben eine neue, große, stolze Wissenschaft geschaffen. Es ist sicher, daß ihre Bestrebungen dem deutschen Leben goldene Frucht bringen. Aber auch die Früchte, welche die Feinde moderner Aufklä¬ rung ersehnen? Werden die mittelalterlichen Anschauungen in das Fleisch und Blut der Neuzeit übergehen? Wird die Dichtkunst deS Mittelalters be¬ lebende Töne in die Brust unsrer Dichter hauchen? Wenn es nicht geschieht, ist es nicht die Schuld der Gebrüder Grimm; sie haben das Ihrige gethan; sie haben es mit Vorliebe und aus der Fülle eines begeisterten Herzens gethan. In Form und Inhalt läßt sich unser Leben und sein idealer Ausdruck, unsre - Poesie, nicht auf den Standpunkt früherer Jahrhunderte zurückschrauben. Was war, trägt seine Berechtigung in sich, aber nicht die Berechtigung immer zu sein. Die Anzahl der Factoren des modernen Lebens ist zu groß und zu ver- schiedenartig, als daß die beiden Primzahlen, die das Zeitalter der Kreuzzüge bilden, ohne Rest darin aufgingen. Unsre Straße kehrt, trotz aller Krümmungen, nicht an die Ariadnefaden zurück, die durch das Labyrinth einer wilden Zeit führen. Der Arm, der ins Mittelalter zurückweist, kann nicht auch Wegweiser für die Zukunft sein. Unsre Poesie ist von dem altdeutschen Wesen wenig berührt worden. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/118>, abgerufen am 03.07.2024.