Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.so durchaus auf die Action berechnet, daß man ihr und den Sängern unrecht Ueberhaupt vermißt man bei der Auswahl der Gesangsachen nicht selten so durchaus auf die Action berechnet, daß man ihr und den Sängern unrecht Ueberhaupt vermißt man bei der Auswahl der Gesangsachen nicht selten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98924"/> <p xml:id="ID_222" prev="#ID_221"> so durchaus auf die Action berechnet, daß man ihr und den Sängern unrecht<lb/> thut, wenn man sie ins Concert bringt. Denn was auf der Bühne nothwen¬<lb/> dig und wirksam ist, wird auf dem Concertsaal übertreibende Grimasse, oder die<lb/> Sänger müssen sich eine Beschränkung auferlegen, welche dem Musikstück sein<lb/> rechtes Colorit nimmt.</p><lb/> <p xml:id="ID_223" next="#ID_224"> Ueberhaupt vermißt man bei der Auswahl der Gesangsachen nicht selten<lb/> die Rücksicht auf das, was für das Concert überhaupt und insbesondere für<lb/> die ausgewählte Reihe von Tvnstücken paßt. Die Arien, welche in einem be¬<lb/> stimmten Zusammenhange von der größten Wirkung sind, werden bedeutungslos,<lb/> wenn sie aus demselben gerissen werden, unerträglich, wenn sie in eine ganz<lb/> falsche Umgebung kommen. Z. B. die wundervolle Arie aus dem Paulus<lb/> „Jerusalem". Ihre magische, tiefergreifende Wirkung ist wesentlich durch den<lb/> poetischen und musikalischen Zusammenhang bedingt, in welchem sie im Ora¬<lb/> torium erscheint, aus diesem herausgelöst verliert sie ihren wesentlichen Cha¬<lb/> rakter, wenn sie gleich ein schönes Musikstück bleibt. Nun aber denke man<lb/> sich diese mahnende Engelsstimme, wie wie wir sie hören mußten, zwischen<lb/> der Ouvertüre zur Zauberflöte und Il Giuramento Caprice von Jackl: sie wird<lb/> zur Blasphemie. Wer ist, wenn er im Gewandhausconcert sitzt, in der Stim¬<lb/> mung, an Tod und Auferstehung ernsthaft zu denken? Wer kann vollends,<lb/> wenn er voll Jubel ist über Beethovens (or-Concert, unmittelbar darauf<lb/> Händels „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" so in sich aufnehmen, wie er es<lb/> soll, und wenn er eS im Stande ist, gleich darauf zu Salonstücken fürs Piano-<lb/> forte übergehen? Dergleichen soll niemand können, und die Zumuthung ist eine<lb/> Beleidigung des guten Geschmacks. Wenn unmittelbar auf Beethovens Corio-<lb/> lanouverture die Arie aus Paulus folgt „Gott sei mir gnädig nach deiner<lb/> Güte", so kann dieser frappante Contrast eines heidnisch.» Charakters, der in<lb/> trotzigem Selbstbewußtsein sich zerschellen läßt an den Felsen, die er nicht be¬<lb/> wältigen kann, mit der christlichen Bußfertigkeit den Zuhörer interessiren, ob¬<lb/> gleich sich noch zweifeln läßt, ob dieses Interesse hier daS richtige, ob es das<lb/> beabsichtigte war; aber welche Stimmung soll herauskommen, wenn aus die<lb/> Arie des Paulus Flötenvariationen folgen? Es ist nicht genug, daß es gute<lb/> Musik sei, die im Concert gesungen wird, sie muß auch für das Concert passen,<lb/> weshalb auch das ausgeschlossen bleiben sollte, was ohne die lebendige Dar¬<lb/> stellung aus der Bühne seinen Charakter verliert, wie die Scene aus der Ent¬<lb/> führung, die Arie aus Fidelio. Die älteren Concertarien sind auch hierfür be¬<lb/> lehrend. Ihr Text ist meistens einer Oper entnommen, allein die Situation ist<lb/> so einfach, von so allgemeinem Charakter, daß ihr Verständniß durch den Gang<lb/> einer bestimmten Handlung nicht bedingt ist, sich selbst vielmehr klar aus¬<lb/> spricht. Der Ausdruck der darin herrschenden Leidenschaft und Empfindung ist<lb/> ferner vom Komponisten im Verhältniß zu der Lebendigkeit und Heftigkeit der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0072]
so durchaus auf die Action berechnet, daß man ihr und den Sängern unrecht
thut, wenn man sie ins Concert bringt. Denn was auf der Bühne nothwen¬
dig und wirksam ist, wird auf dem Concertsaal übertreibende Grimasse, oder die
Sänger müssen sich eine Beschränkung auferlegen, welche dem Musikstück sein
rechtes Colorit nimmt.
Ueberhaupt vermißt man bei der Auswahl der Gesangsachen nicht selten
die Rücksicht auf das, was für das Concert überhaupt und insbesondere für
die ausgewählte Reihe von Tvnstücken paßt. Die Arien, welche in einem be¬
stimmten Zusammenhange von der größten Wirkung sind, werden bedeutungslos,
wenn sie aus demselben gerissen werden, unerträglich, wenn sie in eine ganz
falsche Umgebung kommen. Z. B. die wundervolle Arie aus dem Paulus
„Jerusalem". Ihre magische, tiefergreifende Wirkung ist wesentlich durch den
poetischen und musikalischen Zusammenhang bedingt, in welchem sie im Ora¬
torium erscheint, aus diesem herausgelöst verliert sie ihren wesentlichen Cha¬
rakter, wenn sie gleich ein schönes Musikstück bleibt. Nun aber denke man
sich diese mahnende Engelsstimme, wie wie wir sie hören mußten, zwischen
der Ouvertüre zur Zauberflöte und Il Giuramento Caprice von Jackl: sie wird
zur Blasphemie. Wer ist, wenn er im Gewandhausconcert sitzt, in der Stim¬
mung, an Tod und Auferstehung ernsthaft zu denken? Wer kann vollends,
wenn er voll Jubel ist über Beethovens (or-Concert, unmittelbar darauf
Händels „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" so in sich aufnehmen, wie er es
soll, und wenn er eS im Stande ist, gleich darauf zu Salonstücken fürs Piano-
forte übergehen? Dergleichen soll niemand können, und die Zumuthung ist eine
Beleidigung des guten Geschmacks. Wenn unmittelbar auf Beethovens Corio-
lanouverture die Arie aus Paulus folgt „Gott sei mir gnädig nach deiner
Güte", so kann dieser frappante Contrast eines heidnisch.» Charakters, der in
trotzigem Selbstbewußtsein sich zerschellen läßt an den Felsen, die er nicht be¬
wältigen kann, mit der christlichen Bußfertigkeit den Zuhörer interessiren, ob¬
gleich sich noch zweifeln läßt, ob dieses Interesse hier daS richtige, ob es das
beabsichtigte war; aber welche Stimmung soll herauskommen, wenn aus die
Arie des Paulus Flötenvariationen folgen? Es ist nicht genug, daß es gute
Musik sei, die im Concert gesungen wird, sie muß auch für das Concert passen,
weshalb auch das ausgeschlossen bleiben sollte, was ohne die lebendige Dar¬
stellung aus der Bühne seinen Charakter verliert, wie die Scene aus der Ent¬
führung, die Arie aus Fidelio. Die älteren Concertarien sind auch hierfür be¬
lehrend. Ihr Text ist meistens einer Oper entnommen, allein die Situation ist
so einfach, von so allgemeinem Charakter, daß ihr Verständniß durch den Gang
einer bestimmten Handlung nicht bedingt ist, sich selbst vielmehr klar aus¬
spricht. Der Ausdruck der darin herrschenden Leidenschaft und Empfindung ist
ferner vom Komponisten im Verhältniß zu der Lebendigkeit und Heftigkeit der
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |