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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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im Norden einen europäischen Krieg provociren. Wäre es nun nicht un¬
verzeihlich, wenn das jetzt unter so glücklichen Constellationen vereinigte Europa
nur den einen Theil seiner Anliegen zur Erledigung brachte und den andern
auf spätere Zeiten verschöbe, deren Geschick ungewiß ist! .... . Rußland muß
ferner dahin gebracht werden, die ebenso stolz als furchtsamfeindselige Ab¬
sperrung seiner westlichen Grenzen aufzugeben, dem freien Weltverkehr, der in
erster Reihe ein Anliegen unsrer Zeit ist, keine Hindernisse mehr' zu stellen.
Die Art und Weise, wie Rußland sich gegen den Westen, d. h. zunächst gegen
Oestreich und Preußen absperrt, hatte längst einen wohlbegründeten Casus belli
abgeben können und sollen." -- Bis dahin stimmen wir dem Verfasser auf
das unbedingteste bei und wünschten lebhast, daß seine Ansichten auch die der
östreichischen Regierung sein möchten; ebenso in dem, was er über die Ent-
'schädigungsfrage sagt; dagegen erscheint uns seine vierte Forderung zu kühn,
wenigstens für jetzt, obgleich sie auch wohl verdient, ins Auge gefaßt zu werden.
"Rußland," heißt es S. 71, "soll endlich gezwungen werden, seinen terroristi¬
schen kirchlichen Hochmuth fahren zu lassen; es soll zur Anerkennung geführt
werden, daß das Russenthum auch in kirchlicher Beziehung nicht mehr bean¬
spruchen dürfe, als unter Gleichen gleich geachtet zu werden.....Das
erste und nächste Mittel dafür ist, daß die Katholiken und Protestanten Ru߬
lands unter den Schutz Europas gestellt werden.....Rußland selbst hat
diesem Kampf einen religiösen Charakter zu geben gesucht, indem es erklärte,
nur sür die gedrückten Glaubensbrüder das Schwert zu ziehen. Man ist darauf
eingegangen, um Rußland mit seinen eignen Waffen zu schlagen; man ist
darauf eingegangen, indem man die Christen der Türkei unter den Schutz Europas
gestellt, um sie aus dem einseitigen herrjchsüchtigen Protectorat Rußlands zu
retten. Aber weit mehr, als die Christen in der Türkei, sind die Katholiken und
Protestanten in Rußland des Schutzes bedürftig." -- Die Idee ist beachtenswert!);
aber bevor man sie in Angriff nehmen könnte , müßte Rußland ganz anders
gedemüthigt sein, als es selbst nach einem jahrelangen Kampfe voraussichtlich
der Fall sein wird. Die andern Punkte dagegen können als kategorische
Forderungen in der That ausgestellt werden, und wenn Oestreich weiter rechnet,
als für den Augenblick, so wird es wol begreifen, daß sein Vortheil, wenn
auch nur indirect, bei dieser Frage ebenso betheiligt ist, als der Vortheil
Preußens.




im Norden einen europäischen Krieg provociren. Wäre es nun nicht un¬
verzeihlich, wenn das jetzt unter so glücklichen Constellationen vereinigte Europa
nur den einen Theil seiner Anliegen zur Erledigung brachte und den andern
auf spätere Zeiten verschöbe, deren Geschick ungewiß ist! .... . Rußland muß
ferner dahin gebracht werden, die ebenso stolz als furchtsamfeindselige Ab¬
sperrung seiner westlichen Grenzen aufzugeben, dem freien Weltverkehr, der in
erster Reihe ein Anliegen unsrer Zeit ist, keine Hindernisse mehr' zu stellen.
Die Art und Weise, wie Rußland sich gegen den Westen, d. h. zunächst gegen
Oestreich und Preußen absperrt, hatte längst einen wohlbegründeten Casus belli
abgeben können und sollen." — Bis dahin stimmen wir dem Verfasser auf
das unbedingteste bei und wünschten lebhast, daß seine Ansichten auch die der
östreichischen Regierung sein möchten; ebenso in dem, was er über die Ent-
'schädigungsfrage sagt; dagegen erscheint uns seine vierte Forderung zu kühn,
wenigstens für jetzt, obgleich sie auch wohl verdient, ins Auge gefaßt zu werden.
„Rußland," heißt es S. 71, „soll endlich gezwungen werden, seinen terroristi¬
schen kirchlichen Hochmuth fahren zu lassen; es soll zur Anerkennung geführt
werden, daß das Russenthum auch in kirchlicher Beziehung nicht mehr bean¬
spruchen dürfe, als unter Gleichen gleich geachtet zu werden.....Das
erste und nächste Mittel dafür ist, daß die Katholiken und Protestanten Ru߬
lands unter den Schutz Europas gestellt werden.....Rußland selbst hat
diesem Kampf einen religiösen Charakter zu geben gesucht, indem es erklärte,
nur sür die gedrückten Glaubensbrüder das Schwert zu ziehen. Man ist darauf
eingegangen, um Rußland mit seinen eignen Waffen zu schlagen; man ist
darauf eingegangen, indem man die Christen der Türkei unter den Schutz Europas
gestellt, um sie aus dem einseitigen herrjchsüchtigen Protectorat Rußlands zu
retten. Aber weit mehr, als die Christen in der Türkei, sind die Katholiken und
Protestanten in Rußland des Schutzes bedürftig." — Die Idee ist beachtenswert!);
aber bevor man sie in Angriff nehmen könnte , müßte Rußland ganz anders
gedemüthigt sein, als es selbst nach einem jahrelangen Kampfe voraussichtlich
der Fall sein wird. Die andern Punkte dagegen können als kategorische
Forderungen in der That ausgestellt werden, und wenn Oestreich weiter rechnet,
als für den Augenblick, so wird es wol begreifen, daß sein Vortheil, wenn
auch nur indirect, bei dieser Frage ebenso betheiligt ist, als der Vortheil
Preußens.




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[0188] im Norden einen europäischen Krieg provociren. Wäre es nun nicht un¬ verzeihlich, wenn das jetzt unter so glücklichen Constellationen vereinigte Europa nur den einen Theil seiner Anliegen zur Erledigung brachte und den andern auf spätere Zeiten verschöbe, deren Geschick ungewiß ist! .... . Rußland muß ferner dahin gebracht werden, die ebenso stolz als furchtsamfeindselige Ab¬ sperrung seiner westlichen Grenzen aufzugeben, dem freien Weltverkehr, der in erster Reihe ein Anliegen unsrer Zeit ist, keine Hindernisse mehr' zu stellen. Die Art und Weise, wie Rußland sich gegen den Westen, d. h. zunächst gegen Oestreich und Preußen absperrt, hatte längst einen wohlbegründeten Casus belli abgeben können und sollen." — Bis dahin stimmen wir dem Verfasser auf das unbedingteste bei und wünschten lebhast, daß seine Ansichten auch die der östreichischen Regierung sein möchten; ebenso in dem, was er über die Ent- 'schädigungsfrage sagt; dagegen erscheint uns seine vierte Forderung zu kühn, wenigstens für jetzt, obgleich sie auch wohl verdient, ins Auge gefaßt zu werden. „Rußland," heißt es S. 71, „soll endlich gezwungen werden, seinen terroristi¬ schen kirchlichen Hochmuth fahren zu lassen; es soll zur Anerkennung geführt werden, daß das Russenthum auch in kirchlicher Beziehung nicht mehr bean¬ spruchen dürfe, als unter Gleichen gleich geachtet zu werden.....Das erste und nächste Mittel dafür ist, daß die Katholiken und Protestanten Ru߬ lands unter den Schutz Europas gestellt werden.....Rußland selbst hat diesem Kampf einen religiösen Charakter zu geben gesucht, indem es erklärte, nur sür die gedrückten Glaubensbrüder das Schwert zu ziehen. Man ist darauf eingegangen, um Rußland mit seinen eignen Waffen zu schlagen; man ist darauf eingegangen, indem man die Christen der Türkei unter den Schutz Europas gestellt, um sie aus dem einseitigen herrjchsüchtigen Protectorat Rußlands zu retten. Aber weit mehr, als die Christen in der Türkei, sind die Katholiken und Protestanten in Rußland des Schutzes bedürftig." — Die Idee ist beachtenswert!); aber bevor man sie in Angriff nehmen könnte , müßte Rußland ganz anders gedemüthigt sein, als es selbst nach einem jahrelangen Kampfe voraussichtlich der Fall sein wird. Die andern Punkte dagegen können als kategorische Forderungen in der That ausgestellt werden, und wenn Oestreich weiter rechnet, als für den Augenblick, so wird es wol begreifen, daß sein Vortheil, wenn auch nur indirect, bei dieser Frage ebenso betheiligt ist, als der Vortheil Preußens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/188>, abgerufen am 23.07.2024.