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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Hecht, wo er nichts Bestimmtes wußte, lieber geschwiegen als unsichere Ver¬
muthungen ausgesprochen. *)

Das Interesse am Werther wurde ohne Zweifel bei einem großen Theil
des Publicums durch die Voraussetzung realer Verhältnisse, die zugrundelä¬
gen und die neugierige Theilnahme an den wirklichen Personen sehr erhöht.
Wieweit dieselbe, die Kestners mit Recht so sehr unbequem war, ging, kann
unter andern, eine Stelle aus einem Brief von I. C. Bock zeigen, der nach
einem Besuche in Hannover am 8. Mai -I77ö an Nicolai schrieb: "Die in den
Leiden Werthers geschilderte Lotte ist wirklich eines gräflichen Amtmannes
Tochter. Sie war schon versprochen, als "r. Goethe sie kennen lernte und hei-
rathen wollte. Ihr Mann ist Herr Johann Christian Kestner, Secretär und
Registrator beim churfürstlichen Archiv zu, Hannover und Advocatus immatri-
culatus. Die Frau Sekretärin ist nicht schön, besitzt aber doch viel Annehm¬
lichkeiten. Sie wird roth, sobald man von Goethen spricht, scheut sich aber nicht,
die Unterredung fortzusetzen und viel Gutes von Goethe zu sagen."

' Daß Goethe in späten Jahren noch mit warmer Theilnahme an Wetzlar
und den Erinnerungen seines dortigen Aufenthaltes hing,, beweist auch eine
hübsche Anekdote, welche ein Reisender, der in Wetzlar Goethes Spuren nach¬
ging, in Lewalds Europa (1839 1. S. 10) mittheilt, und die man nicht ungern
auch hier wieder lesen wird.. Der Wirth von Garbcnheim erzählte ihm, wie
er im Jahre 1822 als Rekrut zur Garde nach Berlin marschixt und auch durch
Weimar gekommen wäre, da sei er von einem seiner Kameraden aus der
Straße mit dem Namen seines Geburtsortes Wetzlar angerufen worden, und
bald daraufhabe sich ein Bedienter eingefunden und ihn gefragt, ob er aus
Wetzlar gebürtig sei oder diesen Namen führe. Auf die Bejahung des ersteren
habe sodann jener ihn eingeladen, mit zu seinem Herrn zu gehen, welches er
auch gethan. Es sei Goethe gewesen, der im Fenster den Ruf gehört und ihn
gar freundlich gefragt habe, ob er die Buffsche Familie kenne, und wie es ihr
gehe. Er habe sich auch nach verschiedenen anderen Personen erkundigt, habe
sich von Garbenheim erzählen lassen und gefragt, ob die Wirthin Koch noch
lebe, welche adel längst verstorben gewesen; auch von den Linden und vom
Wildbacher Brunnen habe er gesprochen und ihn endlich, nachdem er ihm zwei
harte Thaler geschenkt, auch ihn zu Mittag habe bewirthen lassen, aufs wohl¬
wollendste entlassen. '



*) Ju der zweiten Ausgabe sind einige Bemerkungen der Art hinzugekommen. Eine falsche
>se stehen geblieben zu Goethes Worten über Jerusalem "seit sieben Jahren kenne ich die We¬
ltall" <Br. 48), daß es wol "sieben Monate" heiße" solle, da Jerusalem erst im Jahre 1771
"ach Wetzlar kam. Allein auch in den Briefen an Lavater heißt es von Jerusalem (S. 7>
,,Wir >i>ugcn nebeneinander, an die sechs Jahr, ohne um§ zu nähern." Abeken hat darauf
ausmerkjam gemacht, daß Jerusalem mit Goethe in Leipzig studirt habe.

Hecht, wo er nichts Bestimmtes wußte, lieber geschwiegen als unsichere Ver¬
muthungen ausgesprochen. *)

Das Interesse am Werther wurde ohne Zweifel bei einem großen Theil
des Publicums durch die Voraussetzung realer Verhältnisse, die zugrundelä¬
gen und die neugierige Theilnahme an den wirklichen Personen sehr erhöht.
Wieweit dieselbe, die Kestners mit Recht so sehr unbequem war, ging, kann
unter andern, eine Stelle aus einem Brief von I. C. Bock zeigen, der nach
einem Besuche in Hannover am 8. Mai -I77ö an Nicolai schrieb: „Die in den
Leiden Werthers geschilderte Lotte ist wirklich eines gräflichen Amtmannes
Tochter. Sie war schon versprochen, als »r. Goethe sie kennen lernte und hei-
rathen wollte. Ihr Mann ist Herr Johann Christian Kestner, Secretär und
Registrator beim churfürstlichen Archiv zu, Hannover und Advocatus immatri-
culatus. Die Frau Sekretärin ist nicht schön, besitzt aber doch viel Annehm¬
lichkeiten. Sie wird roth, sobald man von Goethen spricht, scheut sich aber nicht,
die Unterredung fortzusetzen und viel Gutes von Goethe zu sagen."

' Daß Goethe in späten Jahren noch mit warmer Theilnahme an Wetzlar
und den Erinnerungen seines dortigen Aufenthaltes hing,, beweist auch eine
hübsche Anekdote, welche ein Reisender, der in Wetzlar Goethes Spuren nach¬
ging, in Lewalds Europa (1839 1. S. 10) mittheilt, und die man nicht ungern
auch hier wieder lesen wird.. Der Wirth von Garbcnheim erzählte ihm, wie
er im Jahre 1822 als Rekrut zur Garde nach Berlin marschixt und auch durch
Weimar gekommen wäre, da sei er von einem seiner Kameraden aus der
Straße mit dem Namen seines Geburtsortes Wetzlar angerufen worden, und
bald daraufhabe sich ein Bedienter eingefunden und ihn gefragt, ob er aus
Wetzlar gebürtig sei oder diesen Namen führe. Auf die Bejahung des ersteren
habe sodann jener ihn eingeladen, mit zu seinem Herrn zu gehen, welches er
auch gethan. Es sei Goethe gewesen, der im Fenster den Ruf gehört und ihn
gar freundlich gefragt habe, ob er die Buffsche Familie kenne, und wie es ihr
gehe. Er habe sich auch nach verschiedenen anderen Personen erkundigt, habe
sich von Garbenheim erzählen lassen und gefragt, ob die Wirthin Koch noch
lebe, welche adel längst verstorben gewesen; auch von den Linden und vom
Wildbacher Brunnen habe er gesprochen und ihn endlich, nachdem er ihm zwei
harte Thaler geschenkt, auch ihn zu Mittag habe bewirthen lassen, aufs wohl¬
wollendste entlassen. '



*) Ju der zweiten Ausgabe sind einige Bemerkungen der Art hinzugekommen. Eine falsche
>se stehen geblieben zu Goethes Worten über Jerusalem „seit sieben Jahren kenne ich die We¬
ltall" <Br. 48), daß es wol „sieben Monate" heiße» solle, da Jerusalem erst im Jahre 1771
»ach Wetzlar kam. Allein auch in den Briefen an Lavater heißt es von Jerusalem (S. 7>
,,Wir >i>ugcn nebeneinander, an die sechs Jahr, ohne um§ zu nähern." Abeken hat darauf
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[0173] Hecht, wo er nichts Bestimmtes wußte, lieber geschwiegen als unsichere Ver¬ muthungen ausgesprochen. *) Das Interesse am Werther wurde ohne Zweifel bei einem großen Theil des Publicums durch die Voraussetzung realer Verhältnisse, die zugrundelä¬ gen und die neugierige Theilnahme an den wirklichen Personen sehr erhöht. Wieweit dieselbe, die Kestners mit Recht so sehr unbequem war, ging, kann unter andern, eine Stelle aus einem Brief von I. C. Bock zeigen, der nach einem Besuche in Hannover am 8. Mai -I77ö an Nicolai schrieb: „Die in den Leiden Werthers geschilderte Lotte ist wirklich eines gräflichen Amtmannes Tochter. Sie war schon versprochen, als »r. Goethe sie kennen lernte und hei- rathen wollte. Ihr Mann ist Herr Johann Christian Kestner, Secretär und Registrator beim churfürstlichen Archiv zu, Hannover und Advocatus immatri- culatus. Die Frau Sekretärin ist nicht schön, besitzt aber doch viel Annehm¬ lichkeiten. Sie wird roth, sobald man von Goethen spricht, scheut sich aber nicht, die Unterredung fortzusetzen und viel Gutes von Goethe zu sagen." ' Daß Goethe in späten Jahren noch mit warmer Theilnahme an Wetzlar und den Erinnerungen seines dortigen Aufenthaltes hing,, beweist auch eine hübsche Anekdote, welche ein Reisender, der in Wetzlar Goethes Spuren nach¬ ging, in Lewalds Europa (1839 1. S. 10) mittheilt, und die man nicht ungern auch hier wieder lesen wird.. Der Wirth von Garbcnheim erzählte ihm, wie er im Jahre 1822 als Rekrut zur Garde nach Berlin marschixt und auch durch Weimar gekommen wäre, da sei er von einem seiner Kameraden aus der Straße mit dem Namen seines Geburtsortes Wetzlar angerufen worden, und bald daraufhabe sich ein Bedienter eingefunden und ihn gefragt, ob er aus Wetzlar gebürtig sei oder diesen Namen führe. Auf die Bejahung des ersteren habe sodann jener ihn eingeladen, mit zu seinem Herrn zu gehen, welches er auch gethan. Es sei Goethe gewesen, der im Fenster den Ruf gehört und ihn gar freundlich gefragt habe, ob er die Buffsche Familie kenne, und wie es ihr gehe. Er habe sich auch nach verschiedenen anderen Personen erkundigt, habe sich von Garbenheim erzählen lassen und gefragt, ob die Wirthin Koch noch lebe, welche adel längst verstorben gewesen; auch von den Linden und vom Wildbacher Brunnen habe er gesprochen und ihn endlich, nachdem er ihm zwei harte Thaler geschenkt, auch ihn zu Mittag habe bewirthen lassen, aufs wohl¬ wollendste entlassen. ' *) Ju der zweiten Ausgabe sind einige Bemerkungen der Art hinzugekommen. Eine falsche >se stehen geblieben zu Goethes Worten über Jerusalem „seit sieben Jahren kenne ich die We¬ ltall" <Br. 48), daß es wol „sieben Monate" heiße» solle, da Jerusalem erst im Jahre 1771 »ach Wetzlar kam. Allein auch in den Briefen an Lavater heißt es von Jerusalem (S. 7> ,,Wir >i>ugcn nebeneinander, an die sechs Jahr, ohne um§ zu nähern." Abeken hat darauf ausmerkjam gemacht, daß Jerusalem mit Goethe in Leipzig studirt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/173>, abgerufen am 23.07.2024.