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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Goethes in jedem hervorrufen muß. Denn wieviel höher sich hier Goethe
zeigt als Werther, ist so einleuchtend, daß man nicht weiter darauf einzugehen
braucht. Doch mag es erlaubt sein, hervorzuheben, wie hier Charakterzüge
Goethes hervortreten, die man im allgemeinen weniger geneigt ist, !ihm gelten zu
lassen, obpol sie auch in anderen Lebensverhältnissen deutlich genug sich geltend-
machcn: neben der gleichmäßigen Kraft der Leidenschaft und des sie bändigenden
Verstandes eine tiefinnerliche nachhaltige Wärme des Gemüths, die sich nament¬
lich in seiner Anhänglichkeit an die Familie und in der herzlichen Freundschaft
der späteren Jahre ausspricht. Dieses Heimischsein in der Buffschen Familie,
das Bedürfniß, mit ihr fortzuleben, das Interesse auch für die kleinen Leiden
und Freuden der Mitglieder, das unbefangene Hingeben an die Kinder sind
ebenso schöne Züge eines echt deutschen Gemüths, als sein Bestreben, die Ge¬
liebte seiner Seele und ihre Lieben auch in seiner Familie geliebt und heimisch
zu machen. Je unbefangener und- flüchtiger die Andeutungen in den Briefchen
seiner Schwester Cornelie und einigen anderen Aeußerungen sind, um so ver¬
nehmlicher sprechen sie und legen zugleich das wahrste Zeugniß für die Reinheit
und Unschuld dieser Verhältnisse ab. Auch die späteren Briefe tragen diesen
durchaus wohlthuenden Charakter der Wahrheit und Natürlichkeit. Von der
Leidenschaftlichkeit des Jünglings ist natürlich nicht die Rede, aber auch keine
Spur von einem Bestreben, in der Einbildung etwas festzuhalten, das in der
Wirklichkeit verschwunden war oder gar durch Schein zu täuschen. Das gehört
wesentlich zu dem wunderbar Großen in Goethe, daß er stets die naturgemäße
Entwicklung des Menschen ausspricht, und so ist es hier die Freundschaft des
gereiften Mannes, die sich ebenso wahr und herzlich ausspricht, als die leiden¬
schaftliche Liebe des Jünglings.

Sonach darf man diese Briefe als einen Juwel dieser Literatur ansehen.
Ganz anders ist das freilich einem Gänsekiel vorgekommen, welchem ein Referat
über dieselben in dem Leipziger Repertorium (18si, W. S. 197) entflossen ist.
Er meint, es sei doch nur eine intime Familiencorrespondenz, in welcher eine
Menge von Dingen vorkommen, die nur die Mitglieder derselben interessiren
könnten und allenfalls die Goethomanen; für einen ehrsamen Referenten des
Nepertoriums aber sei es zum Verzweifeln, sich durch 138 Briefe hindurchzu¬
arbeiten, in denen zwar oft von Liebe, aber stets in einer ernsthaften, gesetzten,
durchaus nicht polizeiwidrigen Weise die Rede sei, einer Liebe, die sehr zahm
und geduldig, von einem höheren poetischen Schwunge nichts an sich habe und
s"se nur hergebrachtermaßen fortgesponnen zu werden scheine, bis die Lampe
aus Mangel an Oel erlösche. Nur einmal wird ihm die Geschichte interessant,
als es Aussicht auf Skandal gibt, und Kestner seine Unzufriedenheit über die
Veröffentlichung des Werther ausspricht, aber leider wird das Mißverständniß
schnell ausgeglichen. Dieser Mißvergügte hat aber auch ästhetische Ansichten. Er


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Goethes in jedem hervorrufen muß. Denn wieviel höher sich hier Goethe
zeigt als Werther, ist so einleuchtend, daß man nicht weiter darauf einzugehen
braucht. Doch mag es erlaubt sein, hervorzuheben, wie hier Charakterzüge
Goethes hervortreten, die man im allgemeinen weniger geneigt ist, !ihm gelten zu
lassen, obpol sie auch in anderen Lebensverhältnissen deutlich genug sich geltend-
machcn: neben der gleichmäßigen Kraft der Leidenschaft und des sie bändigenden
Verstandes eine tiefinnerliche nachhaltige Wärme des Gemüths, die sich nament¬
lich in seiner Anhänglichkeit an die Familie und in der herzlichen Freundschaft
der späteren Jahre ausspricht. Dieses Heimischsein in der Buffschen Familie,
das Bedürfniß, mit ihr fortzuleben, das Interesse auch für die kleinen Leiden
und Freuden der Mitglieder, das unbefangene Hingeben an die Kinder sind
ebenso schöne Züge eines echt deutschen Gemüths, als sein Bestreben, die Ge¬
liebte seiner Seele und ihre Lieben auch in seiner Familie geliebt und heimisch
zu machen. Je unbefangener und- flüchtiger die Andeutungen in den Briefchen
seiner Schwester Cornelie und einigen anderen Aeußerungen sind, um so ver¬
nehmlicher sprechen sie und legen zugleich das wahrste Zeugniß für die Reinheit
und Unschuld dieser Verhältnisse ab. Auch die späteren Briefe tragen diesen
durchaus wohlthuenden Charakter der Wahrheit und Natürlichkeit. Von der
Leidenschaftlichkeit des Jünglings ist natürlich nicht die Rede, aber auch keine
Spur von einem Bestreben, in der Einbildung etwas festzuhalten, das in der
Wirklichkeit verschwunden war oder gar durch Schein zu täuschen. Das gehört
wesentlich zu dem wunderbar Großen in Goethe, daß er stets die naturgemäße
Entwicklung des Menschen ausspricht, und so ist es hier die Freundschaft des
gereiften Mannes, die sich ebenso wahr und herzlich ausspricht, als die leiden¬
schaftliche Liebe des Jünglings.

Sonach darf man diese Briefe als einen Juwel dieser Literatur ansehen.
Ganz anders ist das freilich einem Gänsekiel vorgekommen, welchem ein Referat
über dieselben in dem Leipziger Repertorium (18si, W. S. 197) entflossen ist.
Er meint, es sei doch nur eine intime Familiencorrespondenz, in welcher eine
Menge von Dingen vorkommen, die nur die Mitglieder derselben interessiren
könnten und allenfalls die Goethomanen; für einen ehrsamen Referenten des
Nepertoriums aber sei es zum Verzweifeln, sich durch 138 Briefe hindurchzu¬
arbeiten, in denen zwar oft von Liebe, aber stets in einer ernsthaften, gesetzten,
durchaus nicht polizeiwidrigen Weise die Rede sei, einer Liebe, die sehr zahm
und geduldig, von einem höheren poetischen Schwunge nichts an sich habe und
s"se nur hergebrachtermaßen fortgesponnen zu werden scheine, bis die Lampe
aus Mangel an Oel erlösche. Nur einmal wird ihm die Geschichte interessant,
als es Aussicht auf Skandal gibt, und Kestner seine Unzufriedenheit über die
Veröffentlichung des Werther ausspricht, aber leider wird das Mißverständniß
schnell ausgeglichen. Dieser Mißvergügte hat aber auch ästhetische Ansichten. Er


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[0171] Goethes in jedem hervorrufen muß. Denn wieviel höher sich hier Goethe zeigt als Werther, ist so einleuchtend, daß man nicht weiter darauf einzugehen braucht. Doch mag es erlaubt sein, hervorzuheben, wie hier Charakterzüge Goethes hervortreten, die man im allgemeinen weniger geneigt ist, !ihm gelten zu lassen, obpol sie auch in anderen Lebensverhältnissen deutlich genug sich geltend- machcn: neben der gleichmäßigen Kraft der Leidenschaft und des sie bändigenden Verstandes eine tiefinnerliche nachhaltige Wärme des Gemüths, die sich nament¬ lich in seiner Anhänglichkeit an die Familie und in der herzlichen Freundschaft der späteren Jahre ausspricht. Dieses Heimischsein in der Buffschen Familie, das Bedürfniß, mit ihr fortzuleben, das Interesse auch für die kleinen Leiden und Freuden der Mitglieder, das unbefangene Hingeben an die Kinder sind ebenso schöne Züge eines echt deutschen Gemüths, als sein Bestreben, die Ge¬ liebte seiner Seele und ihre Lieben auch in seiner Familie geliebt und heimisch zu machen. Je unbefangener und- flüchtiger die Andeutungen in den Briefchen seiner Schwester Cornelie und einigen anderen Aeußerungen sind, um so ver¬ nehmlicher sprechen sie und legen zugleich das wahrste Zeugniß für die Reinheit und Unschuld dieser Verhältnisse ab. Auch die späteren Briefe tragen diesen durchaus wohlthuenden Charakter der Wahrheit und Natürlichkeit. Von der Leidenschaftlichkeit des Jünglings ist natürlich nicht die Rede, aber auch keine Spur von einem Bestreben, in der Einbildung etwas festzuhalten, das in der Wirklichkeit verschwunden war oder gar durch Schein zu täuschen. Das gehört wesentlich zu dem wunderbar Großen in Goethe, daß er stets die naturgemäße Entwicklung des Menschen ausspricht, und so ist es hier die Freundschaft des gereiften Mannes, die sich ebenso wahr und herzlich ausspricht, als die leiden¬ schaftliche Liebe des Jünglings. Sonach darf man diese Briefe als einen Juwel dieser Literatur ansehen. Ganz anders ist das freilich einem Gänsekiel vorgekommen, welchem ein Referat über dieselben in dem Leipziger Repertorium (18si, W. S. 197) entflossen ist. Er meint, es sei doch nur eine intime Familiencorrespondenz, in welcher eine Menge von Dingen vorkommen, die nur die Mitglieder derselben interessiren könnten und allenfalls die Goethomanen; für einen ehrsamen Referenten des Nepertoriums aber sei es zum Verzweifeln, sich durch 138 Briefe hindurchzu¬ arbeiten, in denen zwar oft von Liebe, aber stets in einer ernsthaften, gesetzten, durchaus nicht polizeiwidrigen Weise die Rede sei, einer Liebe, die sehr zahm und geduldig, von einem höheren poetischen Schwunge nichts an sich habe und s"se nur hergebrachtermaßen fortgesponnen zu werden scheine, bis die Lampe aus Mangel an Oel erlösche. Nur einmal wird ihm die Geschichte interessant, als es Aussicht auf Skandal gibt, und Kestner seine Unzufriedenheit über die Veröffentlichung des Werther ausspricht, aber leider wird das Mißverständniß schnell ausgeglichen. Dieser Mißvergügte hat aber auch ästhetische Ansichten. Er 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/171>, abgerufen am 23.07.2024.