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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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er selbst in der Vorrede zugesteht, daß die längere Beschäftigung mit seinem
Gegenstand ihm eine größere Anerkennung desselben eingeflößt hat, als es
unter andern Umständen geschehen wäre, der aber das Verdienst einer un¬
parteiischen Würdigung der Quellen nicht abgesprochen werden kann. Für
die ideelle Geschichte Deutschlands ist dieser verfrühte Versuch, den nördlichen
Theil unsres Vaterlandes zunächst in kirchlicher Beziehung selbstständig zu
machen, von großer Wichtigkeit, und die Energie der Idee mag an dem
Leichtsinn der Ansstihrung vieles entschuldigen. --

Mit großer Freude begrüßen wir die Negierungsgeschichte des Königs
Maximilian von Baiern. Der Verfasser, Sohn des berühmten Ministers,
an dessen Namen sich die verfassungsmäßige Entwicklung des Königreichs
knüpft, und selbst eine Zeitlang in den Rath seines Königs berufen, hat die
Ideen des Liberalismus, deren uns eine böswillige Sophistik gern entwöhnen
möchte, treu festgehalten und sie in concreter, geschichtlicher Lebendigkeit durch¬
drungen. Solche einfache, ungeschmückte, aber gesinnungstüchtige Darstellun¬
gen sind in unsrer Zeit von außerordentlicher Wichtigkeit. Man kann nicht
leugnen, daß das konstitutionelle Princip in der neuesten Geschichte viele sehr
empfindliche Niederlagen erlitten hat, und diese Niederlagen werden von den
Feinden der guten Sache, die ihre eigennützigen Absichten mit dem Anschein
höherer Weisheit überdecken, sehr geschickt ausgebeutet. Wenn man in frü¬
herer Zeit in den politischen Principien gar zu sehr generalistrte und der
Uniformität zu Liebe die endlichen Bedingungen der individuellen Entwicklung
zu sehr vernachlässigte,' so ist diese Neigung jetzt in das Gegentheil überge¬
schlagen. Man hat eingesehen, daß eine Staatsform,, die sich unter besondern
Umständen glücklich bewährt hat, darum noch nicht ohne weiteres auf jeden
beliebigen Inhalt angewendet werden kann, und'man hat diese Einsicht nach
der gewöhnlichen Neigung unsres Volkes zu Abstractionen dahin ausgedehnt,
daß man überhaupt jede Regel und Form als etwas Gleichgiltiges ansieht.
Allein der so sehr beliebte Vergleich der staatlichen Entwicklung mit dem Orga¬
nismus der Naturwelt sollte, wenn man ihn sorgfältig prüft, zu ganz ent¬
gegengesetzten Resultaten führen. Zwar wird der weise Arzt mit seinen Mit¬
teln ans vie individuelle Constitution seines Patienten Bedacht nehmen müssen,
und er wird nicht aus seinem Medicinbuch für jedes Leiden ein allgemeingil-
tigeö Medicament Heranssuchen; allein die Gesetze über die Natur der Krank¬
heit bleiben doch überall dieselben, und die Rücksicht auf die besondern Umstände
hebt die Beachtung c>er Regel nicht anf. So ist es auch mit dem politischen Leben.
Es wäre freilich sehr übereilt, wenn wir den Codex eines in der höchsten
politischen Ausbildung begriffenen Volks ohne Unterschied ans alle Völker an¬
wenden würden, auch auf solche, die eben erst in die Geschichte eintreten;
wenn wir z. V., weil in dem Lande der Erbweisheit eine erbliche Paine


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er selbst in der Vorrede zugesteht, daß die längere Beschäftigung mit seinem
Gegenstand ihm eine größere Anerkennung desselben eingeflößt hat, als es
unter andern Umständen geschehen wäre, der aber das Verdienst einer un¬
parteiischen Würdigung der Quellen nicht abgesprochen werden kann. Für
die ideelle Geschichte Deutschlands ist dieser verfrühte Versuch, den nördlichen
Theil unsres Vaterlandes zunächst in kirchlicher Beziehung selbstständig zu
machen, von großer Wichtigkeit, und die Energie der Idee mag an dem
Leichtsinn der Ansstihrung vieles entschuldigen. —

Mit großer Freude begrüßen wir die Negierungsgeschichte des Königs
Maximilian von Baiern. Der Verfasser, Sohn des berühmten Ministers,
an dessen Namen sich die verfassungsmäßige Entwicklung des Königreichs
knüpft, und selbst eine Zeitlang in den Rath seines Königs berufen, hat die
Ideen des Liberalismus, deren uns eine böswillige Sophistik gern entwöhnen
möchte, treu festgehalten und sie in concreter, geschichtlicher Lebendigkeit durch¬
drungen. Solche einfache, ungeschmückte, aber gesinnungstüchtige Darstellun¬
gen sind in unsrer Zeit von außerordentlicher Wichtigkeit. Man kann nicht
leugnen, daß das konstitutionelle Princip in der neuesten Geschichte viele sehr
empfindliche Niederlagen erlitten hat, und diese Niederlagen werden von den
Feinden der guten Sache, die ihre eigennützigen Absichten mit dem Anschein
höherer Weisheit überdecken, sehr geschickt ausgebeutet. Wenn man in frü¬
herer Zeit in den politischen Principien gar zu sehr generalistrte und der
Uniformität zu Liebe die endlichen Bedingungen der individuellen Entwicklung
zu sehr vernachlässigte,' so ist diese Neigung jetzt in das Gegentheil überge¬
schlagen. Man hat eingesehen, daß eine Staatsform,, die sich unter besondern
Umständen glücklich bewährt hat, darum noch nicht ohne weiteres auf jeden
beliebigen Inhalt angewendet werden kann, und'man hat diese Einsicht nach
der gewöhnlichen Neigung unsres Volkes zu Abstractionen dahin ausgedehnt,
daß man überhaupt jede Regel und Form als etwas Gleichgiltiges ansieht.
Allein der so sehr beliebte Vergleich der staatlichen Entwicklung mit dem Orga¬
nismus der Naturwelt sollte, wenn man ihn sorgfältig prüft, zu ganz ent¬
gegengesetzten Resultaten führen. Zwar wird der weise Arzt mit seinen Mit¬
teln ans vie individuelle Constitution seines Patienten Bedacht nehmen müssen,
und er wird nicht aus seinem Medicinbuch für jedes Leiden ein allgemeingil-
tigeö Medicament Heranssuchen; allein die Gesetze über die Natur der Krank¬
heit bleiben doch überall dieselben, und die Rücksicht auf die besondern Umstände
hebt die Beachtung c>er Regel nicht anf. So ist es auch mit dem politischen Leben.
Es wäre freilich sehr übereilt, wenn wir den Codex eines in der höchsten
politischen Ausbildung begriffenen Volks ohne Unterschied ans alle Völker an¬
wenden würden, auch auf solche, die eben erst in die Geschichte eintreten;
wenn wir z. V., weil in dem Lande der Erbweisheit eine erbliche Paine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/107>, abgerufen am 25.08.2024.