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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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und webte darin mit merkwürdiger Jugendfrische bis an sein Ende, lind doch
erfaßte er mit nicht geringerer Wärme die großartigsten Erscheinungen der Neu¬
zeit, namentlich Goethe und Shakespeare. An letzteren legte er selbst erklärend
und bessernd die philologische Hand; Goethe war von jeher das tägliche Brot
seines Denkens und Empfindens, und noch kurz vor seinem Tode vertheidigte
er in einer merkwürdigen, dem Res. nur handschriftlich bekannter Elegie (dem
Gegenstück zu der vom Verfasser S. 203 ff. mitgetheilte!,), die goetheschen
Wahlverwandtschaften als ein rührendes Bekenntniß eigner Schuld und Buße
in Betreff seiner Verschmähung des ehelichen Bandes. -- Nehmen wir zu
diesen Zügen andere: die religiös'ethische Auffassung aller Dinge, ohne auf
der einen Seite der Orthodoxie, auf der andern theoretischer Philosophie zu¬
gethan zu sein; eine gewisse Abneigung gegen das blos Historische; den. glühen¬
den Haß gegen alles Scheinwesen (daher auch die Gleichgiltigkeit gegen öffent¬
liche Eramina); den Widerwillen gegen das rein Mechanische (z. B. das Auf-
dutzen der Lehrmethode und die Dressur der Jugend auf Maturitätsprüfungen
hin); seinen herzerquickenden Zorn über das "junge Deutschland", im beredtesten
Latein hervorgesprudelt (S. 96 ff.); sein Freisein von dem bequemen Vor¬
urtheile, daß die Politik uicht in die Schule gehöre und infolge dessen seine
in der That großartige Entwicklung über den Kampf des Jahres i8 als den
der aufgeklärten Bildung gegen unsittlich gewordene (nicht absolut unsittliche)
Zustände in einer Schulrede (S. 9ez ff.); die rührende Theilnahme des Greises
für die "deutsche Flotte" und das "gemeinsame Vaterland;" sein instiuctives
Verfahren in der Diagnose menschlicher Socken; seine fromme Naturliebe,
jugendlich feurig bis an den Rand des Grabes -- von ihm, anbei gesagt,
rührt die Einrichtung des lübecker Catharineums als einer auch Nealclassen
umfassenden Dvppelanstalt her; -- seine Schüchternheit und Unbehaglichkeit in
aller größeren Gesellschaft -- so rücken alle diese Züge zusammen seine Gestalt
weit über den Horizont gewöhnlicher Schuldirectoren hinaus. Man möchte be¬
dauern, daß'ihm nicht wie seinem großen Freunde Lachmann ein akademischer Wir¬
kungskreis geworden ist, denn gewiß waren manche seiner philologischen und psycho¬
logischen Ideen selbst sür sei n e Prima zu gut, ja hätte Einfacheres und Derberes
für den Mittelschlag der Lernenden wol mehr genützt; wie denn auch das von
hoher Genialität dieser Art untrennbare Willkürlichfreie nur auf höchster Stufe
Pädagogisch gerechtfertigt ist. Alle Erkenntniß hat bei ihm den Charakter tief
innerlicher Offenbarung. Nicht daß sein Wissen nicht außerordentlich groß und
genau gewesen wäre -- die wenigen zur Veröffentlichung vollendeten Sachen über
lateinische Autoren, wie Tacitus, zeugen davon, und er war ein Meister der
Latinität, -- aber er war so schöpferisch, daß seine Subjectivitcit sich nie latent
verhielt, vielmehr alles, was er dachte und sagte, eigen färbte. Man möchte
ihn zu jeiun naiven Geisten rechnen, welche die Philosophie "nichts lehren


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und webte darin mit merkwürdiger Jugendfrische bis an sein Ende, lind doch
erfaßte er mit nicht geringerer Wärme die großartigsten Erscheinungen der Neu¬
zeit, namentlich Goethe und Shakespeare. An letzteren legte er selbst erklärend
und bessernd die philologische Hand; Goethe war von jeher das tägliche Brot
seines Denkens und Empfindens, und noch kurz vor seinem Tode vertheidigte
er in einer merkwürdigen, dem Res. nur handschriftlich bekannter Elegie (dem
Gegenstück zu der vom Verfasser S. 203 ff. mitgetheilte!,), die goetheschen
Wahlverwandtschaften als ein rührendes Bekenntniß eigner Schuld und Buße
in Betreff seiner Verschmähung des ehelichen Bandes. — Nehmen wir zu
diesen Zügen andere: die religiös'ethische Auffassung aller Dinge, ohne auf
der einen Seite der Orthodoxie, auf der andern theoretischer Philosophie zu¬
gethan zu sein; eine gewisse Abneigung gegen das blos Historische; den. glühen¬
den Haß gegen alles Scheinwesen (daher auch die Gleichgiltigkeit gegen öffent¬
liche Eramina); den Widerwillen gegen das rein Mechanische (z. B. das Auf-
dutzen der Lehrmethode und die Dressur der Jugend auf Maturitätsprüfungen
hin); seinen herzerquickenden Zorn über das „junge Deutschland", im beredtesten
Latein hervorgesprudelt (S. 96 ff.); sein Freisein von dem bequemen Vor¬
urtheile, daß die Politik uicht in die Schule gehöre und infolge dessen seine
in der That großartige Entwicklung über den Kampf des Jahres i8 als den
der aufgeklärten Bildung gegen unsittlich gewordene (nicht absolut unsittliche)
Zustände in einer Schulrede (S. 9ez ff.); die rührende Theilnahme des Greises
für die „deutsche Flotte" und das „gemeinsame Vaterland;" sein instiuctives
Verfahren in der Diagnose menschlicher Socken; seine fromme Naturliebe,
jugendlich feurig bis an den Rand des Grabes — von ihm, anbei gesagt,
rührt die Einrichtung des lübecker Catharineums als einer auch Nealclassen
umfassenden Dvppelanstalt her; — seine Schüchternheit und Unbehaglichkeit in
aller größeren Gesellschaft — so rücken alle diese Züge zusammen seine Gestalt
weit über den Horizont gewöhnlicher Schuldirectoren hinaus. Man möchte be¬
dauern, daß'ihm nicht wie seinem großen Freunde Lachmann ein akademischer Wir¬
kungskreis geworden ist, denn gewiß waren manche seiner philologischen und psycho¬
logischen Ideen selbst sür sei n e Prima zu gut, ja hätte Einfacheres und Derberes
für den Mittelschlag der Lernenden wol mehr genützt; wie denn auch das von
hoher Genialität dieser Art untrennbare Willkürlichfreie nur auf höchster Stufe
Pädagogisch gerechtfertigt ist. Alle Erkenntniß hat bei ihm den Charakter tief
innerlicher Offenbarung. Nicht daß sein Wissen nicht außerordentlich groß und
genau gewesen wäre — die wenigen zur Veröffentlichung vollendeten Sachen über
lateinische Autoren, wie Tacitus, zeugen davon, und er war ein Meister der
Latinität, — aber er war so schöpferisch, daß seine Subjectivitcit sich nie latent
verhielt, vielmehr alles, was er dachte und sagte, eigen färbte. Man möchte
ihn zu jeiun naiven Geisten rechnen, welche die Philosophie „nichts lehren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/459>, abgerufen am 25.08.2024.