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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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hineinreden und unter ihr das sich regende Schuldbewußtsein begraben wollen.
Viel naher steht unsrer Historiographie die Gefahr des Gegentheils, überall in
den Ereignissen einen tiefen innern Zusammenhang auffinden, das Verhältniß
von Ursache und Wirkung zwischen Begebenheiten entdecken zu wollen, die in
keiner Beziehung zueinander stehen. Es springt in die Augen, wie in diese
Betrachtungsweise die Erfahrungen der Jetztzeit hinüberspielen, wo allerdings
infolge der Presse und der unendlich verbesserten Communicationsmittel gesagt
werden kann, daß kein bedeutendes Ereignis) in irgendeinem, auch entlegenen
Theile der civilisirten Welt absolut ohne Wirkung bleibt; es wird jetzt sofort
mindestens ein Object für das Nachdenken aller Gebildeten, streut eine
Saat von Anschauungen aus, die nie ganz ohne Frucht bleibt. Anders war
es in der Vergangenheit, wo oft ganz analoge Erscheinungen unabhängig
nebeneinander erwuchsen, jede aus besondern Ursachen und wo die Eontinuität
der Entwicklung, inmitten der zahllosen Unterbrechungen, die durch widrige
Ereignisse herbeigeführt wurden, nicht so leicht festgehalten und wieder aufgenom¬
men werden konnte, weil ihr normaler Gang und ihr Ziel nicht in das Be¬
wußtsein der Massen gedrungen war. Es ist insonderheit in der Geschichte des
deutschen Mittelalters nach der Zeit der Hohenstaufen, wo die großen ma߬
gebenden Ideen absterben, in der chaotischen Auflösung ein wüstes Spiel terri¬
torialer Interessen und persönlicher Leidenschaften die Oberhand behält und der
Gedanke der Reform in vielfacher Gestalt sich regend und doch nie über den
Versuch der Verwirklichung hinausgelangend, fruchtlos gegen die Zersetzung
des Reiches ankämpft, -- es ist namentlich in dieser Zeit schwierig, die leiten¬
den Fäden zu erkennen, inneren Zusammenhang und planmäßiges Handeln
zu entdecken, wo der Calcül auch des verständigsten Zeitgenossen durch die
wachsende Verwirrung fortwährend gestört werden und auch die hervorragendste
Persönlichkeit, inmitten des Zusammensturzes eines solchen Reichs, mehr von
den Verhältnissen hin- und hergeschoben, als die Verhältnisse leitend erscheinen
muß. Der Phantasie ist hier ein großer Spielraum gewährt, aus den an¬
scheinend vieldeutigen Ereignissen sich ein künstliches Bild der Geschichte zu con-
struiren, ein künstliches historisches System durch Hervorhebung und kluge
Gruppirung willkürlich herausgegriffener Thatsachen zu stützen; aber die wahre
Historie verlangt cracker Nachweis der Behauptungen, sie will nicht die mög¬
lichen, sondern die wirklichen Motive wissen, sie verlangt namentlich da
authentische Gewißheit, wo sie über das Lebenöprincip, über die Bedeutung
und die Ausgabe eines Staates ein endgiltiges Urtheil aussprechen will.

Und grade in dieser schwierigsten Beziehung macht Droysens Werk einen
wahrhaft imponirenden Eindruck. Mit einer bewunderungswürdigen Sicherheit
und Genauigkeit stellt der Versasser lschon in den Anfängen des preußischen
Staats die eigentliche Bedeutung, die Aufgabe desselben, die fruchtbaren Ideen,


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hineinreden und unter ihr das sich regende Schuldbewußtsein begraben wollen.
Viel naher steht unsrer Historiographie die Gefahr des Gegentheils, überall in
den Ereignissen einen tiefen innern Zusammenhang auffinden, das Verhältniß
von Ursache und Wirkung zwischen Begebenheiten entdecken zu wollen, die in
keiner Beziehung zueinander stehen. Es springt in die Augen, wie in diese
Betrachtungsweise die Erfahrungen der Jetztzeit hinüberspielen, wo allerdings
infolge der Presse und der unendlich verbesserten Communicationsmittel gesagt
werden kann, daß kein bedeutendes Ereignis) in irgendeinem, auch entlegenen
Theile der civilisirten Welt absolut ohne Wirkung bleibt; es wird jetzt sofort
mindestens ein Object für das Nachdenken aller Gebildeten, streut eine
Saat von Anschauungen aus, die nie ganz ohne Frucht bleibt. Anders war
es in der Vergangenheit, wo oft ganz analoge Erscheinungen unabhängig
nebeneinander erwuchsen, jede aus besondern Ursachen und wo die Eontinuität
der Entwicklung, inmitten der zahllosen Unterbrechungen, die durch widrige
Ereignisse herbeigeführt wurden, nicht so leicht festgehalten und wieder aufgenom¬
men werden konnte, weil ihr normaler Gang und ihr Ziel nicht in das Be¬
wußtsein der Massen gedrungen war. Es ist insonderheit in der Geschichte des
deutschen Mittelalters nach der Zeit der Hohenstaufen, wo die großen ma߬
gebenden Ideen absterben, in der chaotischen Auflösung ein wüstes Spiel terri¬
torialer Interessen und persönlicher Leidenschaften die Oberhand behält und der
Gedanke der Reform in vielfacher Gestalt sich regend und doch nie über den
Versuch der Verwirklichung hinausgelangend, fruchtlos gegen die Zersetzung
des Reiches ankämpft, — es ist namentlich in dieser Zeit schwierig, die leiten¬
den Fäden zu erkennen, inneren Zusammenhang und planmäßiges Handeln
zu entdecken, wo der Calcül auch des verständigsten Zeitgenossen durch die
wachsende Verwirrung fortwährend gestört werden und auch die hervorragendste
Persönlichkeit, inmitten des Zusammensturzes eines solchen Reichs, mehr von
den Verhältnissen hin- und hergeschoben, als die Verhältnisse leitend erscheinen
muß. Der Phantasie ist hier ein großer Spielraum gewährt, aus den an¬
scheinend vieldeutigen Ereignissen sich ein künstliches Bild der Geschichte zu con-
struiren, ein künstliches historisches System durch Hervorhebung und kluge
Gruppirung willkürlich herausgegriffener Thatsachen zu stützen; aber die wahre
Historie verlangt cracker Nachweis der Behauptungen, sie will nicht die mög¬
lichen, sondern die wirklichen Motive wissen, sie verlangt namentlich da
authentische Gewißheit, wo sie über das Lebenöprincip, über die Bedeutung
und die Ausgabe eines Staates ein endgiltiges Urtheil aussprechen will.

Und grade in dieser schwierigsten Beziehung macht Droysens Werk einen
wahrhaft imponirenden Eindruck. Mit einer bewunderungswürdigen Sicherheit
und Genauigkeit stellt der Versasser lschon in den Anfängen des preußischen
Staats die eigentliche Bedeutung, die Aufgabe desselben, die fruchtbaren Ideen,


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[0411] hineinreden und unter ihr das sich regende Schuldbewußtsein begraben wollen. Viel naher steht unsrer Historiographie die Gefahr des Gegentheils, überall in den Ereignissen einen tiefen innern Zusammenhang auffinden, das Verhältniß von Ursache und Wirkung zwischen Begebenheiten entdecken zu wollen, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Es springt in die Augen, wie in diese Betrachtungsweise die Erfahrungen der Jetztzeit hinüberspielen, wo allerdings infolge der Presse und der unendlich verbesserten Communicationsmittel gesagt werden kann, daß kein bedeutendes Ereignis) in irgendeinem, auch entlegenen Theile der civilisirten Welt absolut ohne Wirkung bleibt; es wird jetzt sofort mindestens ein Object für das Nachdenken aller Gebildeten, streut eine Saat von Anschauungen aus, die nie ganz ohne Frucht bleibt. Anders war es in der Vergangenheit, wo oft ganz analoge Erscheinungen unabhängig nebeneinander erwuchsen, jede aus besondern Ursachen und wo die Eontinuität der Entwicklung, inmitten der zahllosen Unterbrechungen, die durch widrige Ereignisse herbeigeführt wurden, nicht so leicht festgehalten und wieder aufgenom¬ men werden konnte, weil ihr normaler Gang und ihr Ziel nicht in das Be¬ wußtsein der Massen gedrungen war. Es ist insonderheit in der Geschichte des deutschen Mittelalters nach der Zeit der Hohenstaufen, wo die großen ma߬ gebenden Ideen absterben, in der chaotischen Auflösung ein wüstes Spiel terri¬ torialer Interessen und persönlicher Leidenschaften die Oberhand behält und der Gedanke der Reform in vielfacher Gestalt sich regend und doch nie über den Versuch der Verwirklichung hinausgelangend, fruchtlos gegen die Zersetzung des Reiches ankämpft, — es ist namentlich in dieser Zeit schwierig, die leiten¬ den Fäden zu erkennen, inneren Zusammenhang und planmäßiges Handeln zu entdecken, wo der Calcül auch des verständigsten Zeitgenossen durch die wachsende Verwirrung fortwährend gestört werden und auch die hervorragendste Persönlichkeit, inmitten des Zusammensturzes eines solchen Reichs, mehr von den Verhältnissen hin- und hergeschoben, als die Verhältnisse leitend erscheinen muß. Der Phantasie ist hier ein großer Spielraum gewährt, aus den an¬ scheinend vieldeutigen Ereignissen sich ein künstliches Bild der Geschichte zu con- struiren, ein künstliches historisches System durch Hervorhebung und kluge Gruppirung willkürlich herausgegriffener Thatsachen zu stützen; aber die wahre Historie verlangt cracker Nachweis der Behauptungen, sie will nicht die mög¬ lichen, sondern die wirklichen Motive wissen, sie verlangt namentlich da authentische Gewißheit, wo sie über das Lebenöprincip, über die Bedeutung und die Ausgabe eines Staates ein endgiltiges Urtheil aussprechen will. Und grade in dieser schwierigsten Beziehung macht Droysens Werk einen wahrhaft imponirenden Eindruck. Mit einer bewunderungswürdigen Sicherheit und Genauigkeit stellt der Versasser lschon in den Anfängen des preußischen Staats die eigentliche Bedeutung, die Aufgabe desselben, die fruchtbaren Ideen, 51 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/411>, abgerufen am 15.01.2025.