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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Jesaias, des Paulus und Jesu, die ihm vorgelesen werden, aus den hei¬
teren Tiefen einer Seele kommen, die mit göttlichem Leben erfüllt war und daß
sie auch in die Tiefen andrer Seelen dringen sollen und in dieselben dringen
werden, wenn sie ebenfalls edel leben. Er kann sich einen Christen nennen
und es sich doch nie einfallen lassen, etwas zu thun, um seinen Neben¬
menschen zu trösten oder glücklich zu machen .... Seine Sonntagsgebete
aus den Psalmen und Evangelien sind schön; aber was hat sein Wochen¬
tagsleben mit seinem Gebet zu thun? Seine einzige aufrichtige Bitte ist die
um täglich Brot und selbst diese meint er nicht aufrichtig, denn in das wahre
Gebet sind alle Menschen eingeschlossen und er bittet blos für sich. .... Er
würde selbst einen schlechten Beruf in gefälliger Weise ausfüllen, indem er dann
und wann fromme Loblieder auf Gott fange, während er sein Ebenbild schändete,
indem er sich immer so nahe als möglich an den Mauern von Neujerusalem
zu halten suchte, so daß er, wenn die zerstörende Flut käme, zu einem Fenster
hineinkriechen könnte, um gestiefelt und gespornt über andre hinwegzureiten mit
seinem Sonntagsgesicht und die Bibel in der Hand, den Heiland schamroth
zu machen und der Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes Trotz zu bieten....
Die Hauptsünde des Pharisäers ist folgende: Er beobachtet die Form, mag
aus dem Inhalt werden, was da will. Er hält sich also an die Form, wenn der
Inhalt schon längst für immer dahin ist ... . Er hat nur einen einzigen
Pfeiler im Tempel Gottes gesehen und da er denkt, daß dies das Ganze sei,
verdammt er alle diejenigen, die Vergnügen an seinen schönen Säulengängen,
seinen vielen Wohnungen und um dem Allerheiligsten finden. So verdammte
die Fliege, welche nur eine Nadelkuppe am Se. Petersthurme gesehen hatte,
die Schwalbe, welche längs seines feierlichen Gewölbes dahingeflogen war und
die Wunder erzählte, welche sie geschaut hatte.....Der Pharisäer glaubt
an den Buchstaben, nicht an den Geist. Wer in seiner Gegenwart zweifelt,
daß das Buch der Chronik und der Könige nicht wohl inspirirt sein könne und
in den Punkten, wo sie einander gradezu widersprechen, nicht unfehlbar wahr
sind; wer daran zweifelt, daß der unendliche Gott David inspirirte, seine
Feinde zu verleumden, Petrus, den Ananias zu erschlagen, Paulus, Ereig¬
nisse vorherzusagen, die nicht eintraten und Matthäus, Lucas, Marcus und
Johannes historische Thatsachen zu erzählen, die sich nicht vereinigen lassen,
den klagt er als einen Ungläubigen an, wiewol er alle Gebote von Jugend
auf gehalten haben und so leben mag, wie Johannes und Paulus beteten,
daß sie leben möchten. Bei ihm besteht die unverzeihlichste Sünde darin, daß
jemand die Wahrheit der kirchlichen Lehre bezweifelt, gegen welche sich die
Vernunft empört und von der sich daS Gewissen und der Glaube mit Wider¬
willen abwenden. Ihm gelten die Juden mehr, als das ganze Menschen-


Grenzboten. IV. 5

Jesaias, des Paulus und Jesu, die ihm vorgelesen werden, aus den hei¬
teren Tiefen einer Seele kommen, die mit göttlichem Leben erfüllt war und daß
sie auch in die Tiefen andrer Seelen dringen sollen und in dieselben dringen
werden, wenn sie ebenfalls edel leben. Er kann sich einen Christen nennen
und es sich doch nie einfallen lassen, etwas zu thun, um seinen Neben¬
menschen zu trösten oder glücklich zu machen .... Seine Sonntagsgebete
aus den Psalmen und Evangelien sind schön; aber was hat sein Wochen¬
tagsleben mit seinem Gebet zu thun? Seine einzige aufrichtige Bitte ist die
um täglich Brot und selbst diese meint er nicht aufrichtig, denn in das wahre
Gebet sind alle Menschen eingeschlossen und er bittet blos für sich. .... Er
würde selbst einen schlechten Beruf in gefälliger Weise ausfüllen, indem er dann
und wann fromme Loblieder auf Gott fange, während er sein Ebenbild schändete,
indem er sich immer so nahe als möglich an den Mauern von Neujerusalem
zu halten suchte, so daß er, wenn die zerstörende Flut käme, zu einem Fenster
hineinkriechen könnte, um gestiefelt und gespornt über andre hinwegzureiten mit
seinem Sonntagsgesicht und die Bibel in der Hand, den Heiland schamroth
zu machen und der Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes Trotz zu bieten....
Die Hauptsünde des Pharisäers ist folgende: Er beobachtet die Form, mag
aus dem Inhalt werden, was da will. Er hält sich also an die Form, wenn der
Inhalt schon längst für immer dahin ist ... . Er hat nur einen einzigen
Pfeiler im Tempel Gottes gesehen und da er denkt, daß dies das Ganze sei,
verdammt er alle diejenigen, die Vergnügen an seinen schönen Säulengängen,
seinen vielen Wohnungen und um dem Allerheiligsten finden. So verdammte
die Fliege, welche nur eine Nadelkuppe am Se. Petersthurme gesehen hatte,
die Schwalbe, welche längs seines feierlichen Gewölbes dahingeflogen war und
die Wunder erzählte, welche sie geschaut hatte.....Der Pharisäer glaubt
an den Buchstaben, nicht an den Geist. Wer in seiner Gegenwart zweifelt,
daß das Buch der Chronik und der Könige nicht wohl inspirirt sein könne und
in den Punkten, wo sie einander gradezu widersprechen, nicht unfehlbar wahr
sind; wer daran zweifelt, daß der unendliche Gott David inspirirte, seine
Feinde zu verleumden, Petrus, den Ananias zu erschlagen, Paulus, Ereig¬
nisse vorherzusagen, die nicht eintraten und Matthäus, Lucas, Marcus und
Johannes historische Thatsachen zu erzählen, die sich nicht vereinigen lassen,
den klagt er als einen Ungläubigen an, wiewol er alle Gebote von Jugend
auf gehalten haben und so leben mag, wie Johannes und Paulus beteten,
daß sie leben möchten. Bei ihm besteht die unverzeihlichste Sünde darin, daß
jemand die Wahrheit der kirchlichen Lehre bezweifelt, gegen welche sich die
Vernunft empört und von der sich daS Gewissen und der Glaube mit Wider¬
willen abwenden. Ihm gelten die Juden mehr, als das ganze Menschen-


Grenzboten. IV. 5
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[0041] Jesaias, des Paulus und Jesu, die ihm vorgelesen werden, aus den hei¬ teren Tiefen einer Seele kommen, die mit göttlichem Leben erfüllt war und daß sie auch in die Tiefen andrer Seelen dringen sollen und in dieselben dringen werden, wenn sie ebenfalls edel leben. Er kann sich einen Christen nennen und es sich doch nie einfallen lassen, etwas zu thun, um seinen Neben¬ menschen zu trösten oder glücklich zu machen .... Seine Sonntagsgebete aus den Psalmen und Evangelien sind schön; aber was hat sein Wochen¬ tagsleben mit seinem Gebet zu thun? Seine einzige aufrichtige Bitte ist die um täglich Brot und selbst diese meint er nicht aufrichtig, denn in das wahre Gebet sind alle Menschen eingeschlossen und er bittet blos für sich. .... Er würde selbst einen schlechten Beruf in gefälliger Weise ausfüllen, indem er dann und wann fromme Loblieder auf Gott fange, während er sein Ebenbild schändete, indem er sich immer so nahe als möglich an den Mauern von Neujerusalem zu halten suchte, so daß er, wenn die zerstörende Flut käme, zu einem Fenster hineinkriechen könnte, um gestiefelt und gespornt über andre hinwegzureiten mit seinem Sonntagsgesicht und die Bibel in der Hand, den Heiland schamroth zu machen und der Gerechtigkeit des allmächtigen Gottes Trotz zu bieten.... Die Hauptsünde des Pharisäers ist folgende: Er beobachtet die Form, mag aus dem Inhalt werden, was da will. Er hält sich also an die Form, wenn der Inhalt schon längst für immer dahin ist ... . Er hat nur einen einzigen Pfeiler im Tempel Gottes gesehen und da er denkt, daß dies das Ganze sei, verdammt er alle diejenigen, die Vergnügen an seinen schönen Säulengängen, seinen vielen Wohnungen und um dem Allerheiligsten finden. So verdammte die Fliege, welche nur eine Nadelkuppe am Se. Petersthurme gesehen hatte, die Schwalbe, welche längs seines feierlichen Gewölbes dahingeflogen war und die Wunder erzählte, welche sie geschaut hatte.....Der Pharisäer glaubt an den Buchstaben, nicht an den Geist. Wer in seiner Gegenwart zweifelt, daß das Buch der Chronik und der Könige nicht wohl inspirirt sein könne und in den Punkten, wo sie einander gradezu widersprechen, nicht unfehlbar wahr sind; wer daran zweifelt, daß der unendliche Gott David inspirirte, seine Feinde zu verleumden, Petrus, den Ananias zu erschlagen, Paulus, Ereig¬ nisse vorherzusagen, die nicht eintraten und Matthäus, Lucas, Marcus und Johannes historische Thatsachen zu erzählen, die sich nicht vereinigen lassen, den klagt er als einen Ungläubigen an, wiewol er alle Gebote von Jugend auf gehalten haben und so leben mag, wie Johannes und Paulus beteten, daß sie leben möchten. Bei ihm besteht die unverzeihlichste Sünde darin, daß jemand die Wahrheit der kirchlichen Lehre bezweifelt, gegen welche sich die Vernunft empört und von der sich daS Gewissen und der Glaube mit Wider¬ willen abwenden. Ihm gelten die Juden mehr, als das ganze Menschen- Grenzboten. IV. 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/41>, abgerufen am 15.01.2025.