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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Vor Luther lehrte Reuchlin uno nach ihm wurde das Hebräische erst regelrecht
getrieben; vor Spenser und Fairfar'waren schon viele Kenner und Liebhaber
deS Italienischen und nach ihm blieb es ein stehendes Slccomplissement; vor
und mit Voß lehrte Heyne und nach und mit ihm F. A. Wolf und G. Her- -
manu; gleichzeitig mit den Gebr. Schlegel Will), v. Humboldt, mit und nach
Rückert und Platen Bopp und Pott und Diez; mit Uhland und Simrock die
Brüder Grimm und Lachmann; schon vor Lamartine und Nietor Hugo lehrte
Silvestre de Sacy und dann seine trefflichen Schüler. Gingen so immer Sprach¬
studium und Dichtkunst' Hand in Hand, eine Verbindung, die sich auch in
vielen Einzelnen, z. B. in Lessing, Voß, W. v. Humboldt aufs klarste
wiederspiegelt -- so war doch das Eigne und Merkwürdige unsrer neuern
Entwicklung, daß man nicht etwa mit dem Geschmacke wechselte und alte
Fäden fallen ließ, wenn man neue aufnahm, sondern daß man alle zusammen
'festhielt, was auf Seiten der Dichtkunst die bunteste Varietät der Stile, in
der Wissenschaft die vergleichende Sprachforschung, oder richtiger gesagt, die
historische in ihren verschiedenen Zweigen erzeugte, die großartigste Schöpfung
deö deutschen Geistes im 19. Jahrhundert. Man mag über jene Buntheit der
Stile noch so ungünstig urtheilen, jedenfalls ist auch sie ein starker Beweis
von der Lebensfähigkeit unsres Vaterlandes und nur ihre Menge, nicht aber
daß sie von Nachbildung ausgingen, zu tadeln, da doch auch sie, soweit sie
überhaupt was Rechtes sind, original sind; und wenn sie nicht in dem Maße
und Sinne original sind, wie Goethe und Schiller es waren, so kommt dies
nicht von ihrem Ausgehen von der Fremde, sondern vielmehr daher, daß ur¬
kräftige Geister immer und überall selten sind.

Wir unterscheiden nun drei Arten der Nachbildung. Wenn der fremde
Inhalt zwar ziemlich getreu, aber entweder ohne die Form der Dichtung oder
doch nicht in einer gleichen oder analogen wiedergegeben ist, so haben wir
eine heillose Uebersetzung. Wenn ein deutscher Inhalt in fremder, noch
nicht eingebürgerter Form dargestellt ist: die Originaldichtung in frem¬
dem Stil. Wenn endlich Form und Inhalt möglichst getreu und doch schön
und verständlich übertragen worden: die strenge oder stilhafte Ueber¬
setzung. Diese Arten spielen zwar bisweilen ineinander über, lassen sich aber
doch im Ganzen wol scheiden und jede hat ihre eignen Gesetze, ihre eigne
Bedeutung für die Leser oder Dichter, namentlich aber ihre eigne Unvollrom-
menheit. Die erste, scheint es, am wenigsten. Sie gibt die Form verloren,
aber den Inhalt wird sie desto klarer und vollständiger darstellen. Sie wählt
Prosa. Ja, kann man denn überhaupt übersetzen? Wie kein Wort das Wort,
wie noch viel weniger ein Satz den Satz, so deckt kein Bild das Bild, kein
Gefühl das Gefühl, kein Witz den Witz, ja kaum ein einziger Gedanke den Ge¬
danken vollkommen, sobald er dem angebornen sprachlichen Ausdruck entrissen


Vor Luther lehrte Reuchlin uno nach ihm wurde das Hebräische erst regelrecht
getrieben; vor Spenser und Fairfar'waren schon viele Kenner und Liebhaber
deS Italienischen und nach ihm blieb es ein stehendes Slccomplissement; vor
und mit Voß lehrte Heyne und nach und mit ihm F. A. Wolf und G. Her- -
manu; gleichzeitig mit den Gebr. Schlegel Will), v. Humboldt, mit und nach
Rückert und Platen Bopp und Pott und Diez; mit Uhland und Simrock die
Brüder Grimm und Lachmann; schon vor Lamartine und Nietor Hugo lehrte
Silvestre de Sacy und dann seine trefflichen Schüler. Gingen so immer Sprach¬
studium und Dichtkunst' Hand in Hand, eine Verbindung, die sich auch in
vielen Einzelnen, z. B. in Lessing, Voß, W. v. Humboldt aufs klarste
wiederspiegelt — so war doch das Eigne und Merkwürdige unsrer neuern
Entwicklung, daß man nicht etwa mit dem Geschmacke wechselte und alte
Fäden fallen ließ, wenn man neue aufnahm, sondern daß man alle zusammen
'festhielt, was auf Seiten der Dichtkunst die bunteste Varietät der Stile, in
der Wissenschaft die vergleichende Sprachforschung, oder richtiger gesagt, die
historische in ihren verschiedenen Zweigen erzeugte, die großartigste Schöpfung
deö deutschen Geistes im 19. Jahrhundert. Man mag über jene Buntheit der
Stile noch so ungünstig urtheilen, jedenfalls ist auch sie ein starker Beweis
von der Lebensfähigkeit unsres Vaterlandes und nur ihre Menge, nicht aber
daß sie von Nachbildung ausgingen, zu tadeln, da doch auch sie, soweit sie
überhaupt was Rechtes sind, original sind; und wenn sie nicht in dem Maße
und Sinne original sind, wie Goethe und Schiller es waren, so kommt dies
nicht von ihrem Ausgehen von der Fremde, sondern vielmehr daher, daß ur¬
kräftige Geister immer und überall selten sind.

Wir unterscheiden nun drei Arten der Nachbildung. Wenn der fremde
Inhalt zwar ziemlich getreu, aber entweder ohne die Form der Dichtung oder
doch nicht in einer gleichen oder analogen wiedergegeben ist, so haben wir
eine heillose Uebersetzung. Wenn ein deutscher Inhalt in fremder, noch
nicht eingebürgerter Form dargestellt ist: die Originaldichtung in frem¬
dem Stil. Wenn endlich Form und Inhalt möglichst getreu und doch schön
und verständlich übertragen worden: die strenge oder stilhafte Ueber¬
setzung. Diese Arten spielen zwar bisweilen ineinander über, lassen sich aber
doch im Ganzen wol scheiden und jede hat ihre eignen Gesetze, ihre eigne
Bedeutung für die Leser oder Dichter, namentlich aber ihre eigne Unvollrom-
menheit. Die erste, scheint es, am wenigsten. Sie gibt die Form verloren,
aber den Inhalt wird sie desto klarer und vollständiger darstellen. Sie wählt
Prosa. Ja, kann man denn überhaupt übersetzen? Wie kein Wort das Wort,
wie noch viel weniger ein Satz den Satz, so deckt kein Bild das Bild, kein
Gefühl das Gefühl, kein Witz den Witz, ja kaum ein einziger Gedanke den Ge¬
danken vollkommen, sobald er dem angebornen sprachlichen Ausdruck entrissen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/370>, abgerufen am 24.08.2024.