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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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in der Iphigenia, die Eglantine in der Eurycmthe, Fides, die Gräfin im
Wildschütz, die Brunhild in den Nibelungen, Marie in Adlers Horst, der Tan-
kred, die Lucrezia, Leonore in der Favoritin und der Romeo, also im Ganzen
zwölf Rollen. Trotz ihres ungünstigen Stimmumfangs ist Frl. Wagner, wie
man sieht, für große Bühnen von hoher Bedeutung, umsomehr als viele Opern
nur mit Hilfe einer Sängerin wie sie ausführbar sind. Schon dieser Umstand
bewirkt, daß wir manche ihrer Mängel gern ertragen; doch noch weit mehr
sind es ihre innern Vorzüge, die uns vieles vergessen lassen und in wahrhaft
künstlerische Begeisterung zu setzen vermögen. Johanna Wagner besitzt die
Gabe deö großen majestätischen Bortrags, wie es schon die Natur ihres Organs
mit sich bringt; sie weiß sich wol zu leidenschaftlicher Wallung zu erheben, aber
die eindringenden, bohrenden, nicht ablassenden Töne äußerster Empfindung,
die mehr in der Energie des Ansatzes, als in der Tonmasse und in der un¬
ruhiger werdenden Verbindung der Töne bestehen, besaß die Schröder-Devrient
in noch höherem Maße. Als sie vor zwei Jahren in berliner Concerten zum
letzten Mal auftrat, war die glänzendste ihrer Leistungen das Schubertsche Lied
"dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen;" wir hörten eS kurz darauf von
Joh. Wagner, und es erschien wirkungslos, kalt, matt, weil dem Ton und
Vortrag jene intensive, geistige Kraft fehlte, die uns so ergriffen hatte. Steht
sie ihrem berühmten Vorbilde hierin nach, so überragt sie dasselbe zuvörderst
in der mächtigen Fülle des Organs, die in allen Leistungen den Eindruck einer
großen Naturkraft macht, die schon durch ihren Inhalt, ohne Anstrengung
irgendwelcher Art, jedem Kampf gewachsen scheint. Darum sagen ihr solche
Rollen, wie Klytämnestra, Statira vorzüglich zu; ihre ganze Erscheinung
hat etwas Königliches. Aber sie besitzt -- in ihren guten Tönen wenig¬
stens, etwa in dem Umfang einer Octave -- auch Süßigkeit und Lieb¬
lichkeit der Stimme; wenn Gluck in. seinem Orpheus allen Wohllaut italieni¬
schen Gesangs entfalten wollte, so ist hier eine Sängerin, die die Kunst des¬
selben besser kennt und übt, als die Schröder-Devrient eS vermochte; und so
gelang es ihr, für ein Werk, das in seinen meisten Theilen wirklich veraltet
ist, das Publicum aufs neue zu fesseln; der Orpheus erlebte in diesem Winter
sechs Vorstellungen. Dies führt uns auf den letzten und wichtigsten Unter¬
schied. Johanna Wagner besitzt mehr Weiblichkeit; ihr Gemüthsleben bewegt
sich in engern Grenzen, hat aber in kleineren Verhältnissen die hingebende
Innigkeit, die an der weiblichen Natur so anziehend ist. Um aber diese Eigen¬
thümlichkeit unsrer Künstlerin in ihrer ganzen Schärfe zu erkennen, muß man
sie nicht blos in einer Oper heitern Genres sehen, z. B. Wildschütz oder in
Adlers Horst, sondern Lieder von ihr hören, z. B. Kinderlieder von Taubert,
die sie mit besonderer Vorliebe und zwar ganz vorzüglich singt, so einfach,
innig, geschmackvoll und theilweise humoristisch, daß man die Darstellerin der


in der Iphigenia, die Eglantine in der Eurycmthe, Fides, die Gräfin im
Wildschütz, die Brunhild in den Nibelungen, Marie in Adlers Horst, der Tan-
kred, die Lucrezia, Leonore in der Favoritin und der Romeo, also im Ganzen
zwölf Rollen. Trotz ihres ungünstigen Stimmumfangs ist Frl. Wagner, wie
man sieht, für große Bühnen von hoher Bedeutung, umsomehr als viele Opern
nur mit Hilfe einer Sängerin wie sie ausführbar sind. Schon dieser Umstand
bewirkt, daß wir manche ihrer Mängel gern ertragen; doch noch weit mehr
sind es ihre innern Vorzüge, die uns vieles vergessen lassen und in wahrhaft
künstlerische Begeisterung zu setzen vermögen. Johanna Wagner besitzt die
Gabe deö großen majestätischen Bortrags, wie es schon die Natur ihres Organs
mit sich bringt; sie weiß sich wol zu leidenschaftlicher Wallung zu erheben, aber
die eindringenden, bohrenden, nicht ablassenden Töne äußerster Empfindung,
die mehr in der Energie des Ansatzes, als in der Tonmasse und in der un¬
ruhiger werdenden Verbindung der Töne bestehen, besaß die Schröder-Devrient
in noch höherem Maße. Als sie vor zwei Jahren in berliner Concerten zum
letzten Mal auftrat, war die glänzendste ihrer Leistungen das Schubertsche Lied
„dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen;" wir hörten eS kurz darauf von
Joh. Wagner, und es erschien wirkungslos, kalt, matt, weil dem Ton und
Vortrag jene intensive, geistige Kraft fehlte, die uns so ergriffen hatte. Steht
sie ihrem berühmten Vorbilde hierin nach, so überragt sie dasselbe zuvörderst
in der mächtigen Fülle des Organs, die in allen Leistungen den Eindruck einer
großen Naturkraft macht, die schon durch ihren Inhalt, ohne Anstrengung
irgendwelcher Art, jedem Kampf gewachsen scheint. Darum sagen ihr solche
Rollen, wie Klytämnestra, Statira vorzüglich zu; ihre ganze Erscheinung
hat etwas Königliches. Aber sie besitzt — in ihren guten Tönen wenig¬
stens, etwa in dem Umfang einer Octave — auch Süßigkeit und Lieb¬
lichkeit der Stimme; wenn Gluck in. seinem Orpheus allen Wohllaut italieni¬
schen Gesangs entfalten wollte, so ist hier eine Sängerin, die die Kunst des¬
selben besser kennt und übt, als die Schröder-Devrient eS vermochte; und so
gelang es ihr, für ein Werk, das in seinen meisten Theilen wirklich veraltet
ist, das Publicum aufs neue zu fesseln; der Orpheus erlebte in diesem Winter
sechs Vorstellungen. Dies führt uns auf den letzten und wichtigsten Unter¬
schied. Johanna Wagner besitzt mehr Weiblichkeit; ihr Gemüthsleben bewegt
sich in engern Grenzen, hat aber in kleineren Verhältnissen die hingebende
Innigkeit, die an der weiblichen Natur so anziehend ist. Um aber diese Eigen¬
thümlichkeit unsrer Künstlerin in ihrer ganzen Schärfe zu erkennen, muß man
sie nicht blos in einer Oper heitern Genres sehen, z. B. Wildschütz oder in
Adlers Horst, sondern Lieder von ihr hören, z. B. Kinderlieder von Taubert,
die sie mit besonderer Vorliebe und zwar ganz vorzüglich singt, so einfach,
innig, geschmackvoll und theilweise humoristisch, daß man die Darstellerin der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/30>, abgerufen am 24.08.2024.