Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

genauere Kenntniß des^ intimen Charakters des großen Kaisers, denn sie sind
aus den vertraulichen Ergießungen desselben gegen den Grafen Narbonne,
der oft, ohne es zu wollen, der Vertraute der Verlegenheiten oder der titanen¬
haften Pläne des Kaisers wurde, geschöpft. Narbonne, vom vornehmsten fran¬
zösischen Adel und vor der Revolution als Ehrencavalir bei den Prinzessinnen
Ludwigs XV. angestellt, schloß sich bei dem Ausbruch der Revolution der frei¬
sinnigen Partei des Adels an, wurde später Günstling des Kaisers und einer
seiner Adjutanten. Als solcher war er von da ab der beständige Gefährte
Napoleons, manchmal sein Rathgeber, immer sein Vertrauter und treue-
ster lFreund. Ihm war eS vergönnt, tiesej Blicke in diesen Riesengeist zu
thun, der in allen andern Angelegenheiten maßvoll und voller Staatsweisheit,
sich von der Leidenschaft für den Krieg ergriffen zu den abenteuerlichsten Plänen
hinreißen läßt und im Rausche des Sieg/es und Glückes vergißt, daß in der
Natur der Verhältnisse und in den Eigenheiten der verschiedenen Nationalitäten
selbst das größte Genie unübersteigliche Schranken für seine Wirksamkeit findet.
Bei diesem General Narbonne war Villemain Pn'vatsecretär und wurde von
ihm oft unwillkürlich zum Vertrauten seiner geheimsten Gedanken gemacht
wenn derselbe, noch ganz erschüttert von dem Eindrucke, welchen die gigantischen
Pläne seines Herrn auf ihn gemacht halten, von einer Audienz bei dem Kaiser
zurückkehrte. So geschah es kurz vor dem Feldzug nach Rußland, wo der Ad¬
jutant einmal plötzlich nach Se. Cloud berufen worden war. Villemain war
im Wagen sitzen geblieben, und hatte sich die Zeit mit der Lectüre von Cha-
teaubriands Jtineraire vertrieben, als Narbonne wieder einstieg und dem
Kutscher befahl, so rasch als möglich zurück nach Paris zum Herzog von Bas-
sano zu fahren. Dann drückte er die Hände an die Stirn und murmelte, als
ob er jetzt erst aus einer Art Traum erwachte und zu einer klaren Würdigung
von dem was er gehört käme, vor sich hin: "Welch ein Mann! großer Gott!
welche Ideen! welche Träume! wer soll dieses Genie im Zaume halten? es
ist nicht zu glaube"! das Irrenhaus oder das Pantheon?" Einige Augenblicke
darauf wendete er sich gegen seinen Begleitet und nahm mit zerstreuter Miene
das Buch, in welches letzterer vertieft gewesen. Er las laut den Titel "kein6-
r-in-e as ?aris u ^rusalLm xassanl pur t-r Lrece," und setzte dann hinzu:
"Wie glücklich sind Sie, junger Mann, das Sie sich so beschäftigen können;
Amel-irre cle ?alis ^ Jerusalem; für wahr! der Weg ist freilich lang, aber
wir haben noch mehr vor als das -- wa toi! einen ganz andern Weg zu
studiren! -- Eine ganz andere Art bewaffneter Pilgerfahrt zu unternehmen,
um nach Moskau zu gelangen und das Kreuz des großen Iwan zu erblicken!
Es handelt sich dies Mal nicht darum, den Bart eines friedlich alten Türken zu
verbrennen, der zu seiner Erholung spazieren reitet oder in den Ruinen Spartas
dreimal laut zu rufen "Leonidas!", der natürlich gegen den Ruf taub genug


Grenzboten. IV. 18so. 30

genauere Kenntniß des^ intimen Charakters des großen Kaisers, denn sie sind
aus den vertraulichen Ergießungen desselben gegen den Grafen Narbonne,
der oft, ohne es zu wollen, der Vertraute der Verlegenheiten oder der titanen¬
haften Pläne des Kaisers wurde, geschöpft. Narbonne, vom vornehmsten fran¬
zösischen Adel und vor der Revolution als Ehrencavalir bei den Prinzessinnen
Ludwigs XV. angestellt, schloß sich bei dem Ausbruch der Revolution der frei¬
sinnigen Partei des Adels an, wurde später Günstling des Kaisers und einer
seiner Adjutanten. Als solcher war er von da ab der beständige Gefährte
Napoleons, manchmal sein Rathgeber, immer sein Vertrauter und treue-
ster lFreund. Ihm war eS vergönnt, tiesej Blicke in diesen Riesengeist zu
thun, der in allen andern Angelegenheiten maßvoll und voller Staatsweisheit,
sich von der Leidenschaft für den Krieg ergriffen zu den abenteuerlichsten Plänen
hinreißen läßt und im Rausche des Sieg/es und Glückes vergißt, daß in der
Natur der Verhältnisse und in den Eigenheiten der verschiedenen Nationalitäten
selbst das größte Genie unübersteigliche Schranken für seine Wirksamkeit findet.
Bei diesem General Narbonne war Villemain Pn'vatsecretär und wurde von
ihm oft unwillkürlich zum Vertrauten seiner geheimsten Gedanken gemacht
wenn derselbe, noch ganz erschüttert von dem Eindrucke, welchen die gigantischen
Pläne seines Herrn auf ihn gemacht halten, von einer Audienz bei dem Kaiser
zurückkehrte. So geschah es kurz vor dem Feldzug nach Rußland, wo der Ad¬
jutant einmal plötzlich nach Se. Cloud berufen worden war. Villemain war
im Wagen sitzen geblieben, und hatte sich die Zeit mit der Lectüre von Cha-
teaubriands Jtineraire vertrieben, als Narbonne wieder einstieg und dem
Kutscher befahl, so rasch als möglich zurück nach Paris zum Herzog von Bas-
sano zu fahren. Dann drückte er die Hände an die Stirn und murmelte, als
ob er jetzt erst aus einer Art Traum erwachte und zu einer klaren Würdigung
von dem was er gehört käme, vor sich hin: „Welch ein Mann! großer Gott!
welche Ideen! welche Träume! wer soll dieses Genie im Zaume halten? es
ist nicht zu glaube»! das Irrenhaus oder das Pantheon?" Einige Augenblicke
darauf wendete er sich gegen seinen Begleitet und nahm mit zerstreuter Miene
das Buch, in welches letzterer vertieft gewesen. Er las laut den Titel „kein6-
r-in-e as ?aris u ^rusalLm xassanl pur t-r Lrece," und setzte dann hinzu:
„Wie glücklich sind Sie, junger Mann, das Sie sich so beschäftigen können;
Amel-irre cle ?alis ^ Jerusalem; für wahr! der Weg ist freilich lang, aber
wir haben noch mehr vor als das — wa toi! einen ganz andern Weg zu
studiren! — Eine ganz andere Art bewaffneter Pilgerfahrt zu unternehmen,
um nach Moskau zu gelangen und das Kreuz des großen Iwan zu erblicken!
Es handelt sich dies Mal nicht darum, den Bart eines friedlich alten Türken zu
verbrennen, der zu seiner Erholung spazieren reitet oder in den Ruinen Spartas
dreimal laut zu rufen „Leonidas!", der natürlich gegen den Ruf taub genug


Grenzboten. IV. 18so. 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100695"/>
          <p xml:id="ID_683" prev="#ID_682" next="#ID_684"> genauere Kenntniß des^ intimen Charakters des großen Kaisers, denn sie sind<lb/>
aus den vertraulichen Ergießungen desselben gegen den Grafen Narbonne,<lb/>
der oft, ohne es zu wollen, der Vertraute der Verlegenheiten oder der titanen¬<lb/>
haften Pläne des Kaisers wurde, geschöpft.  Narbonne, vom vornehmsten fran¬<lb/>
zösischen Adel und vor der Revolution als Ehrencavalir bei den Prinzessinnen<lb/>
Ludwigs XV. angestellt, schloß sich bei dem Ausbruch der Revolution der frei¬<lb/>
sinnigen Partei des Adels an, wurde später Günstling des Kaisers und einer<lb/>
seiner Adjutanten.  Als solcher war er von da ab der beständige Gefährte<lb/>
Napoleons, manchmal sein Rathgeber, immer sein Vertrauter und treue-<lb/>
ster lFreund.  Ihm war eS vergönnt, tiesej Blicke in diesen Riesengeist zu<lb/>
thun, der in allen andern Angelegenheiten maßvoll und voller Staatsweisheit,<lb/>
sich von der Leidenschaft für den Krieg ergriffen zu den abenteuerlichsten Plänen<lb/>
hinreißen läßt und im Rausche des Sieg/es und Glückes vergißt, daß in der<lb/>
Natur der Verhältnisse und in den Eigenheiten der verschiedenen Nationalitäten<lb/>
selbst das größte Genie unübersteigliche Schranken für seine Wirksamkeit findet.<lb/>
Bei diesem General Narbonne war Villemain Pn'vatsecretär und wurde von<lb/>
ihm oft unwillkürlich zum Vertrauten seiner geheimsten Gedanken gemacht<lb/>
wenn derselbe, noch ganz erschüttert von dem Eindrucke, welchen die gigantischen<lb/>
Pläne seines Herrn auf ihn gemacht halten, von einer Audienz bei dem Kaiser<lb/>
zurückkehrte.  So geschah es kurz vor dem Feldzug nach Rußland, wo der Ad¬<lb/>
jutant einmal plötzlich nach Se. Cloud berufen worden war.  Villemain war<lb/>
im Wagen sitzen geblieben, und hatte sich die Zeit mit der Lectüre von Cha-<lb/>
teaubriands Jtineraire vertrieben, als Narbonne wieder einstieg und dem<lb/>
Kutscher befahl, so rasch als möglich zurück nach Paris zum Herzog von Bas-<lb/>
sano zu fahren.  Dann drückte er die Hände an die Stirn und murmelte, als<lb/>
ob er jetzt erst aus einer Art Traum erwachte und zu einer klaren Würdigung<lb/>
von dem was er gehört käme, vor sich hin: &#x201E;Welch ein Mann! großer Gott!<lb/>
welche Ideen! welche Träume! wer soll dieses Genie im Zaume halten? es<lb/>
ist nicht zu glaube»! das Irrenhaus oder das Pantheon?" Einige Augenblicke<lb/>
darauf wendete er sich gegen seinen Begleitet und nahm mit zerstreuter Miene<lb/>
das Buch, in welches letzterer vertieft gewesen.  Er las laut den Titel &#x201E;kein6-<lb/>
r-in-e as ?aris u ^rusalLm xassanl pur t-r Lrece," und setzte dann hinzu:<lb/>
&#x201E;Wie glücklich sind Sie, junger Mann, das Sie sich so beschäftigen können;<lb/>
Amel-irre cle ?alis ^ Jerusalem; für wahr! der Weg ist freilich lang, aber<lb/>
wir haben noch mehr vor als das &#x2014; wa toi! einen ganz andern Weg zu<lb/>
studiren! &#x2014; Eine ganz andere Art bewaffneter Pilgerfahrt zu unternehmen,<lb/>
um nach Moskau zu gelangen und das Kreuz des großen Iwan zu erblicken!<lb/>
Es handelt sich dies Mal nicht darum, den Bart eines friedlich alten Türken zu<lb/>
verbrennen, der zu seiner Erholung spazieren reitet oder in den Ruinen Spartas<lb/>
dreimal laut zu rufen &#x201E;Leonidas!", der natürlich gegen den Ruf taub genug</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. IV. 18so. 30</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] genauere Kenntniß des^ intimen Charakters des großen Kaisers, denn sie sind aus den vertraulichen Ergießungen desselben gegen den Grafen Narbonne, der oft, ohne es zu wollen, der Vertraute der Verlegenheiten oder der titanen¬ haften Pläne des Kaisers wurde, geschöpft. Narbonne, vom vornehmsten fran¬ zösischen Adel und vor der Revolution als Ehrencavalir bei den Prinzessinnen Ludwigs XV. angestellt, schloß sich bei dem Ausbruch der Revolution der frei¬ sinnigen Partei des Adels an, wurde später Günstling des Kaisers und einer seiner Adjutanten. Als solcher war er von da ab der beständige Gefährte Napoleons, manchmal sein Rathgeber, immer sein Vertrauter und treue- ster lFreund. Ihm war eS vergönnt, tiesej Blicke in diesen Riesengeist zu thun, der in allen andern Angelegenheiten maßvoll und voller Staatsweisheit, sich von der Leidenschaft für den Krieg ergriffen zu den abenteuerlichsten Plänen hinreißen läßt und im Rausche des Sieg/es und Glückes vergißt, daß in der Natur der Verhältnisse und in den Eigenheiten der verschiedenen Nationalitäten selbst das größte Genie unübersteigliche Schranken für seine Wirksamkeit findet. Bei diesem General Narbonne war Villemain Pn'vatsecretär und wurde von ihm oft unwillkürlich zum Vertrauten seiner geheimsten Gedanken gemacht wenn derselbe, noch ganz erschüttert von dem Eindrucke, welchen die gigantischen Pläne seines Herrn auf ihn gemacht halten, von einer Audienz bei dem Kaiser zurückkehrte. So geschah es kurz vor dem Feldzug nach Rußland, wo der Ad¬ jutant einmal plötzlich nach Se. Cloud berufen worden war. Villemain war im Wagen sitzen geblieben, und hatte sich die Zeit mit der Lectüre von Cha- teaubriands Jtineraire vertrieben, als Narbonne wieder einstieg und dem Kutscher befahl, so rasch als möglich zurück nach Paris zum Herzog von Bas- sano zu fahren. Dann drückte er die Hände an die Stirn und murmelte, als ob er jetzt erst aus einer Art Traum erwachte und zu einer klaren Würdigung von dem was er gehört käme, vor sich hin: „Welch ein Mann! großer Gott! welche Ideen! welche Träume! wer soll dieses Genie im Zaume halten? es ist nicht zu glaube»! das Irrenhaus oder das Pantheon?" Einige Augenblicke darauf wendete er sich gegen seinen Begleitet und nahm mit zerstreuter Miene das Buch, in welches letzterer vertieft gewesen. Er las laut den Titel „kein6- r-in-e as ?aris u ^rusalLm xassanl pur t-r Lrece," und setzte dann hinzu: „Wie glücklich sind Sie, junger Mann, das Sie sich so beschäftigen können; Amel-irre cle ?alis ^ Jerusalem; für wahr! der Weg ist freilich lang, aber wir haben noch mehr vor als das — wa toi! einen ganz andern Weg zu studiren! — Eine ganz andere Art bewaffneter Pilgerfahrt zu unternehmen, um nach Moskau zu gelangen und das Kreuz des großen Iwan zu erblicken! Es handelt sich dies Mal nicht darum, den Bart eines friedlich alten Türken zu verbrennen, der zu seiner Erholung spazieren reitet oder in den Ruinen Spartas dreimal laut zu rufen „Leonidas!", der natürlich gegen den Ruf taub genug Grenzboten. IV. 18so. 30

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/241>, abgerufen am 24.08.2024.