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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Verbeugung zu machen und das verschaffte ihm das Vergnüge" jeder von
diesen schönen Bürgerinnen einen Kuß zu geben, Müttern und Töchtern."

Dies fade und abgeschmackte Treiben hörte allmälig um das Ende des
vorigen Jahrhunderts auf. Noch bevor das Fieber der französischen Revolution
die Völker Europas ergriff, änderten sich die Formen des gesellschaftlichen Ver¬
kehrs und. noch mehr der Sinn der Menschen. Wol war das bürgerliche
Leben noch zum Erschrecken nüchtern, steif, philiströs, aber eine stille Sehnsucht
nach größrer Freiheit, das Bedürfniß nach neuen Gedanken und tiefrer ge¬
müthlicher Anregung war allgemein geworden. Sogar die umherziehenden
Kavaliere und Abenteurer konnten nicht mehr mit der alten Frivolität die
Unwissenheit und Leichtgläubigkeit ihrer Zeitgenossen ausbeuten, sie mußten
größre Ansprüche erfüllen und als Freimaurer, Wunderthäter, Mitglieder my¬
stischer Gesellschaften in die Geldbeutel anderer zu greifen suchen. Und so
werde denn am Schluß aus dem am Anfang erwähnten Buch das Badeleben
kurz charakterisirt, wie eS am Ende des vorigen Jahrhunderts war.

Badeleben am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Magistratsper¬
sonen standen bei der Bürgerschaft in einer hohen Achtung und suchten dieselbe
auch durch ein sehr abgemessenes Betragen zu unterhalten. Bei solcher Anhäng¬
lichkeit an daS Formenwesen war es in jener Zeit eine Haupt- und Staats¬
action, mit gehörigem Anstand nach Baden zu fahren. Man machte zuvor
bei Verwandten und Bekannten Abschiedsbesuche, als wäre es um eine weite
Reise zu thun. Die vornehmen Leute von Zürich bestellten so früh als
möglich ihre Absteigquartiere im Hinterhof, um sich nicht mit der gemeinern
Bürgerclasse zu vermischen, welche damals im Stadthof einkehrte. Der begü¬
terte Handwerker, den man daselbst antraf, ward noch mit dem Titel "Meister"
und in der zweiten Person der Mehrheit begrüßt, und die patrizischen Fami¬
lien hielten sich ausschließend aneinander. Gleich nach der Ankunft stattete
Man sich Ceremonienbesuche ab, verbeugte sich tief und ehrerbietig voreinander
und beobachtete streng die übliche Etikette. Es ward mehr gravitätisch einher¬
geschritten, als leicht gegangen, und die freiere Bewegung junger Leute als
Abweichung von der Regel betrachtet. Man zeigte sich auch in Baden immer
bestmöglich standesmöglich gekleidet und selbst das Negligv war ausgesucht und
kündigte die Wichtigkeit der Person an. Die Herren erschienen des Morgens
'n Schlafröcken von Wollendamast, aus deren weiten Aermeln die Manschetten
von feinem Battist aus die Hände hervorguckten, und die Badehren (Bad-
Mcintel) beider Geschlechter waren mit Spitzen besetzt und wurden, nach dem
Bade, um zu trocknen, auf den Stangen vor den Zimmerfenstern hoffärtig
iur Schau ausgebreitet. In Zürch hemmten, klug für jene Zeit berechnete,
aber oft bis zur Uebertreibung gesteigerte Sittengesetze die Fortschritte des Auf¬
wandes. Die Stoffe waren genau vorgeschrieben, in welche beiden Geschlech-


Verbeugung zu machen und das verschaffte ihm das Vergnüge» jeder von
diesen schönen Bürgerinnen einen Kuß zu geben, Müttern und Töchtern."

Dies fade und abgeschmackte Treiben hörte allmälig um das Ende des
vorigen Jahrhunderts auf. Noch bevor das Fieber der französischen Revolution
die Völker Europas ergriff, änderten sich die Formen des gesellschaftlichen Ver¬
kehrs und. noch mehr der Sinn der Menschen. Wol war das bürgerliche
Leben noch zum Erschrecken nüchtern, steif, philiströs, aber eine stille Sehnsucht
nach größrer Freiheit, das Bedürfniß nach neuen Gedanken und tiefrer ge¬
müthlicher Anregung war allgemein geworden. Sogar die umherziehenden
Kavaliere und Abenteurer konnten nicht mehr mit der alten Frivolität die
Unwissenheit und Leichtgläubigkeit ihrer Zeitgenossen ausbeuten, sie mußten
größre Ansprüche erfüllen und als Freimaurer, Wunderthäter, Mitglieder my¬
stischer Gesellschaften in die Geldbeutel anderer zu greifen suchen. Und so
werde denn am Schluß aus dem am Anfang erwähnten Buch das Badeleben
kurz charakterisirt, wie eS am Ende des vorigen Jahrhunderts war.

Badeleben am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Magistratsper¬
sonen standen bei der Bürgerschaft in einer hohen Achtung und suchten dieselbe
auch durch ein sehr abgemessenes Betragen zu unterhalten. Bei solcher Anhäng¬
lichkeit an daS Formenwesen war es in jener Zeit eine Haupt- und Staats¬
action, mit gehörigem Anstand nach Baden zu fahren. Man machte zuvor
bei Verwandten und Bekannten Abschiedsbesuche, als wäre es um eine weite
Reise zu thun. Die vornehmen Leute von Zürich bestellten so früh als
möglich ihre Absteigquartiere im Hinterhof, um sich nicht mit der gemeinern
Bürgerclasse zu vermischen, welche damals im Stadthof einkehrte. Der begü¬
terte Handwerker, den man daselbst antraf, ward noch mit dem Titel „Meister"
und in der zweiten Person der Mehrheit begrüßt, und die patrizischen Fami¬
lien hielten sich ausschließend aneinander. Gleich nach der Ankunft stattete
Man sich Ceremonienbesuche ab, verbeugte sich tief und ehrerbietig voreinander
und beobachtete streng die übliche Etikette. Es ward mehr gravitätisch einher¬
geschritten, als leicht gegangen, und die freiere Bewegung junger Leute als
Abweichung von der Regel betrachtet. Man zeigte sich auch in Baden immer
bestmöglich standesmöglich gekleidet und selbst das Negligv war ausgesucht und
kündigte die Wichtigkeit der Person an. Die Herren erschienen des Morgens
'n Schlafröcken von Wollendamast, aus deren weiten Aermeln die Manschetten
von feinem Battist aus die Hände hervorguckten, und die Badehren (Bad-
Mcintel) beider Geschlechter waren mit Spitzen besetzt und wurden, nach dem
Bade, um zu trocknen, auf den Stangen vor den Zimmerfenstern hoffärtig
iur Schau ausgebreitet. In Zürch hemmten, klug für jene Zeit berechnete,
aber oft bis zur Uebertreibung gesteigerte Sittengesetze die Fortschritte des Auf¬
wandes. Die Stoffe waren genau vorgeschrieben, in welche beiden Geschlech-


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[0221] Verbeugung zu machen und das verschaffte ihm das Vergnüge» jeder von diesen schönen Bürgerinnen einen Kuß zu geben, Müttern und Töchtern." Dies fade und abgeschmackte Treiben hörte allmälig um das Ende des vorigen Jahrhunderts auf. Noch bevor das Fieber der französischen Revolution die Völker Europas ergriff, änderten sich die Formen des gesellschaftlichen Ver¬ kehrs und. noch mehr der Sinn der Menschen. Wol war das bürgerliche Leben noch zum Erschrecken nüchtern, steif, philiströs, aber eine stille Sehnsucht nach größrer Freiheit, das Bedürfniß nach neuen Gedanken und tiefrer ge¬ müthlicher Anregung war allgemein geworden. Sogar die umherziehenden Kavaliere und Abenteurer konnten nicht mehr mit der alten Frivolität die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit ihrer Zeitgenossen ausbeuten, sie mußten größre Ansprüche erfüllen und als Freimaurer, Wunderthäter, Mitglieder my¬ stischer Gesellschaften in die Geldbeutel anderer zu greifen suchen. Und so werde denn am Schluß aus dem am Anfang erwähnten Buch das Badeleben kurz charakterisirt, wie eS am Ende des vorigen Jahrhunderts war. Badeleben am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Magistratsper¬ sonen standen bei der Bürgerschaft in einer hohen Achtung und suchten dieselbe auch durch ein sehr abgemessenes Betragen zu unterhalten. Bei solcher Anhäng¬ lichkeit an daS Formenwesen war es in jener Zeit eine Haupt- und Staats¬ action, mit gehörigem Anstand nach Baden zu fahren. Man machte zuvor bei Verwandten und Bekannten Abschiedsbesuche, als wäre es um eine weite Reise zu thun. Die vornehmen Leute von Zürich bestellten so früh als möglich ihre Absteigquartiere im Hinterhof, um sich nicht mit der gemeinern Bürgerclasse zu vermischen, welche damals im Stadthof einkehrte. Der begü¬ terte Handwerker, den man daselbst antraf, ward noch mit dem Titel „Meister" und in der zweiten Person der Mehrheit begrüßt, und die patrizischen Fami¬ lien hielten sich ausschließend aneinander. Gleich nach der Ankunft stattete Man sich Ceremonienbesuche ab, verbeugte sich tief und ehrerbietig voreinander und beobachtete streng die übliche Etikette. Es ward mehr gravitätisch einher¬ geschritten, als leicht gegangen, und die freiere Bewegung junger Leute als Abweichung von der Regel betrachtet. Man zeigte sich auch in Baden immer bestmöglich standesmöglich gekleidet und selbst das Negligv war ausgesucht und kündigte die Wichtigkeit der Person an. Die Herren erschienen des Morgens 'n Schlafröcken von Wollendamast, aus deren weiten Aermeln die Manschetten von feinem Battist aus die Hände hervorguckten, und die Badehren (Bad- Mcintel) beider Geschlechter waren mit Spitzen besetzt und wurden, nach dem Bade, um zu trocknen, auf den Stangen vor den Zimmerfenstern hoffärtig iur Schau ausgebreitet. In Zürch hemmten, klug für jene Zeit berechnete, aber oft bis zur Uebertreibung gesteigerte Sittengesetze die Fortschritte des Auf¬ wandes. Die Stoffe waren genau vorgeschrieben, in welche beiden Geschlech-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/221>, abgerufen am 22.07.2024.