Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

von einem solchen Schneesturm überrascht werden, besonders, wenn er von der
Richtung des Hofes her weht, dem sie angehören. Die Pferde sprengen wild
auseinander, rennen meilenweit; es ist nicht möglich, sie zusammenzuhalten.
Die Schafe drängen sich dicht aneinander, setzen sich in Bewegung, dem
Winde folgend; vergeblich ist die Anstrengung der Hirten, den leitenden Thieren
diejenige Richtung zu geben, in der allein Rettung möglich ist; einige wenige
folgen unentschlossen; die Mehrzahl trabt, schneller und schneller, in der Rich¬
tung fort, die der Sturm ihnen vorzeichnet. Die Hirten, selbst der Wuth des
Orkanes Preis gegeben und vor Kälte erstarrt, geben endlich das fruchtlose Be¬
mühen auf, folgen der von dämonischer Gewalt fortgetriebenen Herde, so¬
lange ihre Kräfte es gestatten. Zuweilen führt ein glücklicher Zufall den Zug
grade auf ein Gehöft, wo dann schnell die ganze Wannschaft aufgeboten wird,
ihn einzufangen; aber ein solches Glück ist selten in der menschenarmen Ge¬
gend; meistens stürzen die Thiere früher oder später die steilen Gehänge eines
Flußthales oder das Meeresgestade hinab, um dort im tiefen Schnee begraben
zu werden, und hier noch eine Strecke auf das Eis hinaus die sinnlose Wan¬
derung fortzusetzen, bis die schwache Decke unter der ungewohnten Last zu¬
sammenbricht und über der Herbe die Wellen zusammenschlagen. Solche Un¬
glücksfälle sind leider sehr häufig, da die Viehställe im südlichen Nußland für
die ausgedehnten Herden nicht ausreichen, die Landwirthe sich damit begnügen,
durch leichte Hürden das Vieh gegen die strengste Kälte einigermaßen zu
schirmen, und durch Mangel an Heu genöthigt sind, die Herden solange als
möglich aus der Steppe für sich selbst sorgen zu lassen. Wie verheerend die
Schneetreiben wirken, mag man daraus schließen, daß die Kirgisen der mittlern
Horde im Jahre 1827 durch sie 280,500 Pferde, 30,400 Rinder, 10,000 Ka-
meele und über eine Million Schafe einbüßten. Hommaire de Hell erzählt,
daß in dem Winter, der seinem Aufenthalt in Astrachan vorherging, der kal-
mükische Fürst Tunen allein 6000 Pferde verloren hatte, die durch Schnee¬
stürme in das kaspische Meer getrieben waren; der berühmte Geolog versichert,
daß er selbst während solchen Unwetters oft stundenlang nach einem Obdach
suchte inmitten eines Dorfes, von dem er des Schneewirbels wegen kein Haus ge¬
wahr werden konnte. Von diesem allgemeinen Charakter der chersonschen Steppe,
der durch geringe, hin und wieder vorkommende und die Feuchtigkeit länger
bewahrende Bodensenkungen nur wenig modificirt wird, machen nur die Thäler
der größern Flüsse, des Bug, Ingut, Jngulez und Dniepr eine bemerkens-
werthe Ausnahme. Sobald diese Ströme die ihr Bette einengende Granit¬
schicht verlassen haben, treten ihre hohen Ufer weiter auseinander, und begren¬
zen mit ihren bald steilen, bald abgerundeten Abhängen fruchtbare Niederungen,
die sich zu einer Breite von einer halben bis zu einer ganzen Meile erweitern,
und in denen reiche Wiesen mit Wäldern, Büschen und Schilfstrecken abwech-


von einem solchen Schneesturm überrascht werden, besonders, wenn er von der
Richtung des Hofes her weht, dem sie angehören. Die Pferde sprengen wild
auseinander, rennen meilenweit; es ist nicht möglich, sie zusammenzuhalten.
Die Schafe drängen sich dicht aneinander, setzen sich in Bewegung, dem
Winde folgend; vergeblich ist die Anstrengung der Hirten, den leitenden Thieren
diejenige Richtung zu geben, in der allein Rettung möglich ist; einige wenige
folgen unentschlossen; die Mehrzahl trabt, schneller und schneller, in der Rich¬
tung fort, die der Sturm ihnen vorzeichnet. Die Hirten, selbst der Wuth des
Orkanes Preis gegeben und vor Kälte erstarrt, geben endlich das fruchtlose Be¬
mühen auf, folgen der von dämonischer Gewalt fortgetriebenen Herde, so¬
lange ihre Kräfte es gestatten. Zuweilen führt ein glücklicher Zufall den Zug
grade auf ein Gehöft, wo dann schnell die ganze Wannschaft aufgeboten wird,
ihn einzufangen; aber ein solches Glück ist selten in der menschenarmen Ge¬
gend; meistens stürzen die Thiere früher oder später die steilen Gehänge eines
Flußthales oder das Meeresgestade hinab, um dort im tiefen Schnee begraben
zu werden, und hier noch eine Strecke auf das Eis hinaus die sinnlose Wan¬
derung fortzusetzen, bis die schwache Decke unter der ungewohnten Last zu¬
sammenbricht und über der Herbe die Wellen zusammenschlagen. Solche Un¬
glücksfälle sind leider sehr häufig, da die Viehställe im südlichen Nußland für
die ausgedehnten Herden nicht ausreichen, die Landwirthe sich damit begnügen,
durch leichte Hürden das Vieh gegen die strengste Kälte einigermaßen zu
schirmen, und durch Mangel an Heu genöthigt sind, die Herden solange als
möglich aus der Steppe für sich selbst sorgen zu lassen. Wie verheerend die
Schneetreiben wirken, mag man daraus schließen, daß die Kirgisen der mittlern
Horde im Jahre 1827 durch sie 280,500 Pferde, 30,400 Rinder, 10,000 Ka-
meele und über eine Million Schafe einbüßten. Hommaire de Hell erzählt,
daß in dem Winter, der seinem Aufenthalt in Astrachan vorherging, der kal-
mükische Fürst Tunen allein 6000 Pferde verloren hatte, die durch Schnee¬
stürme in das kaspische Meer getrieben waren; der berühmte Geolog versichert,
daß er selbst während solchen Unwetters oft stundenlang nach einem Obdach
suchte inmitten eines Dorfes, von dem er des Schneewirbels wegen kein Haus ge¬
wahr werden konnte. Von diesem allgemeinen Charakter der chersonschen Steppe,
der durch geringe, hin und wieder vorkommende und die Feuchtigkeit länger
bewahrende Bodensenkungen nur wenig modificirt wird, machen nur die Thäler
der größern Flüsse, des Bug, Ingut, Jngulez und Dniepr eine bemerkens-
werthe Ausnahme. Sobald diese Ströme die ihr Bette einengende Granit¬
schicht verlassen haben, treten ihre hohen Ufer weiter auseinander, und begren¬
zen mit ihren bald steilen, bald abgerundeten Abhängen fruchtbare Niederungen,
die sich zu einer Breite von einer halben bis zu einer ganzen Meile erweitern,
und in denen reiche Wiesen mit Wäldern, Büschen und Schilfstrecken abwech-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100629"/>
          <p xml:id="ID_508" prev="#ID_507" next="#ID_509"> von einem solchen Schneesturm überrascht werden, besonders, wenn er von der<lb/>
Richtung des Hofes her weht, dem sie angehören. Die Pferde sprengen wild<lb/>
auseinander, rennen meilenweit; es ist nicht möglich, sie zusammenzuhalten.<lb/>
Die Schafe drängen sich dicht aneinander, setzen sich in Bewegung, dem<lb/>
Winde folgend; vergeblich ist die Anstrengung der Hirten, den leitenden Thieren<lb/>
diejenige Richtung zu geben, in der allein Rettung möglich ist; einige wenige<lb/>
folgen unentschlossen; die Mehrzahl trabt, schneller und schneller, in der Rich¬<lb/>
tung fort, die der Sturm ihnen vorzeichnet. Die Hirten, selbst der Wuth des<lb/>
Orkanes Preis gegeben und vor Kälte erstarrt, geben endlich das fruchtlose Be¬<lb/>
mühen auf, folgen der von dämonischer Gewalt fortgetriebenen Herde, so¬<lb/>
lange ihre Kräfte es gestatten. Zuweilen führt ein glücklicher Zufall den Zug<lb/>
grade auf ein Gehöft, wo dann schnell die ganze Wannschaft aufgeboten wird,<lb/>
ihn einzufangen; aber ein solches Glück ist selten in der menschenarmen Ge¬<lb/>
gend; meistens stürzen die Thiere früher oder später die steilen Gehänge eines<lb/>
Flußthales oder das Meeresgestade hinab, um dort im tiefen Schnee begraben<lb/>
zu werden, und hier noch eine Strecke auf das Eis hinaus die sinnlose Wan¬<lb/>
derung fortzusetzen, bis die schwache Decke unter der ungewohnten Last zu¬<lb/>
sammenbricht und über der Herbe die Wellen zusammenschlagen. Solche Un¬<lb/>
glücksfälle sind leider sehr häufig, da die Viehställe im südlichen Nußland für<lb/>
die ausgedehnten Herden nicht ausreichen, die Landwirthe sich damit begnügen,<lb/>
durch leichte Hürden das Vieh gegen die strengste Kälte einigermaßen zu<lb/>
schirmen, und durch Mangel an Heu genöthigt sind, die Herden solange als<lb/>
möglich aus der Steppe für sich selbst sorgen zu lassen. Wie verheerend die<lb/>
Schneetreiben wirken, mag man daraus schließen, daß die Kirgisen der mittlern<lb/>
Horde im Jahre 1827 durch sie 280,500 Pferde, 30,400 Rinder, 10,000 Ka-<lb/>
meele und über eine Million Schafe einbüßten. Hommaire de Hell erzählt,<lb/>
daß in dem Winter, der seinem Aufenthalt in Astrachan vorherging, der kal-<lb/>
mükische Fürst Tunen allein 6000 Pferde verloren hatte, die durch Schnee¬<lb/>
stürme in das kaspische Meer getrieben waren; der berühmte Geolog versichert,<lb/>
daß er selbst während solchen Unwetters oft stundenlang nach einem Obdach<lb/>
suchte inmitten eines Dorfes, von dem er des Schneewirbels wegen kein Haus ge¬<lb/>
wahr werden konnte. Von diesem allgemeinen Charakter der chersonschen Steppe,<lb/>
der durch geringe, hin und wieder vorkommende und die Feuchtigkeit länger<lb/>
bewahrende Bodensenkungen nur wenig modificirt wird, machen nur die Thäler<lb/>
der größern Flüsse, des Bug, Ingut, Jngulez und Dniepr eine bemerkens-<lb/>
werthe Ausnahme. Sobald diese Ströme die ihr Bette einengende Granit¬<lb/>
schicht verlassen haben, treten ihre hohen Ufer weiter auseinander, und begren¬<lb/>
zen mit ihren bald steilen, bald abgerundeten Abhängen fruchtbare Niederungen,<lb/>
die sich zu einer Breite von einer halben bis zu einer ganzen Meile erweitern,<lb/>
und in denen reiche Wiesen mit Wäldern, Büschen und Schilfstrecken abwech-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] von einem solchen Schneesturm überrascht werden, besonders, wenn er von der Richtung des Hofes her weht, dem sie angehören. Die Pferde sprengen wild auseinander, rennen meilenweit; es ist nicht möglich, sie zusammenzuhalten. Die Schafe drängen sich dicht aneinander, setzen sich in Bewegung, dem Winde folgend; vergeblich ist die Anstrengung der Hirten, den leitenden Thieren diejenige Richtung zu geben, in der allein Rettung möglich ist; einige wenige folgen unentschlossen; die Mehrzahl trabt, schneller und schneller, in der Rich¬ tung fort, die der Sturm ihnen vorzeichnet. Die Hirten, selbst der Wuth des Orkanes Preis gegeben und vor Kälte erstarrt, geben endlich das fruchtlose Be¬ mühen auf, folgen der von dämonischer Gewalt fortgetriebenen Herde, so¬ lange ihre Kräfte es gestatten. Zuweilen führt ein glücklicher Zufall den Zug grade auf ein Gehöft, wo dann schnell die ganze Wannschaft aufgeboten wird, ihn einzufangen; aber ein solches Glück ist selten in der menschenarmen Ge¬ gend; meistens stürzen die Thiere früher oder später die steilen Gehänge eines Flußthales oder das Meeresgestade hinab, um dort im tiefen Schnee begraben zu werden, und hier noch eine Strecke auf das Eis hinaus die sinnlose Wan¬ derung fortzusetzen, bis die schwache Decke unter der ungewohnten Last zu¬ sammenbricht und über der Herbe die Wellen zusammenschlagen. Solche Un¬ glücksfälle sind leider sehr häufig, da die Viehställe im südlichen Nußland für die ausgedehnten Herden nicht ausreichen, die Landwirthe sich damit begnügen, durch leichte Hürden das Vieh gegen die strengste Kälte einigermaßen zu schirmen, und durch Mangel an Heu genöthigt sind, die Herden solange als möglich aus der Steppe für sich selbst sorgen zu lassen. Wie verheerend die Schneetreiben wirken, mag man daraus schließen, daß die Kirgisen der mittlern Horde im Jahre 1827 durch sie 280,500 Pferde, 30,400 Rinder, 10,000 Ka- meele und über eine Million Schafe einbüßten. Hommaire de Hell erzählt, daß in dem Winter, der seinem Aufenthalt in Astrachan vorherging, der kal- mükische Fürst Tunen allein 6000 Pferde verloren hatte, die durch Schnee¬ stürme in das kaspische Meer getrieben waren; der berühmte Geolog versichert, daß er selbst während solchen Unwetters oft stundenlang nach einem Obdach suchte inmitten eines Dorfes, von dem er des Schneewirbels wegen kein Haus ge¬ wahr werden konnte. Von diesem allgemeinen Charakter der chersonschen Steppe, der durch geringe, hin und wieder vorkommende und die Feuchtigkeit länger bewahrende Bodensenkungen nur wenig modificirt wird, machen nur die Thäler der größern Flüsse, des Bug, Ingut, Jngulez und Dniepr eine bemerkens- werthe Ausnahme. Sobald diese Ströme die ihr Bette einengende Granit¬ schicht verlassen haben, treten ihre hohen Ufer weiter auseinander, und begren¬ zen mit ihren bald steilen, bald abgerundeten Abhängen fruchtbare Niederungen, die sich zu einer Breite von einer halben bis zu einer ganzen Meile erweitern, und in denen reiche Wiesen mit Wäldern, Büschen und Schilfstrecken abwech-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/175>, abgerufen am 02.10.2024.