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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Scheibe zu erreichen, in deren Mittelpunkt er sich festgebannt glaubt; zuweilen
gaukelt ihiK die Luftspiegelung in der Ferne das trügerische Bild eines
sich kräuselnden Wasserspiegels vor, oder verzerrt die Gestalten einer fernen
Karavane zu maßloßen Dimensionen und den abenteuerlichsten Formen.
Erst im September werden die Tage kühler. nächtlicher Thau, zuweilen auch
ein Herbstregen erquickt die Pflanzenwelt wieder, lockt nachsprießendes Gras
hervor, welches den Boden bis in den December mit seinem Grün bekleidet.
Diese Jahreszeit ist die schönste der Steppe. Im December beginnt der Winter,
mit sehr wechselnder Temperatur. Es hat Jahre gegeben, in denen das Vieh
den ganzen Winter im Freien zubringen konnte; aber gewöhnlich steigt die
Kälte bis 28" R. und wird durch die schneidenden Nordostwinde, die ohne
alles Hinderniß über die unermeßliche Ebene hinbrausen, ganz unerträglich.
Der Schneefall, der im mittlern und nördlichen Rußland dem menschlichen
Verkehr so sehr förderlich ist, äußert im Süden die entgegengesetzte Wirkung;
hier können sich die zahlreichen Karavanen, die im Sommer die Producte des
mittlern und' westlichen Rußlands nach dem Süden verführen, im Winter nicht
in die Steppe hinauswagen; denn nie sind sie vor den entsetzlichen Schnee¬
stürmen sicher, der furchtbarsten Winterplage aller der Steppen, die sich vom
Gouvernement Cherson aus östlich bis zur chinesischen Grenze erstrecken. Ein
solcher Schneesturm hält gewöhnlich drei Tage an; zuweilen wühlt der Orkan
nur, bei sonst heiterm Himmel, den lockern Schnee, der die weite Fläche be¬
deckt, wogengleich auf, treibt und wirbelt die Schneemassen in wildem Taumel
vor sich her und begräbt den Reisenden unter ihnen. Aber eine wahrhaft
furchtbares Schauspiel entwickelt sich, wenn sich zu gleicher Zeit schwere Wol¬
ken entladen, wenn Himmel und Erde nur ein dichtes vom Sturme gepeitschtes
Schneemeer bilden. Dann ist es dem Reisenden unmöglich, auch nur zehn
Schritte weit vorwärts zu blicken; er kann bei dem schneidenden Winde oft
nicht einmal die Augen öffnen; an ein Einhalten der Richtung, an eine Orien-
tirung, die sonst schon schwer genug ist, ist nicht zu denken; er muß sich dem
Jnstincte seiner Pferde anvertrauen. Aber dieser verläßt die sonst so sichern
Thiere; unwillkürlich seitwärts sich neigend, suchen sie der sessellosen Wuth des
Orkans auszubeugen, lenken von der rechten Straße ab, kommen oft, ohne
daß der Reisende es merkt, mit kreisförmiger Wendung in eine grade entgegen¬
gesetzte Richtung, je nachdem der Wirbel sie irre leitet; unsicher auf den ihnen
fremden Pfaden, scheu vor dem empörten Element, weichen sie zuletzt willenlos
jedem Impulse des umspringenden Sturmes, bis sie entkräftet im tiefen Schnee
stecken bleiben oder in eine der Negenklüfte stürzen, welche den Steppenboden
durchfurchen. Es ist nicht selten, daß Reisende am Eingange der Dörfer elend
umkamen, weil sie nicht wußten und nicht sahen, wie nahe sie dem Nettungs-
hafen waren. Schrecklich ist das Schicksal der Herden, die auf offner Steppe


Scheibe zu erreichen, in deren Mittelpunkt er sich festgebannt glaubt; zuweilen
gaukelt ihiK die Luftspiegelung in der Ferne das trügerische Bild eines
sich kräuselnden Wasserspiegels vor, oder verzerrt die Gestalten einer fernen
Karavane zu maßloßen Dimensionen und den abenteuerlichsten Formen.
Erst im September werden die Tage kühler. nächtlicher Thau, zuweilen auch
ein Herbstregen erquickt die Pflanzenwelt wieder, lockt nachsprießendes Gras
hervor, welches den Boden bis in den December mit seinem Grün bekleidet.
Diese Jahreszeit ist die schönste der Steppe. Im December beginnt der Winter,
mit sehr wechselnder Temperatur. Es hat Jahre gegeben, in denen das Vieh
den ganzen Winter im Freien zubringen konnte; aber gewöhnlich steigt die
Kälte bis 28" R. und wird durch die schneidenden Nordostwinde, die ohne
alles Hinderniß über die unermeßliche Ebene hinbrausen, ganz unerträglich.
Der Schneefall, der im mittlern und nördlichen Rußland dem menschlichen
Verkehr so sehr förderlich ist, äußert im Süden die entgegengesetzte Wirkung;
hier können sich die zahlreichen Karavanen, die im Sommer die Producte des
mittlern und' westlichen Rußlands nach dem Süden verführen, im Winter nicht
in die Steppe hinauswagen; denn nie sind sie vor den entsetzlichen Schnee¬
stürmen sicher, der furchtbarsten Winterplage aller der Steppen, die sich vom
Gouvernement Cherson aus östlich bis zur chinesischen Grenze erstrecken. Ein
solcher Schneesturm hält gewöhnlich drei Tage an; zuweilen wühlt der Orkan
nur, bei sonst heiterm Himmel, den lockern Schnee, der die weite Fläche be¬
deckt, wogengleich auf, treibt und wirbelt die Schneemassen in wildem Taumel
vor sich her und begräbt den Reisenden unter ihnen. Aber eine wahrhaft
furchtbares Schauspiel entwickelt sich, wenn sich zu gleicher Zeit schwere Wol¬
ken entladen, wenn Himmel und Erde nur ein dichtes vom Sturme gepeitschtes
Schneemeer bilden. Dann ist es dem Reisenden unmöglich, auch nur zehn
Schritte weit vorwärts zu blicken; er kann bei dem schneidenden Winde oft
nicht einmal die Augen öffnen; an ein Einhalten der Richtung, an eine Orien-
tirung, die sonst schon schwer genug ist, ist nicht zu denken; er muß sich dem
Jnstincte seiner Pferde anvertrauen. Aber dieser verläßt die sonst so sichern
Thiere; unwillkürlich seitwärts sich neigend, suchen sie der sessellosen Wuth des
Orkans auszubeugen, lenken von der rechten Straße ab, kommen oft, ohne
daß der Reisende es merkt, mit kreisförmiger Wendung in eine grade entgegen¬
gesetzte Richtung, je nachdem der Wirbel sie irre leitet; unsicher auf den ihnen
fremden Pfaden, scheu vor dem empörten Element, weichen sie zuletzt willenlos
jedem Impulse des umspringenden Sturmes, bis sie entkräftet im tiefen Schnee
stecken bleiben oder in eine der Negenklüfte stürzen, welche den Steppenboden
durchfurchen. Es ist nicht selten, daß Reisende am Eingange der Dörfer elend
umkamen, weil sie nicht wußten und nicht sahen, wie nahe sie dem Nettungs-
hafen waren. Schrecklich ist das Schicksal der Herden, die auf offner Steppe


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[0174] Scheibe zu erreichen, in deren Mittelpunkt er sich festgebannt glaubt; zuweilen gaukelt ihiK die Luftspiegelung in der Ferne das trügerische Bild eines sich kräuselnden Wasserspiegels vor, oder verzerrt die Gestalten einer fernen Karavane zu maßloßen Dimensionen und den abenteuerlichsten Formen. Erst im September werden die Tage kühler. nächtlicher Thau, zuweilen auch ein Herbstregen erquickt die Pflanzenwelt wieder, lockt nachsprießendes Gras hervor, welches den Boden bis in den December mit seinem Grün bekleidet. Diese Jahreszeit ist die schönste der Steppe. Im December beginnt der Winter, mit sehr wechselnder Temperatur. Es hat Jahre gegeben, in denen das Vieh den ganzen Winter im Freien zubringen konnte; aber gewöhnlich steigt die Kälte bis 28" R. und wird durch die schneidenden Nordostwinde, die ohne alles Hinderniß über die unermeßliche Ebene hinbrausen, ganz unerträglich. Der Schneefall, der im mittlern und nördlichen Rußland dem menschlichen Verkehr so sehr förderlich ist, äußert im Süden die entgegengesetzte Wirkung; hier können sich die zahlreichen Karavanen, die im Sommer die Producte des mittlern und' westlichen Rußlands nach dem Süden verführen, im Winter nicht in die Steppe hinauswagen; denn nie sind sie vor den entsetzlichen Schnee¬ stürmen sicher, der furchtbarsten Winterplage aller der Steppen, die sich vom Gouvernement Cherson aus östlich bis zur chinesischen Grenze erstrecken. Ein solcher Schneesturm hält gewöhnlich drei Tage an; zuweilen wühlt der Orkan nur, bei sonst heiterm Himmel, den lockern Schnee, der die weite Fläche be¬ deckt, wogengleich auf, treibt und wirbelt die Schneemassen in wildem Taumel vor sich her und begräbt den Reisenden unter ihnen. Aber eine wahrhaft furchtbares Schauspiel entwickelt sich, wenn sich zu gleicher Zeit schwere Wol¬ ken entladen, wenn Himmel und Erde nur ein dichtes vom Sturme gepeitschtes Schneemeer bilden. Dann ist es dem Reisenden unmöglich, auch nur zehn Schritte weit vorwärts zu blicken; er kann bei dem schneidenden Winde oft nicht einmal die Augen öffnen; an ein Einhalten der Richtung, an eine Orien- tirung, die sonst schon schwer genug ist, ist nicht zu denken; er muß sich dem Jnstincte seiner Pferde anvertrauen. Aber dieser verläßt die sonst so sichern Thiere; unwillkürlich seitwärts sich neigend, suchen sie der sessellosen Wuth des Orkans auszubeugen, lenken von der rechten Straße ab, kommen oft, ohne daß der Reisende es merkt, mit kreisförmiger Wendung in eine grade entgegen¬ gesetzte Richtung, je nachdem der Wirbel sie irre leitet; unsicher auf den ihnen fremden Pfaden, scheu vor dem empörten Element, weichen sie zuletzt willenlos jedem Impulse des umspringenden Sturmes, bis sie entkräftet im tiefen Schnee stecken bleiben oder in eine der Negenklüfte stürzen, welche den Steppenboden durchfurchen. Es ist nicht selten, daß Reisende am Eingange der Dörfer elend umkamen, weil sie nicht wußten und nicht sahen, wie nahe sie dem Nettungs- hafen waren. Schrecklich ist das Schicksal der Herden, die auf offner Steppe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/174>, abgerufen am 02.10.2024.