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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Oestreich und Preußen beeiferten sich, die neue Monarchie in Frankreich anzu¬
erkennen. Oestreichs Herrscher legte in der Voraussicht, daß das römisch-deutsche
Kaiserthum nicht mehr von langer Dauer sein werde, sich den Titel eines
Kaisers von Oestreich bei. Uebrigens herrschte in Oestreich keineswegs Sym¬
pathie für Bonaparte. Die regierende östreichische Aristokratie hatte die Ver¬
luste, die das Land durch Bonaparte erlitten, nicht vergessen; sie haßte den
revolutionären Emporkömmling. Aber sie wagte noch nicht offen mit ihm zu
brechen. In der ettenheimer Sache gab sie in Paris zustimmende Erklärungen
und kokettirte gleichzeitig auf dem Reichstage in Regensburg mit Rußland.
Noch zweifelhafter war die preußische Politik. Von der Einbildung, daß man
mit der Neutralität zugleich die wohlfeilste und vortheilhafteste Politik übe, war
man in Berlin seit dem Attentat Bonapartes auf Hannover zurückgekommen.
Jetzt verlangte Haugwitz und Lombard offenen Anschluß an Frankreich, ihre
Gegner offenen Bruch mit Bonaparte. Aber zu beidem fehlte Friedrich Wil¬
helm III. die Energie des Entschlusses. In dem Momente, wo das Bündniß
mit Preußen sowol für Frankreich als für Rußland noch Werth hatte, wies
der König die beiderseitigen Anträge zurück und erzürnte sich beide Mächte.
Diese Politik mußte es sich denn gefallen lassen, daß eine Abtheilung Fran¬
zosen bei Hamburg im Gebiete des niedersächsischen Kreises, dessen Vorstand
der König von Preußen war, den englischen Geschäftsträger Numbold am
23. October 1804 aufhob. Man hielt großen Cabinetsrath in Potsdam, dessen
Resultat war, daß der König einen eigenhändigen Brief an Napoleon schrieb.
Napoleon, der um einer Bagatelle willen Preußen nicht ins feindliche Lager
treiben wollte, ließ Rumbold frei und schläferte damit Preußen vollends ein.

In Deutschland überhaupt herrschte damals particularistische Selbstsucht,
die über augenblicklichen Vortheil die zukünftig drohende Gefahr vergaß, selbst¬
genugsame Lust zur Ruhe, die sich zu einer schmachvollern Nachgiebigkeit drängen
ließ. Man tröstete sich mit localen, inneren Reformen, mit dem aufgeklärten
Absolutismus des Franzosenthums; man vergaß aber, daß es keine Reform
und keine Freiheit gibt, die um den Preis nationaler Unabhängigkeit erkauft
ist. Goethe, der größte deutsche Geist, hatte kein Wort gegen Deutschlands Er¬
niedrigung; freilich tadelte er auch die Reformation deswegen, weil sie die
"ruhige Bildung" gestört; Schiller beschäftigte sich nur mit Poesie und Aesthe¬
tik, mit Schauspiel und Schauspielern. Nur Gentz ließ sich gegen den Phi¬
listersinn des großen Haufens vernehmen: "Daß es selbst für den Geringsten
im Staate außer den gewöhnlichen Bedürfnissen des Lebens noch höhere gibt:
Nationalehre, ein geachteter Name, eine unabhängige Verfassung, ein bestimm¬
ter, wohlversicherter Antheil an einem wirklichen Staatensystem: soll man dar¬
über einen förmlichen Beweis führen? Wenn einem Volke einmal alles öffent¬
liche Interesse fremd, das Vaterland ein Name ohne Bedeutung geworden, der


Oestreich und Preußen beeiferten sich, die neue Monarchie in Frankreich anzu¬
erkennen. Oestreichs Herrscher legte in der Voraussicht, daß das römisch-deutsche
Kaiserthum nicht mehr von langer Dauer sein werde, sich den Titel eines
Kaisers von Oestreich bei. Uebrigens herrschte in Oestreich keineswegs Sym¬
pathie für Bonaparte. Die regierende östreichische Aristokratie hatte die Ver¬
luste, die das Land durch Bonaparte erlitten, nicht vergessen; sie haßte den
revolutionären Emporkömmling. Aber sie wagte noch nicht offen mit ihm zu
brechen. In der ettenheimer Sache gab sie in Paris zustimmende Erklärungen
und kokettirte gleichzeitig auf dem Reichstage in Regensburg mit Rußland.
Noch zweifelhafter war die preußische Politik. Von der Einbildung, daß man
mit der Neutralität zugleich die wohlfeilste und vortheilhafteste Politik übe, war
man in Berlin seit dem Attentat Bonapartes auf Hannover zurückgekommen.
Jetzt verlangte Haugwitz und Lombard offenen Anschluß an Frankreich, ihre
Gegner offenen Bruch mit Bonaparte. Aber zu beidem fehlte Friedrich Wil¬
helm III. die Energie des Entschlusses. In dem Momente, wo das Bündniß
mit Preußen sowol für Frankreich als für Rußland noch Werth hatte, wies
der König die beiderseitigen Anträge zurück und erzürnte sich beide Mächte.
Diese Politik mußte es sich denn gefallen lassen, daß eine Abtheilung Fran¬
zosen bei Hamburg im Gebiete des niedersächsischen Kreises, dessen Vorstand
der König von Preußen war, den englischen Geschäftsträger Numbold am
23. October 1804 aufhob. Man hielt großen Cabinetsrath in Potsdam, dessen
Resultat war, daß der König einen eigenhändigen Brief an Napoleon schrieb.
Napoleon, der um einer Bagatelle willen Preußen nicht ins feindliche Lager
treiben wollte, ließ Rumbold frei und schläferte damit Preußen vollends ein.

In Deutschland überhaupt herrschte damals particularistische Selbstsucht,
die über augenblicklichen Vortheil die zukünftig drohende Gefahr vergaß, selbst¬
genugsame Lust zur Ruhe, die sich zu einer schmachvollern Nachgiebigkeit drängen
ließ. Man tröstete sich mit localen, inneren Reformen, mit dem aufgeklärten
Absolutismus des Franzosenthums; man vergaß aber, daß es keine Reform
und keine Freiheit gibt, die um den Preis nationaler Unabhängigkeit erkauft
ist. Goethe, der größte deutsche Geist, hatte kein Wort gegen Deutschlands Er¬
niedrigung; freilich tadelte er auch die Reformation deswegen, weil sie die
„ruhige Bildung" gestört; Schiller beschäftigte sich nur mit Poesie und Aesthe¬
tik, mit Schauspiel und Schauspielern. Nur Gentz ließ sich gegen den Phi¬
listersinn des großen Haufens vernehmen: „Daß es selbst für den Geringsten
im Staate außer den gewöhnlichen Bedürfnissen des Lebens noch höhere gibt:
Nationalehre, ein geachteter Name, eine unabhängige Verfassung, ein bestimm¬
ter, wohlversicherter Antheil an einem wirklichen Staatensystem: soll man dar¬
über einen förmlichen Beweis führen? Wenn einem Volke einmal alles öffent¬
liche Interesse fremd, das Vaterland ein Name ohne Bedeutung geworden, der


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[0115] Oestreich und Preußen beeiferten sich, die neue Monarchie in Frankreich anzu¬ erkennen. Oestreichs Herrscher legte in der Voraussicht, daß das römisch-deutsche Kaiserthum nicht mehr von langer Dauer sein werde, sich den Titel eines Kaisers von Oestreich bei. Uebrigens herrschte in Oestreich keineswegs Sym¬ pathie für Bonaparte. Die regierende östreichische Aristokratie hatte die Ver¬ luste, die das Land durch Bonaparte erlitten, nicht vergessen; sie haßte den revolutionären Emporkömmling. Aber sie wagte noch nicht offen mit ihm zu brechen. In der ettenheimer Sache gab sie in Paris zustimmende Erklärungen und kokettirte gleichzeitig auf dem Reichstage in Regensburg mit Rußland. Noch zweifelhafter war die preußische Politik. Von der Einbildung, daß man mit der Neutralität zugleich die wohlfeilste und vortheilhafteste Politik übe, war man in Berlin seit dem Attentat Bonapartes auf Hannover zurückgekommen. Jetzt verlangte Haugwitz und Lombard offenen Anschluß an Frankreich, ihre Gegner offenen Bruch mit Bonaparte. Aber zu beidem fehlte Friedrich Wil¬ helm III. die Energie des Entschlusses. In dem Momente, wo das Bündniß mit Preußen sowol für Frankreich als für Rußland noch Werth hatte, wies der König die beiderseitigen Anträge zurück und erzürnte sich beide Mächte. Diese Politik mußte es sich denn gefallen lassen, daß eine Abtheilung Fran¬ zosen bei Hamburg im Gebiete des niedersächsischen Kreises, dessen Vorstand der König von Preußen war, den englischen Geschäftsträger Numbold am 23. October 1804 aufhob. Man hielt großen Cabinetsrath in Potsdam, dessen Resultat war, daß der König einen eigenhändigen Brief an Napoleon schrieb. Napoleon, der um einer Bagatelle willen Preußen nicht ins feindliche Lager treiben wollte, ließ Rumbold frei und schläferte damit Preußen vollends ein. In Deutschland überhaupt herrschte damals particularistische Selbstsucht, die über augenblicklichen Vortheil die zukünftig drohende Gefahr vergaß, selbst¬ genugsame Lust zur Ruhe, die sich zu einer schmachvollern Nachgiebigkeit drängen ließ. Man tröstete sich mit localen, inneren Reformen, mit dem aufgeklärten Absolutismus des Franzosenthums; man vergaß aber, daß es keine Reform und keine Freiheit gibt, die um den Preis nationaler Unabhängigkeit erkauft ist. Goethe, der größte deutsche Geist, hatte kein Wort gegen Deutschlands Er¬ niedrigung; freilich tadelte er auch die Reformation deswegen, weil sie die „ruhige Bildung" gestört; Schiller beschäftigte sich nur mit Poesie und Aesthe¬ tik, mit Schauspiel und Schauspielern. Nur Gentz ließ sich gegen den Phi¬ listersinn des großen Haufens vernehmen: „Daß es selbst für den Geringsten im Staate außer den gewöhnlichen Bedürfnissen des Lebens noch höhere gibt: Nationalehre, ein geachteter Name, eine unabhängige Verfassung, ein bestimm¬ ter, wohlversicherter Antheil an einem wirklichen Staatensystem: soll man dar¬ über einen förmlichen Beweis führen? Wenn einem Volke einmal alles öffent¬ liche Interesse fremd, das Vaterland ein Name ohne Bedeutung geworden, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/115>, abgerufen am 26.08.2024.