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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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nungssüchtige, auf Gleichheit und Einheit hinstrebende Verwaltung Frankreichs
wurde auch in Deutschland heimisch, ohne Pietät sür das Ueberlieferte, ganz er¬
füllt von dem Gedanken der Staatsallmacht. Das römische Kirchenthum
und der katholische Klerus hatten selbst durch die Reformation keinen so em¬
pfindlichen Stoß erhalten, als durch die jüngste Umwälzung; der Klerus, bis¬
her der erste Stand im Reiche, wurde Unterthan wie alle übrigen; selbst in der
Leitung der eignen kirchlichen Angelegenheiten mußte er die Einmischung der
neuen Staatsgewalten sich gefallen lassen. Einen nicht minder harten Schlag
erlitt die ökonomische Existenz und das moralische Ansehen des Adels. Ueber
700 Mitglieder der Domstifter verloren durch die große Umwälzung ihre Stellen.
Dazu kam die schmerzliche Verkürzung der Reichsgrafen und Reichsritter bei dem
Theilungsgeschäft. Auch das reichsunmittelbare Bürgerthum verschwand durch
die Mediatistrung von 43 Reichsstädten. So klagten Geistlichkeit, Adel und
einzelne Städte über die Umwälzung; das weltliche Fürstenthum und seine
Beamten priesen sie als Umschwung zum Besseren; die Masse der Nation nahm
sie gleichgiltig oder zustimmend auf. Denn die kleinen Staaten waren inner¬
lich zerrüttet. In den geistlichen Landen ein Stiftsadel, der meist dem Lande
fremd, dasselbe nur ausbeutete; ein sorgloses, oft käufliches Beamtenthum, eine
träge Verwaltung und schlechte Justiz, geistlicher Müßiggang, Nepotismus,
Sinecuren und Bettel. In den Reichsstädten Stockung alles öffentlichen und
bürgerlichen Lebens, gährende Ausbrüche gegen das alte engherzige Patricier¬
regiment. Vollends unerträglich war das Gebahren vieler kleiner Fürsten und
Reichsgrafen. Neu-Wied wurde von einem frechen Abenteurer im Namen eines
verrückten Fürsten beherrscht und ausgebeutet. Ein Nescnpt des regierenden
Grasen von Nsenburg-WächterSbach vom December 1800 setzt die Rechtsgründe
auseinander, aus denen er, "um sich durch die gelindesten Mittel zu Wohnun¬
gen für die unentbehrlichste Staatsdienerschast zu verhelfen", Privatleute aus
ihrem ererbten Besitz vertreibt. Nach dem Protokoll der Erbach-Schönbergschen
Regierung vom 10. April 1802 "war dermalen kein Bogen Papier mehr auf
der Kanzlei vorhanden und ermangelten auch alle übrigen Schreibmaterialien
gänzlich, ließen aber die Papierfabrikanten der Gegend ebensowenig als der
Schreibmaterialienhändler in Frankfurt die Erfordernisse aus Credit verabfolgen,
weil die vorigen ansehnlichen Conti bis jetzt unberichtigt geblieben seien." Die
würdige Behörde drohte "mit einem gänzlichen Stillstand der Geschäfte", falls ihr
nicht schleunigst das nöthige Schreibmaterial geliefert würde, und die Parteien, weil
sie es auch in den kleinsten Rechtshändeln zu keiner Entscheidung bringen konnten,
erboten sich, "den Ertrag der bedürftigen Schreibmaterialien vorzuschießen, wenn
deren Mangel die fortdauernde Ursache des bisherigen Verzuges sein sollte."
Gegen einen Fürsten von Salm-Kyrburg schwebte eine Untersuchung wegen
falscher Banknoten, deren Verfertigung er angeklagt war. Dieser alte' Wust


nungssüchtige, auf Gleichheit und Einheit hinstrebende Verwaltung Frankreichs
wurde auch in Deutschland heimisch, ohne Pietät sür das Ueberlieferte, ganz er¬
füllt von dem Gedanken der Staatsallmacht. Das römische Kirchenthum
und der katholische Klerus hatten selbst durch die Reformation keinen so em¬
pfindlichen Stoß erhalten, als durch die jüngste Umwälzung; der Klerus, bis¬
her der erste Stand im Reiche, wurde Unterthan wie alle übrigen; selbst in der
Leitung der eignen kirchlichen Angelegenheiten mußte er die Einmischung der
neuen Staatsgewalten sich gefallen lassen. Einen nicht minder harten Schlag
erlitt die ökonomische Existenz und das moralische Ansehen des Adels. Ueber
700 Mitglieder der Domstifter verloren durch die große Umwälzung ihre Stellen.
Dazu kam die schmerzliche Verkürzung der Reichsgrafen und Reichsritter bei dem
Theilungsgeschäft. Auch das reichsunmittelbare Bürgerthum verschwand durch
die Mediatistrung von 43 Reichsstädten. So klagten Geistlichkeit, Adel und
einzelne Städte über die Umwälzung; das weltliche Fürstenthum und seine
Beamten priesen sie als Umschwung zum Besseren; die Masse der Nation nahm
sie gleichgiltig oder zustimmend auf. Denn die kleinen Staaten waren inner¬
lich zerrüttet. In den geistlichen Landen ein Stiftsadel, der meist dem Lande
fremd, dasselbe nur ausbeutete; ein sorgloses, oft käufliches Beamtenthum, eine
träge Verwaltung und schlechte Justiz, geistlicher Müßiggang, Nepotismus,
Sinecuren und Bettel. In den Reichsstädten Stockung alles öffentlichen und
bürgerlichen Lebens, gährende Ausbrüche gegen das alte engherzige Patricier¬
regiment. Vollends unerträglich war das Gebahren vieler kleiner Fürsten und
Reichsgrafen. Neu-Wied wurde von einem frechen Abenteurer im Namen eines
verrückten Fürsten beherrscht und ausgebeutet. Ein Nescnpt des regierenden
Grasen von Nsenburg-WächterSbach vom December 1800 setzt die Rechtsgründe
auseinander, aus denen er, „um sich durch die gelindesten Mittel zu Wohnun¬
gen für die unentbehrlichste Staatsdienerschast zu verhelfen", Privatleute aus
ihrem ererbten Besitz vertreibt. Nach dem Protokoll der Erbach-Schönbergschen
Regierung vom 10. April 1802 „war dermalen kein Bogen Papier mehr auf
der Kanzlei vorhanden und ermangelten auch alle übrigen Schreibmaterialien
gänzlich, ließen aber die Papierfabrikanten der Gegend ebensowenig als der
Schreibmaterialienhändler in Frankfurt die Erfordernisse aus Credit verabfolgen,
weil die vorigen ansehnlichen Conti bis jetzt unberichtigt geblieben seien." Die
würdige Behörde drohte „mit einem gänzlichen Stillstand der Geschäfte", falls ihr
nicht schleunigst das nöthige Schreibmaterial geliefert würde, und die Parteien, weil
sie es auch in den kleinsten Rechtshändeln zu keiner Entscheidung bringen konnten,
erboten sich, „den Ertrag der bedürftigen Schreibmaterialien vorzuschießen, wenn
deren Mangel die fortdauernde Ursache des bisherigen Verzuges sein sollte."
Gegen einen Fürsten von Salm-Kyrburg schwebte eine Untersuchung wegen
falscher Banknoten, deren Verfertigung er angeklagt war. Dieser alte' Wust


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/111>, abgerufen am 26.08.2024.