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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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durch sein im vorigen Jahre erschienenes Werk "die Musik des neunzehnten
Jahrhunderts und ihre Pflege" sich geneigt gezeigt haben, mit dieser Partei
bis zu einem gewissen Grade zusammenzugehen, so erscheint er als das ver¬
mittelnde Glied zwischen Weimar und dieser Fraction der berliner Musiker.
Seit einigen Wochen hat er außerdem die musikalischen Berichte in der Mon¬
tags erscheinenden "Feuerspritze" übernommen, und es ist in mancher Bezie¬
hung" wünschenswert!), daß die auf jener Seite herrschenden Ansichten und
Wünsche auch durch Worte laut werden, indem dadurch die Defensive erleich¬
tert wird. sowol in der Technik als in der Verwendung des Instruments
zu geistigem Ausdruck gehört Bülow zu den hervorragenden Erscheinungen der
Gegenwart. Er besitzt feurige Empfindung und die Energie des Charakters,
sein Wollen auch äußerlich zu verwirklichen. In allem, was er spielte, in
dem oben erwähnten Lsclur-Concert, wie in der ?me>11-Sonate von Beet¬
hoven, in Bachs von Liszt für Clavier arrangirter mächtigen Orgelfuge, in
Chopins träumerischen, wie in Liszts berauschenden und barocken Compost-
tionen, überall fordert er Achtung. Aber sein Pathos erscheint uns nicht immer
natürlich, nicht von innen heraus und unbekümmert um die Außenwelt erste¬
hend; es ist etwas Declamatoriscb.es, Rhetorisches darin, die Wallungen seines
Spiels erheben sich zu großer Leidenschaft, aber man merkt das Künstliche der
Erregung und bleibt kalt. Viel kommt in der leidenschaftlichen Darstellung
aus das richtige Maß an, noch mehr aber darauf, daß man die Leidenschaften
allmälig und unmerklich entstehen läßt, daß sie sich aus unscheinbaren An¬
fängen gleichsam von selbst emporheben; nur so wird es dem Künstler gelingen,
den ruhigen Zuhörer mit auf seine Höhe zu führen, wenn er an die Natür¬
lichkeit und Nothwendigkeit des innern Verlaufs glauben kann. Steigerungen
dieser Art lassen sich aber nicht berechnen, nur die stets gegenwärtige Kraft
der Phantasie und angeborenes Taktgefühl können hier das richtige Maß geben.

Ich schließe mit einigen Bemerkungen über die beiden Künstler, die uns
durch ihre Concerte den geistreichsten und edelsten Kunstgenuß verschafften, Clara
Schumann und Joachim. Auch sie neigen sich vielfach zu der modernen Schule
hinüber, aber doch mit Maß und Auswahl. Wenn uns freilich die beiden
Sätze aus der ?mo1I-Sonate von BrahmS, die Frau Schumann spielte, in
ihrer Unruhe und Ungleichheit nicht sehr zu erquicken vermochten, so konnten
wir an den symphonischen Etüden von Schumann, einem ältern, aber hier
wenig bekannten Werke, schon reineren Genuß empfinden. Eine neuere Sonat^
von Schumann für Clavier und Violine (vmoll) ist phantasiereich, aber
ebenfalls zu unruhig und gereizt. In dem 6 nur-Concert von Beethoven,
in seiner ^nur-Sonate (0p. 401), in Menelösohns serieusen Varationen
zeigte sich Clara Schumann als vollendete Beherrscherin ihres Instruments;
Joachim trug den Preis davon in der 6 ciur-Romanze von Beethoven, die


durch sein im vorigen Jahre erschienenes Werk „die Musik des neunzehnten
Jahrhunderts und ihre Pflege" sich geneigt gezeigt haben, mit dieser Partei
bis zu einem gewissen Grade zusammenzugehen, so erscheint er als das ver¬
mittelnde Glied zwischen Weimar und dieser Fraction der berliner Musiker.
Seit einigen Wochen hat er außerdem die musikalischen Berichte in der Mon¬
tags erscheinenden „Feuerspritze" übernommen, und es ist in mancher Bezie¬
hung" wünschenswert!), daß die auf jener Seite herrschenden Ansichten und
Wünsche auch durch Worte laut werden, indem dadurch die Defensive erleich¬
tert wird. sowol in der Technik als in der Verwendung des Instruments
zu geistigem Ausdruck gehört Bülow zu den hervorragenden Erscheinungen der
Gegenwart. Er besitzt feurige Empfindung und die Energie des Charakters,
sein Wollen auch äußerlich zu verwirklichen. In allem, was er spielte, in
dem oben erwähnten Lsclur-Concert, wie in der ?me>11-Sonate von Beet¬
hoven, in Bachs von Liszt für Clavier arrangirter mächtigen Orgelfuge, in
Chopins träumerischen, wie in Liszts berauschenden und barocken Compost-
tionen, überall fordert er Achtung. Aber sein Pathos erscheint uns nicht immer
natürlich, nicht von innen heraus und unbekümmert um die Außenwelt erste¬
hend; es ist etwas Declamatoriscb.es, Rhetorisches darin, die Wallungen seines
Spiels erheben sich zu großer Leidenschaft, aber man merkt das Künstliche der
Erregung und bleibt kalt. Viel kommt in der leidenschaftlichen Darstellung
aus das richtige Maß an, noch mehr aber darauf, daß man die Leidenschaften
allmälig und unmerklich entstehen läßt, daß sie sich aus unscheinbaren An¬
fängen gleichsam von selbst emporheben; nur so wird es dem Künstler gelingen,
den ruhigen Zuhörer mit auf seine Höhe zu führen, wenn er an die Natür¬
lichkeit und Nothwendigkeit des innern Verlaufs glauben kann. Steigerungen
dieser Art lassen sich aber nicht berechnen, nur die stets gegenwärtige Kraft
der Phantasie und angeborenes Taktgefühl können hier das richtige Maß geben.

Ich schließe mit einigen Bemerkungen über die beiden Künstler, die uns
durch ihre Concerte den geistreichsten und edelsten Kunstgenuß verschafften, Clara
Schumann und Joachim. Auch sie neigen sich vielfach zu der modernen Schule
hinüber, aber doch mit Maß und Auswahl. Wenn uns freilich die beiden
Sätze aus der ?mo1I-Sonate von BrahmS, die Frau Schumann spielte, in
ihrer Unruhe und Ungleichheit nicht sehr zu erquicken vermochten, so konnten
wir an den symphonischen Etüden von Schumann, einem ältern, aber hier
wenig bekannten Werke, schon reineren Genuß empfinden. Eine neuere Sonat^
von Schumann für Clavier und Violine (vmoll) ist phantasiereich, aber
ebenfalls zu unruhig und gereizt. In dem 6 nur-Concert von Beethoven,
in seiner ^nur-Sonate (0p. 401), in Menelösohns serieusen Varationen
zeigte sich Clara Schumann als vollendete Beherrscherin ihres Instruments;
Joachim trug den Preis davon in der 6 ciur-Romanze von Beethoven, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/101>, abgerufen am 25.08.2024.