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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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weniger günstigen Licht erscheinen. Denn leugnen läßt es sich nicht, daß die
Farben, die er aufzutragen gewohnt ist, für den Concertsaal viel zu grell sind.
Er zerreißt die Stimme in ihre Elemente und bringt damit große dramatische
Effecte hervor; aber für das Concert verlangen wir die geschlossene Einheit
und Harmonie lyrischen Gesangs, der wir wol hier und da Abweichungen
gestatten, aber doch in sanfterer Bewegung. Auch sein Concertrepertoir ist,
wenn wir den Erlkönig von Schubert ausnehmen, uninteressant. Den Erl¬
könig sang er nun fast jedes Mal unter begeistertem Beifall der Hörer, in den
wir aber dies Mal nicht einstimmen können. Roger bleibt dem Inhalt des Ge¬
dichts wol treu, aber nicht dem Geist, in dem Goethe und Schubert diesen
Inhalt künstlerisch dargestellt haben. Das Grauenhafte und Wilde läßt er
als die Hauptsache hervortreten; der tiefe Ernst, die Würde, die in Schuberts
Musik liegt, geht aber dabei verloren. Nur in einer Beziehung war es ange¬
nehm, Roger als Concertsänger zu hören, insofern der Klang des Organs
mächtiger und voller erschien, als in den weiten Räumen des Opernhauses.
Sein Genosse Vinier fand ebenfalls vielen Beifall. Wir legen auf die Kunst,
drei- und vierstimmige Accorde auf dem Horn hervorzubringen, keinen großen
Werth, und auch Linier selbst legt ihn nicht darauf, was ihn aber auszeich¬
net, ist, daß er sich des natürlichen Waldhorns, nicht eines Ventilhorns be¬
dient, und eben dadurch einen viel schöneren Ton seinem Instrumente zu ent¬
locken weiß, als die meisten seiner Kunstgenossen. Schon Wieprecht erklärte
ihn aus diesem Grunde vor zehn Jahren als den -ersten Künstler seines Faches.
Hierzu kommt der seelenvolle Vorrrag der Cantilene, der zwar mitunter zu
absichtlich, aber uns dennoch viel lieber ist, als das gewöhnliche Einerlei, das
von bloßen Technikern als Gleichmäßigkeit angepriesen wird.

Von Anton Rubinstein, der zwei Concerte gab, war in d. Bl. bereits
die Rede.

Auffallend oft hatten wir im vorigen Winter Gelegenheit, Clavier- und
Violinconcerte zu hören. Der Violinconcerte von Mendelssohn und Beethoven
wurde bereits gedacht, beide hörten wir von Bazzini, das erstere außerdem von
Joachim in vollendeter Weise. Der Vollständigkeit wegen erwähne ich das
6 woll-Concert für Clavier von Mendelssohn, das wir zweimal, von
Herrn Steifensand und Frl. Nanette Falk, hörten; ebenfalls zweimal das glän¬
zende und in der Anlage großartige, im Einzelnen zuweilen etwas schroffe
Lg clur-Concert für Clavier von Beethoven, von Hrn. Nadecke und v. Bülow.
Hans v. Bülow, der als Concertgeber hierher kam, hat sich in Berlin als
Clavierlehrer an der unter Leitung von Stern und Marx stehenden Musik¬
schule niedergelassen. Da seine Stellung zu Liszt und der modernen Partei
bekannt ist und Stern durch die für den nächsten Winter bereits angezeigten
modernen Orchesterconeerte, deren eines Liszt selbst dirigiren wird, Marr

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weniger günstigen Licht erscheinen. Denn leugnen läßt es sich nicht, daß die
Farben, die er aufzutragen gewohnt ist, für den Concertsaal viel zu grell sind.
Er zerreißt die Stimme in ihre Elemente und bringt damit große dramatische
Effecte hervor; aber für das Concert verlangen wir die geschlossene Einheit
und Harmonie lyrischen Gesangs, der wir wol hier und da Abweichungen
gestatten, aber doch in sanfterer Bewegung. Auch sein Concertrepertoir ist,
wenn wir den Erlkönig von Schubert ausnehmen, uninteressant. Den Erl¬
könig sang er nun fast jedes Mal unter begeistertem Beifall der Hörer, in den
wir aber dies Mal nicht einstimmen können. Roger bleibt dem Inhalt des Ge¬
dichts wol treu, aber nicht dem Geist, in dem Goethe und Schubert diesen
Inhalt künstlerisch dargestellt haben. Das Grauenhafte und Wilde läßt er
als die Hauptsache hervortreten; der tiefe Ernst, die Würde, die in Schuberts
Musik liegt, geht aber dabei verloren. Nur in einer Beziehung war es ange¬
nehm, Roger als Concertsänger zu hören, insofern der Klang des Organs
mächtiger und voller erschien, als in den weiten Räumen des Opernhauses.
Sein Genosse Vinier fand ebenfalls vielen Beifall. Wir legen auf die Kunst,
drei- und vierstimmige Accorde auf dem Horn hervorzubringen, keinen großen
Werth, und auch Linier selbst legt ihn nicht darauf, was ihn aber auszeich¬
net, ist, daß er sich des natürlichen Waldhorns, nicht eines Ventilhorns be¬
dient, und eben dadurch einen viel schöneren Ton seinem Instrumente zu ent¬
locken weiß, als die meisten seiner Kunstgenossen. Schon Wieprecht erklärte
ihn aus diesem Grunde vor zehn Jahren als den -ersten Künstler seines Faches.
Hierzu kommt der seelenvolle Vorrrag der Cantilene, der zwar mitunter zu
absichtlich, aber uns dennoch viel lieber ist, als das gewöhnliche Einerlei, das
von bloßen Technikern als Gleichmäßigkeit angepriesen wird.

Von Anton Rubinstein, der zwei Concerte gab, war in d. Bl. bereits
die Rede.

Auffallend oft hatten wir im vorigen Winter Gelegenheit, Clavier- und
Violinconcerte zu hören. Der Violinconcerte von Mendelssohn und Beethoven
wurde bereits gedacht, beide hörten wir von Bazzini, das erstere außerdem von
Joachim in vollendeter Weise. Der Vollständigkeit wegen erwähne ich das
6 woll-Concert für Clavier von Mendelssohn, das wir zweimal, von
Herrn Steifensand und Frl. Nanette Falk, hörten; ebenfalls zweimal das glän¬
zende und in der Anlage großartige, im Einzelnen zuweilen etwas schroffe
Lg clur-Concert für Clavier von Beethoven, von Hrn. Nadecke und v. Bülow.
Hans v. Bülow, der als Concertgeber hierher kam, hat sich in Berlin als
Clavierlehrer an der unter Leitung von Stern und Marx stehenden Musik¬
schule niedergelassen. Da seine Stellung zu Liszt und der modernen Partei
bekannt ist und Stern durch die für den nächsten Winter bereits angezeigten
modernen Orchesterconeerte, deren eines Liszt selbst dirigiren wird, Marr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/100>, abgerufen am 25.08.2024.