Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

kranken Glauben führte, die Welt mit ihrem Gesetz sei ein Reich der Lüge.
Dieselbe Erscheinung kehrte bei dem Bruch der mittelalterlichen Ordnung wieder,
sie war der Kern der Romantik oder des Idealismus.

Die Irrfahrten des überspannten Idealismus haben denselben Ausgang,
wie die des überspannten Materialismus. Der Ueberfüllung mit Phantasien
folgt ein noch größerer Ekel als dem materiellen Rausch, denn sie übersättigt
schneller, und je rascher die Illusionen auseinander folgen, desto mehr höhlt
sich die Kraft aus, zu glauben und zu lieben. Wer die Welt verachtet, weil
sie seinen Idealen nicht entspricht, wird sehr bald diesen Idealen gegenüber
das nämliche Gefühl haben, weil ihnen keine Welt entspricht, und wird zuletzt
nur noch vor etwas Hochachtung empfinden: vor der eignen Ironie, die sich
über Welt und Ideal gleichmäßig hinwegsetzt. Faust endigt im Mephistopheles,
wie ja auch dieser Schalk vor grauen Jahren ein überspannter Idealist war,
als er noch Lucifer hieß., Sentimentalität verräth immer einen Mangel an
Gestaltungskraft, und Ironie ist häufig nur der Ausfluß ungesunder und daher
getäuschter Sentimentalität: die kritische Kälte, welche der schöpferischen Glut
eine Form zu geben bestimmt war, macht sich dann nachträglich in einem un¬
fruchtbaren Sprühregen geltend. Die Jntensivität der .Empfindung ist nur
scheinbar, denn sie ist stofflos: ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem
Mangel an Widerstand, in. dem wissenschaftlichen oder naiven Nichtachten aller
Schranke. Ihre Ideale entspringen nicht aus der Kraft der Liebe, sondern aus
dem Bewußtsein der Schwäche und aus dem Haß des Vollkommenen; sie
glaubt nur darum an Gott, d. h. an die ideale Auflösung aller Widersprüche,
um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Herzenslust blasphemiren
zu können.

Es lag in- der Natur der Sache, daß die Wiederaufnahme eines Problems
in einer Zeit, die bereits eine andere sittliche Ueberzeugung mit sich geführt
hatte, zu dem Versuch führen mußte, das was ursprünglich nur als ein kühnes,
fast freches Räthsel gemeint war, zu einem harmonischen und befriedigenden
Abschluß zu bringen. Aber eben weil es nicht möglich ist, ein einziges Gedicht
aus verschiedene und widersprechende Grundstimmungen aufzubauen, mußte
dieser Versuch scheitern, wenn auch im einzelnen viele interessante und anziehende
Erscheinungen daraus hervorgehen konnten.

Nehmen wir die Jahre 1771, 1790, 1808 und 1831, so ergibt sich zwischen
den verschiedenen Bearbeitungen des Faust ein ziemlich gleichmäßiger periodischer
Abschnitt. Der Faust war eine der ersten Conceptionen, die. das kühne, empor¬
strebende Gemüth des jungen Dichters faßte, er beschäftigte ihn. bis an seinen
Tod, und von allen Strömungen, die ihn eine Zeit seines Lebens bewegt
haben, findet sich wenigstens eine Spur in diesem aufs unendliche angelegten
Werk. Jene Zeit der blinden Verehrung für Goethe, in welcher man' grade


kranken Glauben führte, die Welt mit ihrem Gesetz sei ein Reich der Lüge.
Dieselbe Erscheinung kehrte bei dem Bruch der mittelalterlichen Ordnung wieder,
sie war der Kern der Romantik oder des Idealismus.

Die Irrfahrten des überspannten Idealismus haben denselben Ausgang,
wie die des überspannten Materialismus. Der Ueberfüllung mit Phantasien
folgt ein noch größerer Ekel als dem materiellen Rausch, denn sie übersättigt
schneller, und je rascher die Illusionen auseinander folgen, desto mehr höhlt
sich die Kraft aus, zu glauben und zu lieben. Wer die Welt verachtet, weil
sie seinen Idealen nicht entspricht, wird sehr bald diesen Idealen gegenüber
das nämliche Gefühl haben, weil ihnen keine Welt entspricht, und wird zuletzt
nur noch vor etwas Hochachtung empfinden: vor der eignen Ironie, die sich
über Welt und Ideal gleichmäßig hinwegsetzt. Faust endigt im Mephistopheles,
wie ja auch dieser Schalk vor grauen Jahren ein überspannter Idealist war,
als er noch Lucifer hieß., Sentimentalität verräth immer einen Mangel an
Gestaltungskraft, und Ironie ist häufig nur der Ausfluß ungesunder und daher
getäuschter Sentimentalität: die kritische Kälte, welche der schöpferischen Glut
eine Form zu geben bestimmt war, macht sich dann nachträglich in einem un¬
fruchtbaren Sprühregen geltend. Die Jntensivität der .Empfindung ist nur
scheinbar, denn sie ist stofflos: ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem
Mangel an Widerstand, in. dem wissenschaftlichen oder naiven Nichtachten aller
Schranke. Ihre Ideale entspringen nicht aus der Kraft der Liebe, sondern aus
dem Bewußtsein der Schwäche und aus dem Haß des Vollkommenen; sie
glaubt nur darum an Gott, d. h. an die ideale Auflösung aller Widersprüche,
um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Herzenslust blasphemiren
zu können.

Es lag in- der Natur der Sache, daß die Wiederaufnahme eines Problems
in einer Zeit, die bereits eine andere sittliche Ueberzeugung mit sich geführt
hatte, zu dem Versuch führen mußte, das was ursprünglich nur als ein kühnes,
fast freches Räthsel gemeint war, zu einem harmonischen und befriedigenden
Abschluß zu bringen. Aber eben weil es nicht möglich ist, ein einziges Gedicht
aus verschiedene und widersprechende Grundstimmungen aufzubauen, mußte
dieser Versuch scheitern, wenn auch im einzelnen viele interessante und anziehende
Erscheinungen daraus hervorgehen konnten.

Nehmen wir die Jahre 1771, 1790, 1808 und 1831, so ergibt sich zwischen
den verschiedenen Bearbeitungen des Faust ein ziemlich gleichmäßiger periodischer
Abschnitt. Der Faust war eine der ersten Conceptionen, die. das kühne, empor¬
strebende Gemüth des jungen Dichters faßte, er beschäftigte ihn. bis an seinen
Tod, und von allen Strömungen, die ihn eine Zeit seines Lebens bewegt
haben, findet sich wenigstens eine Spur in diesem aufs unendliche angelegten
Werk. Jene Zeit der blinden Verehrung für Goethe, in welcher man' grade


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98280"/>
          <p xml:id="ID_1603" prev="#ID_1602"> kranken Glauben führte, die Welt mit ihrem Gesetz sei ein Reich der Lüge.<lb/>
Dieselbe Erscheinung kehrte bei dem Bruch der mittelalterlichen Ordnung wieder,<lb/>
sie war der Kern der Romantik oder des Idealismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1604"> Die Irrfahrten des überspannten Idealismus haben denselben Ausgang,<lb/>
wie die des überspannten Materialismus. Der Ueberfüllung mit Phantasien<lb/>
folgt ein noch größerer Ekel als dem materiellen Rausch, denn sie übersättigt<lb/>
schneller, und je rascher die Illusionen auseinander folgen, desto mehr höhlt<lb/>
sich die Kraft aus, zu glauben und zu lieben. Wer die Welt verachtet, weil<lb/>
sie seinen Idealen nicht entspricht, wird sehr bald diesen Idealen gegenüber<lb/>
das nämliche Gefühl haben, weil ihnen keine Welt entspricht, und wird zuletzt<lb/>
nur noch vor etwas Hochachtung empfinden: vor der eignen Ironie, die sich<lb/>
über Welt und Ideal gleichmäßig hinwegsetzt. Faust endigt im Mephistopheles,<lb/>
wie ja auch dieser Schalk vor grauen Jahren ein überspannter Idealist war,<lb/>
als er noch Lucifer hieß., Sentimentalität verräth immer einen Mangel an<lb/>
Gestaltungskraft, und Ironie ist häufig nur der Ausfluß ungesunder und daher<lb/>
getäuschter Sentimentalität: die kritische Kälte, welche der schöpferischen Glut<lb/>
eine Form zu geben bestimmt war, macht sich dann nachträglich in einem un¬<lb/>
fruchtbaren Sprühregen geltend. Die Jntensivität der .Empfindung ist nur<lb/>
scheinbar, denn sie ist stofflos: ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem<lb/>
Mangel an Widerstand, in. dem wissenschaftlichen oder naiven Nichtachten aller<lb/>
Schranke. Ihre Ideale entspringen nicht aus der Kraft der Liebe, sondern aus<lb/>
dem Bewußtsein der Schwäche und aus dem Haß des Vollkommenen; sie<lb/>
glaubt nur darum an Gott, d. h. an die ideale Auflösung aller Widersprüche,<lb/>
um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Herzenslust blasphemiren<lb/>
zu können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1605"> Es lag in- der Natur der Sache, daß die Wiederaufnahme eines Problems<lb/>
in einer Zeit, die bereits eine andere sittliche Ueberzeugung mit sich geführt<lb/>
hatte, zu dem Versuch führen mußte, das was ursprünglich nur als ein kühnes,<lb/>
fast freches Räthsel gemeint war, zu einem harmonischen und befriedigenden<lb/>
Abschluß zu bringen. Aber eben weil es nicht möglich ist, ein einziges Gedicht<lb/>
aus verschiedene und widersprechende Grundstimmungen aufzubauen, mußte<lb/>
dieser Versuch scheitern, wenn auch im einzelnen viele interessante und anziehende<lb/>
Erscheinungen daraus hervorgehen konnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1606" next="#ID_1607"> Nehmen wir die Jahre 1771, 1790, 1808 und 1831, so ergibt sich zwischen<lb/>
den verschiedenen Bearbeitungen des Faust ein ziemlich gleichmäßiger periodischer<lb/>
Abschnitt. Der Faust war eine der ersten Conceptionen, die. das kühne, empor¬<lb/>
strebende Gemüth des jungen Dichters faßte, er beschäftigte ihn. bis an seinen<lb/>
Tod, und von allen Strömungen, die ihn eine Zeit seines Lebens bewegt<lb/>
haben, findet sich wenigstens eine Spur in diesem aufs unendliche angelegten<lb/>
Werk.  Jene Zeit der blinden Verehrung für Goethe, in welcher man' grade</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] kranken Glauben führte, die Welt mit ihrem Gesetz sei ein Reich der Lüge. Dieselbe Erscheinung kehrte bei dem Bruch der mittelalterlichen Ordnung wieder, sie war der Kern der Romantik oder des Idealismus. Die Irrfahrten des überspannten Idealismus haben denselben Ausgang, wie die des überspannten Materialismus. Der Ueberfüllung mit Phantasien folgt ein noch größerer Ekel als dem materiellen Rausch, denn sie übersättigt schneller, und je rascher die Illusionen auseinander folgen, desto mehr höhlt sich die Kraft aus, zu glauben und zu lieben. Wer die Welt verachtet, weil sie seinen Idealen nicht entspricht, wird sehr bald diesen Idealen gegenüber das nämliche Gefühl haben, weil ihnen keine Welt entspricht, und wird zuletzt nur noch vor etwas Hochachtung empfinden: vor der eignen Ironie, die sich über Welt und Ideal gleichmäßig hinwegsetzt. Faust endigt im Mephistopheles, wie ja auch dieser Schalk vor grauen Jahren ein überspannter Idealist war, als er noch Lucifer hieß., Sentimentalität verräth immer einen Mangel an Gestaltungskraft, und Ironie ist häufig nur der Ausfluß ungesunder und daher getäuschter Sentimentalität: die kritische Kälte, welche der schöpferischen Glut eine Form zu geben bestimmt war, macht sich dann nachträglich in einem un¬ fruchtbaren Sprühregen geltend. Die Jntensivität der .Empfindung ist nur scheinbar, denn sie ist stofflos: ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem Mangel an Widerstand, in. dem wissenschaftlichen oder naiven Nichtachten aller Schranke. Ihre Ideale entspringen nicht aus der Kraft der Liebe, sondern aus dem Bewußtsein der Schwäche und aus dem Haß des Vollkommenen; sie glaubt nur darum an Gott, d. h. an die ideale Auflösung aller Widersprüche, um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Herzenslust blasphemiren zu können. Es lag in- der Natur der Sache, daß die Wiederaufnahme eines Problems in einer Zeit, die bereits eine andere sittliche Ueberzeugung mit sich geführt hatte, zu dem Versuch führen mußte, das was ursprünglich nur als ein kühnes, fast freches Räthsel gemeint war, zu einem harmonischen und befriedigenden Abschluß zu bringen. Aber eben weil es nicht möglich ist, ein einziges Gedicht aus verschiedene und widersprechende Grundstimmungen aufzubauen, mußte dieser Versuch scheitern, wenn auch im einzelnen viele interessante und anziehende Erscheinungen daraus hervorgehen konnten. Nehmen wir die Jahre 1771, 1790, 1808 und 1831, so ergibt sich zwischen den verschiedenen Bearbeitungen des Faust ein ziemlich gleichmäßiger periodischer Abschnitt. Der Faust war eine der ersten Conceptionen, die. das kühne, empor¬ strebende Gemüth des jungen Dichters faßte, er beschäftigte ihn. bis an seinen Tod, und von allen Strömungen, die ihn eine Zeit seines Lebens bewegt haben, findet sich wenigstens eine Spur in diesem aufs unendliche angelegten Werk. Jene Zeit der blinden Verehrung für Goethe, in welcher man' grade

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/499>, abgerufen am 23.07.2024.