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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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der Zeit aus, die als Reaction gegen eine vorhergehende Einseitigkeit ihre voll¬
kommene Berechtigung hatte, die aber von dem Dichter bereits selbst durch
einen weit höhern Standpunkt überwunden war, als er es unternahm, das
Gedicht in der Stimmung und im Geschmack der Zeit, der es seinen Ursprung
verdankt, weiter fortzuführen. Die Sturm- und Drangperiode der deutschen
Literatur war hervorgerufen durch die Abstractionen des 4 8. Jahrhunderts,
welches in starrer Gesetzlichkeit das individuelle Leben, in dürrem Verstandes-
mechaniömus das Gefühl und die Phantasie, in mathematischer Deduction die
unmittelbare Anschauung zu unterdrücken strebte. Die Periode der Aufklärung
war durchaus dogmatisch, so lebhaft sie gegen den Dogmatismus der christ¬
lichen Religion ankämpfte. Sie gab ihre moralischen und physischen Wahr¬
heiten wie geprägte Münzen aus, lind duldete keine Individualität, die ihren
aufs kleinliche angelegten Gesetzen widersprach. Die Apologie der Empfindung,
der Leidenschaft, der Träumerei, des Humors und der Fratzenhaftigkeit, wie
wir sie in allen Dichtern der Sturm- und Dra^Meriode auftreten sehen, wie
sie außerdem in der gleichzeitigen englischen und.auch in seinem Theile der
französischen Poesie sich Bahn'brach, wär daM sehr begreiflich. Wir nennen
aus der unendlichen Zahl der dahjn eiMAagenIven Schriften nur Heinses
Ardinghello, Jacvbiö Allwill und den Heinri'es v.'Ofterdingen von Novalis:
das erste die Vertheidigung, der sinnlichen Brunst efegen alle Vorschriften der
Moral, das zweite die Rechtfertigung der Individualität im allgemeinen gegen
Mariner und Abstvaetionen, das dritte die Verherrlichung des Traumlebens
gegen die Wirklichkeit. In allen dreien grassirt die Idee der stoffloser Un¬
endlichkeit, die sich über den Erdball erheben möchte, um ungebunden im Reich
der Phantasie zu flattxxü. Diese Neigung wurde genährt durch die Wieder¬
aufnahme der alten Mystiker, an denen sich die sogenannte Naturphilosophie
aufbaute, durch die Entdeckung der romantischen Poesie, deren märchenhafte
Dämmerung das frostige Tageslicht der Aufklärung reizend" unterbrach und
durch den wiederauflebenden religiösen Sinn, der nicht wie der frühere von
einer Offenbarung ausging, fondern nach einer Offenbarung suchte. Die Welt
sehnte sich nach einem Wunder, das ihr die verhaßten, poesielosen Gesetze der
sittlichen und der physischen Natur aus den Augen schaffte. Jeder Philosoph,
jeder Dichter fühlte sich als ein Magier, dessen Zauberstab die geistlosen Be¬
stimmungen der Wirklichkeit keinen Widerstand leisten könnten. D>e Natur,
die sich dem Messer des Anatomen, dem Schmelztiegel des Chemikers und'dem
Fernrohr des Mathematikers eröffnete, verachtete man, weil sie sich in die Prosa
der Mathematik verlor, und weil sie das wirkliche, dem Gemüth und der
Phantasie entsprechende Leben.verbarg. Man suchte die Geheimnisse der echten
und wahren Natur hinter dieser angeblichen. Hülle, und glaubte, daß nur die
schaffende Genialität, nur die Magie der Kunst das Zauberwort aussprechen


der Zeit aus, die als Reaction gegen eine vorhergehende Einseitigkeit ihre voll¬
kommene Berechtigung hatte, die aber von dem Dichter bereits selbst durch
einen weit höhern Standpunkt überwunden war, als er es unternahm, das
Gedicht in der Stimmung und im Geschmack der Zeit, der es seinen Ursprung
verdankt, weiter fortzuführen. Die Sturm- und Drangperiode der deutschen
Literatur war hervorgerufen durch die Abstractionen des 4 8. Jahrhunderts,
welches in starrer Gesetzlichkeit das individuelle Leben, in dürrem Verstandes-
mechaniömus das Gefühl und die Phantasie, in mathematischer Deduction die
unmittelbare Anschauung zu unterdrücken strebte. Die Periode der Aufklärung
war durchaus dogmatisch, so lebhaft sie gegen den Dogmatismus der christ¬
lichen Religion ankämpfte. Sie gab ihre moralischen und physischen Wahr¬
heiten wie geprägte Münzen aus, lind duldete keine Individualität, die ihren
aufs kleinliche angelegten Gesetzen widersprach. Die Apologie der Empfindung,
der Leidenschaft, der Träumerei, des Humors und der Fratzenhaftigkeit, wie
wir sie in allen Dichtern der Sturm- und Dra^Meriode auftreten sehen, wie
sie außerdem in der gleichzeitigen englischen und.auch in seinem Theile der
französischen Poesie sich Bahn'brach, wär daM sehr begreiflich. Wir nennen
aus der unendlichen Zahl der dahjn eiMAagenIven Schriften nur Heinses
Ardinghello, Jacvbiö Allwill und den Heinri'es v.'Ofterdingen von Novalis:
das erste die Vertheidigung, der sinnlichen Brunst efegen alle Vorschriften der
Moral, das zweite die Rechtfertigung der Individualität im allgemeinen gegen
Mariner und Abstvaetionen, das dritte die Verherrlichung des Traumlebens
gegen die Wirklichkeit. In allen dreien grassirt die Idee der stoffloser Un¬
endlichkeit, die sich über den Erdball erheben möchte, um ungebunden im Reich
der Phantasie zu flattxxü. Diese Neigung wurde genährt durch die Wieder¬
aufnahme der alten Mystiker, an denen sich die sogenannte Naturphilosophie
aufbaute, durch die Entdeckung der romantischen Poesie, deren märchenhafte
Dämmerung das frostige Tageslicht der Aufklärung reizend" unterbrach und
durch den wiederauflebenden religiösen Sinn, der nicht wie der frühere von
einer Offenbarung ausging, fondern nach einer Offenbarung suchte. Die Welt
sehnte sich nach einem Wunder, das ihr die verhaßten, poesielosen Gesetze der
sittlichen und der physischen Natur aus den Augen schaffte. Jeder Philosoph,
jeder Dichter fühlte sich als ein Magier, dessen Zauberstab die geistlosen Be¬
stimmungen der Wirklichkeit keinen Widerstand leisten könnten. D>e Natur,
die sich dem Messer des Anatomen, dem Schmelztiegel des Chemikers und'dem
Fernrohr des Mathematikers eröffnete, verachtete man, weil sie sich in die Prosa
der Mathematik verlor, und weil sie das wirkliche, dem Gemüth und der
Phantasie entsprechende Leben.verbarg. Man suchte die Geheimnisse der echten
und wahren Natur hinter dieser angeblichen. Hülle, und glaubte, daß nur die
schaffende Genialität, nur die Magie der Kunst das Zauberwort aussprechen


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[0498] der Zeit aus, die als Reaction gegen eine vorhergehende Einseitigkeit ihre voll¬ kommene Berechtigung hatte, die aber von dem Dichter bereits selbst durch einen weit höhern Standpunkt überwunden war, als er es unternahm, das Gedicht in der Stimmung und im Geschmack der Zeit, der es seinen Ursprung verdankt, weiter fortzuführen. Die Sturm- und Drangperiode der deutschen Literatur war hervorgerufen durch die Abstractionen des 4 8. Jahrhunderts, welches in starrer Gesetzlichkeit das individuelle Leben, in dürrem Verstandes- mechaniömus das Gefühl und die Phantasie, in mathematischer Deduction die unmittelbare Anschauung zu unterdrücken strebte. Die Periode der Aufklärung war durchaus dogmatisch, so lebhaft sie gegen den Dogmatismus der christ¬ lichen Religion ankämpfte. Sie gab ihre moralischen und physischen Wahr¬ heiten wie geprägte Münzen aus, lind duldete keine Individualität, die ihren aufs kleinliche angelegten Gesetzen widersprach. Die Apologie der Empfindung, der Leidenschaft, der Träumerei, des Humors und der Fratzenhaftigkeit, wie wir sie in allen Dichtern der Sturm- und Dra^Meriode auftreten sehen, wie sie außerdem in der gleichzeitigen englischen und.auch in seinem Theile der französischen Poesie sich Bahn'brach, wär daM sehr begreiflich. Wir nennen aus der unendlichen Zahl der dahjn eiMAagenIven Schriften nur Heinses Ardinghello, Jacvbiö Allwill und den Heinri'es v.'Ofterdingen von Novalis: das erste die Vertheidigung, der sinnlichen Brunst efegen alle Vorschriften der Moral, das zweite die Rechtfertigung der Individualität im allgemeinen gegen Mariner und Abstvaetionen, das dritte die Verherrlichung des Traumlebens gegen die Wirklichkeit. In allen dreien grassirt die Idee der stoffloser Un¬ endlichkeit, die sich über den Erdball erheben möchte, um ungebunden im Reich der Phantasie zu flattxxü. Diese Neigung wurde genährt durch die Wieder¬ aufnahme der alten Mystiker, an denen sich die sogenannte Naturphilosophie aufbaute, durch die Entdeckung der romantischen Poesie, deren märchenhafte Dämmerung das frostige Tageslicht der Aufklärung reizend" unterbrach und durch den wiederauflebenden religiösen Sinn, der nicht wie der frühere von einer Offenbarung ausging, fondern nach einer Offenbarung suchte. Die Welt sehnte sich nach einem Wunder, das ihr die verhaßten, poesielosen Gesetze der sittlichen und der physischen Natur aus den Augen schaffte. Jeder Philosoph, jeder Dichter fühlte sich als ein Magier, dessen Zauberstab die geistlosen Be¬ stimmungen der Wirklichkeit keinen Widerstand leisten könnten. D>e Natur, die sich dem Messer des Anatomen, dem Schmelztiegel des Chemikers und'dem Fernrohr des Mathematikers eröffnete, verachtete man, weil sie sich in die Prosa der Mathematik verlor, und weil sie das wirkliche, dem Gemüth und der Phantasie entsprechende Leben.verbarg. Man suchte die Geheimnisse der echten und wahren Natur hinter dieser angeblichen. Hülle, und glaubte, daß nur die schaffende Genialität, nur die Magie der Kunst das Zauberwort aussprechen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/497>, abgerufen am 22.12.2024.