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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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bei allen ihm drohenden Gefahren auch über Preußens militärische Kräfte verfügen zu
können, und daß demnach in der Erneuerung des Vertrags an Oestreich mindestens
eine starke Versuchung herantreten wird, sich seinen den Wcstmächten gegebenen Zusiche-
rungen zu entziehen. Wir glauben nicht, daß Oestreich dieser Versuchung erliegen
wird; denn wir hören, daß es den Vertrag zwar erneuern will, gegen den Abschluß
eines Ncntralitätsbündnisscs aber Bedenken hegt; dennoch bleibt die Thatsache stehen,
daß Preußen den Versuch gemacht hat, Oestreich von der gemeinschaftlichen Sache
Europas abtrünnig zu machen, und daß es in diesem Versuch bis zur äußersten Grenze
der Selbstverleugnung gegangen ist, ohne eignen Vortheil dem östreichischen Staat
alle seine Kräfte zur Disposition gestellt hat. Wir fragen: in welchem Lichte muß
Preußen den Wcstmächten erscheinen?

Unsere Hoffnung, daß Oestreich dem Bunde beitreten werdender gegen die russische
Präponderanz die Waffen ergriffen hat, scheint durch die Thatsachen erschüttert zu
werden, daß Oestreich den Feldzeugmeister Heß zur Erneuerung des erwähnten Ver¬
trages nach Berlin sendet und daß es in den italienischen Provinzen eine formidable
Truppenmacht entwickelt. Beides scheint auf der Voraussetzung eines Zusammenstoßes
mit dem Westen zu beruhen. Wir können indeß diese Auffassung nicht theilen. Oestreich
hat nie einen solchen Fanatismus der Dieustbeslisseuhcit geäußert, daß seine Regierung
jetzt, wo sie an der Spitze zweier Großmächte steht, die gewaltige zu ihrer Disposition
stehende Kraft dazu anwenden könnte, russischen Interessen da zu dienen, wo sie deu
östreichische" so entschieden widerstreiten, wie es an der untern Donau der Fall ist,
Oestreich kauu vielmehr --- wie uns scheint -- durch den preußischen Vertrag und
durch die Entwicklung! großer Streitkräfte nur zeigen wollen, daß es aller Besorgnisse
vor innern Gefahren enthoben, nicht wider seinen Willen durch den Druck der Ver¬
hältnisse getrieben, sondern aus freiem Entschlüsse als ein achtunggebietendes Mitglied,
welches die Bedingungen für seine Unterstützung formuliren kann, der großen Allianz
beitritt. Wir glauben, daß Oestreich die günstige Stellung, die wir--aufgaben und
zu der wir den Nachbarstaat ans unsern Schultern erhoben, ausbeuten wird.


Literatur.'

-- Denkwürdigkeiten, gesammelt aus dem Archiv des Reichs-
kammergcrichts zu Wetzlar. von 9r. Paul Wigand, Leipzig, S.Hirzel.-- Die
Actenstücke des deutscheu ReichskammcrgerichtS sind bekanntlich vor einiger Zeit wie die
Reste der deutschen Flotte an die verschiedenen deutschen Staaten vertheilt worden. Der
Stadtgcrichtsdircctor. Wigand, der mit einem Theile der dazu nöthigen Vorarbeiten be¬
auftragt war, theilt uns zunächst eine Denkschrift an das preußische Ministerium mit,
in welcher auf die hohe Bedeutung'dieser Actenstücke für die deutsche' Rechtsgeschichte
aufmerksam gemacht wird und gibt sodann eine Reihe höchst interessanter Auszüge, die
gleichsam den Beleg für, seine Behauptung bilden sollen. Das Reichskammergericht war
schon in der Zeit seiner Gründung der Ausdruck einer der merkwürdigsten Uebergangs-
perioden in unserer Ncchtsentwicklnng. Wenn auch das Unternehmen aus den mannig¬
faltigsten Gründen fast nach allen Seite" hin falsch oder wenigstens ungenügend be¬
gonnen wurde, so war es doch a" sich el" ganz nothwendiger Act i" dem öffentliche"
Rechtsbewußtsein. Es galt die bisherige naturwüchsige Ausübung des Rechts durch ein
zwar nicht gleichmäßiges, aber wenigstens an Principien geknüpftes, geschriebenes Recht
zu ersetzen. Wir sind namentlich durch poetische Darstellungen häufig verführt worden,
diesen Untergang der alten Nechtsgcwohnheiten zu bedauern, den uus z. B. Göthes
Götz von Berlichingen in s" beredten und ansprechenden Formen darstellt. Was es
aber mit diesem Naturwuchs aus sich hatte, wird man am besten aus diesen Auszügen
entnehmen, wo sast überall, wenn sich ein Conflict zwischen den bisherigen Schöppen-
gerichten und dem Reichskammergericht erhob, die Vernunft und das materielle Recht ans
Seiten des letzteren war, während die Schöppengcrichte auf eine Weise in Willkür,
Vorurtheil und Eigennutz verstrickt waren, daß wir zuweilen darüber erschrecken. Na-


bei allen ihm drohenden Gefahren auch über Preußens militärische Kräfte verfügen zu
können, und daß demnach in der Erneuerung des Vertrags an Oestreich mindestens
eine starke Versuchung herantreten wird, sich seinen den Wcstmächten gegebenen Zusiche-
rungen zu entziehen. Wir glauben nicht, daß Oestreich dieser Versuchung erliegen
wird; denn wir hören, daß es den Vertrag zwar erneuern will, gegen den Abschluß
eines Ncntralitätsbündnisscs aber Bedenken hegt; dennoch bleibt die Thatsache stehen,
daß Preußen den Versuch gemacht hat, Oestreich von der gemeinschaftlichen Sache
Europas abtrünnig zu machen, und daß es in diesem Versuch bis zur äußersten Grenze
der Selbstverleugnung gegangen ist, ohne eignen Vortheil dem östreichischen Staat
alle seine Kräfte zur Disposition gestellt hat. Wir fragen: in welchem Lichte muß
Preußen den Wcstmächten erscheinen?

Unsere Hoffnung, daß Oestreich dem Bunde beitreten werdender gegen die russische
Präponderanz die Waffen ergriffen hat, scheint durch die Thatsachen erschüttert zu
werden, daß Oestreich den Feldzeugmeister Heß zur Erneuerung des erwähnten Ver¬
trages nach Berlin sendet und daß es in den italienischen Provinzen eine formidable
Truppenmacht entwickelt. Beides scheint auf der Voraussetzung eines Zusammenstoßes
mit dem Westen zu beruhen. Wir können indeß diese Auffassung nicht theilen. Oestreich
hat nie einen solchen Fanatismus der Dieustbeslisseuhcit geäußert, daß seine Regierung
jetzt, wo sie an der Spitze zweier Großmächte steht, die gewaltige zu ihrer Disposition
stehende Kraft dazu anwenden könnte, russischen Interessen da zu dienen, wo sie deu
östreichische» so entschieden widerstreiten, wie es an der untern Donau der Fall ist,
Oestreich kauu vielmehr -— wie uns scheint — durch den preußischen Vertrag und
durch die Entwicklung! großer Streitkräfte nur zeigen wollen, daß es aller Besorgnisse
vor innern Gefahren enthoben, nicht wider seinen Willen durch den Druck der Ver¬
hältnisse getrieben, sondern aus freiem Entschlüsse als ein achtunggebietendes Mitglied,
welches die Bedingungen für seine Unterstützung formuliren kann, der großen Allianz
beitritt. Wir glauben, daß Oestreich die günstige Stellung, die wir--aufgaben und
zu der wir den Nachbarstaat ans unsern Schultern erhoben, ausbeuten wird.


Literatur.'

— Denkwürdigkeiten, gesammelt aus dem Archiv des Reichs-
kammergcrichts zu Wetzlar. von 9r. Paul Wigand, Leipzig, S.Hirzel.— Die
Actenstücke des deutscheu ReichskammcrgerichtS sind bekanntlich vor einiger Zeit wie die
Reste der deutschen Flotte an die verschiedenen deutschen Staaten vertheilt worden. Der
Stadtgcrichtsdircctor. Wigand, der mit einem Theile der dazu nöthigen Vorarbeiten be¬
auftragt war, theilt uns zunächst eine Denkschrift an das preußische Ministerium mit,
in welcher auf die hohe Bedeutung'dieser Actenstücke für die deutsche' Rechtsgeschichte
aufmerksam gemacht wird und gibt sodann eine Reihe höchst interessanter Auszüge, die
gleichsam den Beleg für, seine Behauptung bilden sollen. Das Reichskammergericht war
schon in der Zeit seiner Gründung der Ausdruck einer der merkwürdigsten Uebergangs-
perioden in unserer Ncchtsentwicklnng. Wenn auch das Unternehmen aus den mannig¬
faltigsten Gründen fast nach allen Seite» hin falsch oder wenigstens ungenügend be¬
gonnen wurde, so war es doch a» sich el» ganz nothwendiger Act i» dem öffentliche»
Rechtsbewußtsein. Es galt die bisherige naturwüchsige Ausübung des Rechts durch ein
zwar nicht gleichmäßiges, aber wenigstens an Principien geknüpftes, geschriebenes Recht
zu ersetzen. Wir sind namentlich durch poetische Darstellungen häufig verführt worden,
diesen Untergang der alten Nechtsgcwohnheiten zu bedauern, den uus z. B. Göthes
Götz von Berlichingen in s» beredten und ansprechenden Formen darstellt. Was es
aber mit diesem Naturwuchs aus sich hatte, wird man am besten aus diesen Auszügen
entnehmen, wo sast überall, wenn sich ein Conflict zwischen den bisherigen Schöppen-
gerichten und dem Reichskammergericht erhob, die Vernunft und das materielle Recht ans
Seiten des letzteren war, während die Schöppengcrichte auf eine Weise in Willkür,
Vorurtheil und Eigennutz verstrickt waren, daß wir zuweilen darüber erschrecken. Na-


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[0047] bei allen ihm drohenden Gefahren auch über Preußens militärische Kräfte verfügen zu können, und daß demnach in der Erneuerung des Vertrags an Oestreich mindestens eine starke Versuchung herantreten wird, sich seinen den Wcstmächten gegebenen Zusiche- rungen zu entziehen. Wir glauben nicht, daß Oestreich dieser Versuchung erliegen wird; denn wir hören, daß es den Vertrag zwar erneuern will, gegen den Abschluß eines Ncntralitätsbündnisscs aber Bedenken hegt; dennoch bleibt die Thatsache stehen, daß Preußen den Versuch gemacht hat, Oestreich von der gemeinschaftlichen Sache Europas abtrünnig zu machen, und daß es in diesem Versuch bis zur äußersten Grenze der Selbstverleugnung gegangen ist, ohne eignen Vortheil dem östreichischen Staat alle seine Kräfte zur Disposition gestellt hat. Wir fragen: in welchem Lichte muß Preußen den Wcstmächten erscheinen? Unsere Hoffnung, daß Oestreich dem Bunde beitreten werdender gegen die russische Präponderanz die Waffen ergriffen hat, scheint durch die Thatsachen erschüttert zu werden, daß Oestreich den Feldzeugmeister Heß zur Erneuerung des erwähnten Ver¬ trages nach Berlin sendet und daß es in den italienischen Provinzen eine formidable Truppenmacht entwickelt. Beides scheint auf der Voraussetzung eines Zusammenstoßes mit dem Westen zu beruhen. Wir können indeß diese Auffassung nicht theilen. Oestreich hat nie einen solchen Fanatismus der Dieustbeslisseuhcit geäußert, daß seine Regierung jetzt, wo sie an der Spitze zweier Großmächte steht, die gewaltige zu ihrer Disposition stehende Kraft dazu anwenden könnte, russischen Interessen da zu dienen, wo sie deu östreichische» so entschieden widerstreiten, wie es an der untern Donau der Fall ist, Oestreich kauu vielmehr -— wie uns scheint — durch den preußischen Vertrag und durch die Entwicklung! großer Streitkräfte nur zeigen wollen, daß es aller Besorgnisse vor innern Gefahren enthoben, nicht wider seinen Willen durch den Druck der Ver¬ hältnisse getrieben, sondern aus freiem Entschlüsse als ein achtunggebietendes Mitglied, welches die Bedingungen für seine Unterstützung formuliren kann, der großen Allianz beitritt. Wir glauben, daß Oestreich die günstige Stellung, die wir--aufgaben und zu der wir den Nachbarstaat ans unsern Schultern erhoben, ausbeuten wird. Literatur.' — Denkwürdigkeiten, gesammelt aus dem Archiv des Reichs- kammergcrichts zu Wetzlar. von 9r. Paul Wigand, Leipzig, S.Hirzel.— Die Actenstücke des deutscheu ReichskammcrgerichtS sind bekanntlich vor einiger Zeit wie die Reste der deutschen Flotte an die verschiedenen deutschen Staaten vertheilt worden. Der Stadtgcrichtsdircctor. Wigand, der mit einem Theile der dazu nöthigen Vorarbeiten be¬ auftragt war, theilt uns zunächst eine Denkschrift an das preußische Ministerium mit, in welcher auf die hohe Bedeutung'dieser Actenstücke für die deutsche' Rechtsgeschichte aufmerksam gemacht wird und gibt sodann eine Reihe höchst interessanter Auszüge, die gleichsam den Beleg für, seine Behauptung bilden sollen. Das Reichskammergericht war schon in der Zeit seiner Gründung der Ausdruck einer der merkwürdigsten Uebergangs- perioden in unserer Ncchtsentwicklnng. Wenn auch das Unternehmen aus den mannig¬ faltigsten Gründen fast nach allen Seite» hin falsch oder wenigstens ungenügend be¬ gonnen wurde, so war es doch a» sich el» ganz nothwendiger Act i» dem öffentliche» Rechtsbewußtsein. Es galt die bisherige naturwüchsige Ausübung des Rechts durch ein zwar nicht gleichmäßiges, aber wenigstens an Principien geknüpftes, geschriebenes Recht zu ersetzen. Wir sind namentlich durch poetische Darstellungen häufig verführt worden, diesen Untergang der alten Nechtsgcwohnheiten zu bedauern, den uus z. B. Göthes Götz von Berlichingen in s» beredten und ansprechenden Formen darstellt. Was es aber mit diesem Naturwuchs aus sich hatte, wird man am besten aus diesen Auszügen entnehmen, wo sast überall, wenn sich ein Conflict zwischen den bisherigen Schöppen- gerichten und dem Reichskammergericht erhob, die Vernunft und das materielle Recht ans Seiten des letzteren war, während die Schöppengcrichte auf eine Weise in Willkür, Vorurtheil und Eigennutz verstrickt waren, daß wir zuweilen darüber erschrecken. Na-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/46>, abgerufen am 22.12.2024.