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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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sich aber noch alle einer wirklichen, tüchtigen Persönlichkeit, und sie sind noch
immer eine Nation im höhern Sinne dieses Wortes. Ob wir Deutsche diese
beiden Vorzüge noch haben, wer von uns wollte nach den Ersahrungen der
letzten Jahre so kühn sein, das ohne weiteres bejahend zu behaupten? --Wer
aber die Franzosen sich nicht gern als Vorbild vorhalten mag, der denke an die
Engländer, bei denen der schöne Ausdruck "Gentleman", ursprünglich eine
adlige Bezeichnung, jetzt einen viel weitern Kreis umfaßt, das edle Symbol
für die allmälige Erweiterung der Aristokratie zur Demokratie. Ist es blos
der Ausdruck, der uns fehlt?

Nun finden wir in der demokratischen Bewegung der vorigen Jahre jene
falsche Tendenz, die den bevorzugten Stand gern zur Masse herabziehen möchte,
anstatt die Masse in naturgemäßen Fortschritt allmälig in einen höheren Kreis
zu erheben. Man strebte darnach, die politischen Entscheidungen in die Hand
der Masse zu legen, die immer roh und gemein ist, gleichviel aus was für
Individuen sie besteht. Man strebte darnach, die großen sittlichen Tra¬
ditionen und Erinnerungen, das Erbgut unsres Volkes, in den Staub zu
treten, blos weil sich zugleich königliche und adelige Vorstellungen daran
knüpften. Man nahm in den Formen jene wahrhaft amerikanische Brutalität
und Gemeinheit an, die freilich in neuerer Zeit von den Vertretern des Junker-
thums auf das unerhörteste überboten ist. Wer wollte es heute noch wagen,
die Demokraten von 1848 wegen ihrer schlechtpreußischen Gesinnung zu schelten,
wenn das Organ des preußischen Adels die Dreistigkeit hat, die kleinen deutschen
Fürsten aufzufordern, sich gegen die Uebergriffe Preußens und Oestreichs unter
den Schutz Rußlands zu flüchten? Daß gegen diesen Adel damals eine ganz
rücksichtslose Opposition gemacht wurde, das kann heute nur uoch ein Rasender
der Demokratie zum Vorwurf machen.

Allein wieweit durch diese die Tradition verleugnenden Bestrebungen der
sittliche Inhalt der öffentlichen Meinung verdreht worden ist, das sieht man
am besten, wenn man das gelesenste der deutschen Blätter, den Kladderadatsch
betrachtet. Daß sich eine Nation in trüben Zuständen, wo sich durch unmittelbare
Thätigkeit nichts gewinnen läßt, am Witz und Humor erholt, liegt in der
Natur der Sache und spricht an sich durchaus nicht gegen den Ernst der
sittlichen Empfindung. Aber diese Art Witz hat nur dann einen Sinn, wenn
die allgemeine sittliche Empfindung ihre Basis ist. Nun sollte man denken,
daß bei einem Volke, welches gern eine Nation sein möchte, die gegenwärtige
Knsis, die größte, die seit 18-Is in der Welt aufgetreten ist, Einfluß genug
haben sollte, um eine übereinstimmende öffentliche Meinung zu erzeugen. In
diesem Witzblatt finden wir aber weit mehr Verhöhnungen gegen England und
Frankreich als gegen Rußland. Ja bisweilen werden den Russen ganz er¬
staunliche Artigkeiten gesagt. Es füllt uns ^ dabei nicht im geringsten ein, eine


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sich aber noch alle einer wirklichen, tüchtigen Persönlichkeit, und sie sind noch
immer eine Nation im höhern Sinne dieses Wortes. Ob wir Deutsche diese
beiden Vorzüge noch haben, wer von uns wollte nach den Ersahrungen der
letzten Jahre so kühn sein, das ohne weiteres bejahend zu behaupten? —Wer
aber die Franzosen sich nicht gern als Vorbild vorhalten mag, der denke an die
Engländer, bei denen der schöne Ausdruck „Gentleman", ursprünglich eine
adlige Bezeichnung, jetzt einen viel weitern Kreis umfaßt, das edle Symbol
für die allmälige Erweiterung der Aristokratie zur Demokratie. Ist es blos
der Ausdruck, der uns fehlt?

Nun finden wir in der demokratischen Bewegung der vorigen Jahre jene
falsche Tendenz, die den bevorzugten Stand gern zur Masse herabziehen möchte,
anstatt die Masse in naturgemäßen Fortschritt allmälig in einen höheren Kreis
zu erheben. Man strebte darnach, die politischen Entscheidungen in die Hand
der Masse zu legen, die immer roh und gemein ist, gleichviel aus was für
Individuen sie besteht. Man strebte darnach, die großen sittlichen Tra¬
ditionen und Erinnerungen, das Erbgut unsres Volkes, in den Staub zu
treten, blos weil sich zugleich königliche und adelige Vorstellungen daran
knüpften. Man nahm in den Formen jene wahrhaft amerikanische Brutalität
und Gemeinheit an, die freilich in neuerer Zeit von den Vertretern des Junker-
thums auf das unerhörteste überboten ist. Wer wollte es heute noch wagen,
die Demokraten von 1848 wegen ihrer schlechtpreußischen Gesinnung zu schelten,
wenn das Organ des preußischen Adels die Dreistigkeit hat, die kleinen deutschen
Fürsten aufzufordern, sich gegen die Uebergriffe Preußens und Oestreichs unter
den Schutz Rußlands zu flüchten? Daß gegen diesen Adel damals eine ganz
rücksichtslose Opposition gemacht wurde, das kann heute nur uoch ein Rasender
der Demokratie zum Vorwurf machen.

Allein wieweit durch diese die Tradition verleugnenden Bestrebungen der
sittliche Inhalt der öffentlichen Meinung verdreht worden ist, das sieht man
am besten, wenn man das gelesenste der deutschen Blätter, den Kladderadatsch
betrachtet. Daß sich eine Nation in trüben Zuständen, wo sich durch unmittelbare
Thätigkeit nichts gewinnen läßt, am Witz und Humor erholt, liegt in der
Natur der Sache und spricht an sich durchaus nicht gegen den Ernst der
sittlichen Empfindung. Aber diese Art Witz hat nur dann einen Sinn, wenn
die allgemeine sittliche Empfindung ihre Basis ist. Nun sollte man denken,
daß bei einem Volke, welches gern eine Nation sein möchte, die gegenwärtige
Knsis, die größte, die seit 18-Is in der Welt aufgetreten ist, Einfluß genug
haben sollte, um eine übereinstimmende öffentliche Meinung zu erzeugen. In
diesem Witzblatt finden wir aber weit mehr Verhöhnungen gegen England und
Frankreich als gegen Rußland. Ja bisweilen werden den Russen ganz er¬
staunliche Artigkeiten gesagt. Es füllt uns ^ dabei nicht im geringsten ein, eine


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[0457] sich aber noch alle einer wirklichen, tüchtigen Persönlichkeit, und sie sind noch immer eine Nation im höhern Sinne dieses Wortes. Ob wir Deutsche diese beiden Vorzüge noch haben, wer von uns wollte nach den Ersahrungen der letzten Jahre so kühn sein, das ohne weiteres bejahend zu behaupten? —Wer aber die Franzosen sich nicht gern als Vorbild vorhalten mag, der denke an die Engländer, bei denen der schöne Ausdruck „Gentleman", ursprünglich eine adlige Bezeichnung, jetzt einen viel weitern Kreis umfaßt, das edle Symbol für die allmälige Erweiterung der Aristokratie zur Demokratie. Ist es blos der Ausdruck, der uns fehlt? Nun finden wir in der demokratischen Bewegung der vorigen Jahre jene falsche Tendenz, die den bevorzugten Stand gern zur Masse herabziehen möchte, anstatt die Masse in naturgemäßen Fortschritt allmälig in einen höheren Kreis zu erheben. Man strebte darnach, die politischen Entscheidungen in die Hand der Masse zu legen, die immer roh und gemein ist, gleichviel aus was für Individuen sie besteht. Man strebte darnach, die großen sittlichen Tra¬ ditionen und Erinnerungen, das Erbgut unsres Volkes, in den Staub zu treten, blos weil sich zugleich königliche und adelige Vorstellungen daran knüpften. Man nahm in den Formen jene wahrhaft amerikanische Brutalität und Gemeinheit an, die freilich in neuerer Zeit von den Vertretern des Junker- thums auf das unerhörteste überboten ist. Wer wollte es heute noch wagen, die Demokraten von 1848 wegen ihrer schlechtpreußischen Gesinnung zu schelten, wenn das Organ des preußischen Adels die Dreistigkeit hat, die kleinen deutschen Fürsten aufzufordern, sich gegen die Uebergriffe Preußens und Oestreichs unter den Schutz Rußlands zu flüchten? Daß gegen diesen Adel damals eine ganz rücksichtslose Opposition gemacht wurde, das kann heute nur uoch ein Rasender der Demokratie zum Vorwurf machen. Allein wieweit durch diese die Tradition verleugnenden Bestrebungen der sittliche Inhalt der öffentlichen Meinung verdreht worden ist, das sieht man am besten, wenn man das gelesenste der deutschen Blätter, den Kladderadatsch betrachtet. Daß sich eine Nation in trüben Zuständen, wo sich durch unmittelbare Thätigkeit nichts gewinnen läßt, am Witz und Humor erholt, liegt in der Natur der Sache und spricht an sich durchaus nicht gegen den Ernst der sittlichen Empfindung. Aber diese Art Witz hat nur dann einen Sinn, wenn die allgemeine sittliche Empfindung ihre Basis ist. Nun sollte man denken, daß bei einem Volke, welches gern eine Nation sein möchte, die gegenwärtige Knsis, die größte, die seit 18-Is in der Welt aufgetreten ist, Einfluß genug haben sollte, um eine übereinstimmende öffentliche Meinung zu erzeugen. In diesem Witzblatt finden wir aber weit mehr Verhöhnungen gegen England und Frankreich als gegen Rußland. Ja bisweilen werden den Russen ganz er¬ staunliche Artigkeiten gesagt. Es füllt uns ^ dabei nicht im geringsten ein, eine Ärcnzl'vier, II, !8»i. ' 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/456>, abgerufen am 23.07.2024.