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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Gemüths bekämpfen muß, um nicht die Gegenstände in dem Lichte zu sehen,
das unser gegenwärtiges Leben bescheint. Die streng rechtgläubige Partei
würde vielleicht noch eher befähigt sein, den frühern Vorstellungen gerecht zu
werden, weil sie sich mit ihrem Glauben in "mer künstlichen Beleuchtung
bewegt, die zwar mit dem Gla-überflieht des Urchristenthums keineswegs zu¬
sammenfällt, ihm aber doch verwandter ist. Die Idee von der Verderbnis)
der menschlichen Natur, von der Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes und
von der Nothwendigkeit eines absoluten Wunders, um diese sündhafte Welt zu
erlösen, muß man, wenn man sie nicht selbst hat, sich wenigstens historisch
construiren können, um der Urzeit des Christenthums gerecht zu werden. ,

Damit soll keineswegs gesagt sein, daß das, was wir aus diesem Buch
gewinnen, unhistorisch sei; neben dem ungeheuren Zersetzungsproceß, den das
Christenthum in der Bildung der alten Welt hervorrief, entwickelt es gleich
von der ersten Zeit seiner Entstehung an eine ebenso große conservative, oder
vielmehr organisirende Kraft. Das' ist es, was unsere modernsten Philo¬
sophen gewöhnlich verkennen, wenn sie in dem Christenthum, um es als, eine
consequente Erscheinung zu fassen, die reine Abstraction sehen, sowie aus dem¬
selben Grunde die frühern Nationalisten alles aus dem Christenthume zu ent¬
fernen strebten, was ihrem, Bilde der allgemeinen Liebe, Eintracht und Huma¬
nität widersprach. Wie jede große historische Erscheinung, enthielt auch das
Christenthum widersprechende Momente in sich; und grade weil es weltumfassend
war, traten in ihm die Widersprüche in einer viel kühnerem Form hervor. Es
war revolutionär im gewaltigsten Sinne dieses Wortes, denn es leugnete die
Wahrheit der Welt, der sittlichen wie der natürlichen. Daß es aber ebenso
kräftig im Organisiren war, zeigt das Gemeindeleben, die Hierarchie und die
Wissenschaft, die es aus sich heraus entwickelt, die es dem profanen Staats¬
leben und der profanen Wissenschaft gegenüber Jahrtausende hindurch > siegreich
behauptet hat.

Diese historische, aber einseitige Auffassung ist diejenige, die wir in Bunsens
Werke ausschließlich zu' suchen haben, und in dieser Beziehung ist, es um so
lehrreicher, da der Verfasser nicht blos mit dem Verstände, sondern mit der
ganzen Wärme seines Herzens sich in das christliche Gemeinleben vertieft. Um
so etwas darzustellen, ist eine gemüthliche Theilnahme unerläßlich. Darum ist
dieser uns vorliegende zweite Theil, der die eigentliche organische Darstellung
enthält, interessanter, als der erste kritische. In dem ersten Abschnitte ist ein
zusammengedrängter, volksmäßiger (d. h. aus das Interesse und das Verständ¬
niß des Volks berechneter) Text der Denkmäler des Urchristenthums vorgelegt,
in welchem sich das Gesammtbewußtsein jener Ze.it urkundlich darstellt, in Schule
und Gemeinde, im Gottesdienst und in den geselligen Verhältnissen des Lebens.
Die Auslegung und Anwendung dieser Bilder versucht der zweite Abschnitt'zu


Gemüths bekämpfen muß, um nicht die Gegenstände in dem Lichte zu sehen,
das unser gegenwärtiges Leben bescheint. Die streng rechtgläubige Partei
würde vielleicht noch eher befähigt sein, den frühern Vorstellungen gerecht zu
werden, weil sie sich mit ihrem Glauben in «mer künstlichen Beleuchtung
bewegt, die zwar mit dem Gla-überflieht des Urchristenthums keineswegs zu¬
sammenfällt, ihm aber doch verwandter ist. Die Idee von der Verderbnis)
der menschlichen Natur, von der Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes und
von der Nothwendigkeit eines absoluten Wunders, um diese sündhafte Welt zu
erlösen, muß man, wenn man sie nicht selbst hat, sich wenigstens historisch
construiren können, um der Urzeit des Christenthums gerecht zu werden. ,

Damit soll keineswegs gesagt sein, daß das, was wir aus diesem Buch
gewinnen, unhistorisch sei; neben dem ungeheuren Zersetzungsproceß, den das
Christenthum in der Bildung der alten Welt hervorrief, entwickelt es gleich
von der ersten Zeit seiner Entstehung an eine ebenso große conservative, oder
vielmehr organisirende Kraft. Das' ist es, was unsere modernsten Philo¬
sophen gewöhnlich verkennen, wenn sie in dem Christenthum, um es als, eine
consequente Erscheinung zu fassen, die reine Abstraction sehen, sowie aus dem¬
selben Grunde die frühern Nationalisten alles aus dem Christenthume zu ent¬
fernen strebten, was ihrem, Bilde der allgemeinen Liebe, Eintracht und Huma¬
nität widersprach. Wie jede große historische Erscheinung, enthielt auch das
Christenthum widersprechende Momente in sich; und grade weil es weltumfassend
war, traten in ihm die Widersprüche in einer viel kühnerem Form hervor. Es
war revolutionär im gewaltigsten Sinne dieses Wortes, denn es leugnete die
Wahrheit der Welt, der sittlichen wie der natürlichen. Daß es aber ebenso
kräftig im Organisiren war, zeigt das Gemeindeleben, die Hierarchie und die
Wissenschaft, die es aus sich heraus entwickelt, die es dem profanen Staats¬
leben und der profanen Wissenschaft gegenüber Jahrtausende hindurch > siegreich
behauptet hat.

Diese historische, aber einseitige Auffassung ist diejenige, die wir in Bunsens
Werke ausschließlich zu' suchen haben, und in dieser Beziehung ist, es um so
lehrreicher, da der Verfasser nicht blos mit dem Verstände, sondern mit der
ganzen Wärme seines Herzens sich in das christliche Gemeinleben vertieft. Um
so etwas darzustellen, ist eine gemüthliche Theilnahme unerläßlich. Darum ist
dieser uns vorliegende zweite Theil, der die eigentliche organische Darstellung
enthält, interessanter, als der erste kritische. In dem ersten Abschnitte ist ein
zusammengedrängter, volksmäßiger (d. h. aus das Interesse und das Verständ¬
niß des Volks berechneter) Text der Denkmäler des Urchristenthums vorgelegt,
in welchem sich das Gesammtbewußtsein jener Ze.it urkundlich darstellt, in Schule
und Gemeinde, im Gottesdienst und in den geselligen Verhältnissen des Lebens.
Die Auslegung und Anwendung dieser Bilder versucht der zweite Abschnitt'zu


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[0382] Gemüths bekämpfen muß, um nicht die Gegenstände in dem Lichte zu sehen, das unser gegenwärtiges Leben bescheint. Die streng rechtgläubige Partei würde vielleicht noch eher befähigt sein, den frühern Vorstellungen gerecht zu werden, weil sie sich mit ihrem Glauben in «mer künstlichen Beleuchtung bewegt, die zwar mit dem Gla-überflieht des Urchristenthums keineswegs zu¬ sammenfällt, ihm aber doch verwandter ist. Die Idee von der Verderbnis) der menschlichen Natur, von der Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes und von der Nothwendigkeit eines absoluten Wunders, um diese sündhafte Welt zu erlösen, muß man, wenn man sie nicht selbst hat, sich wenigstens historisch construiren können, um der Urzeit des Christenthums gerecht zu werden. , Damit soll keineswegs gesagt sein, daß das, was wir aus diesem Buch gewinnen, unhistorisch sei; neben dem ungeheuren Zersetzungsproceß, den das Christenthum in der Bildung der alten Welt hervorrief, entwickelt es gleich von der ersten Zeit seiner Entstehung an eine ebenso große conservative, oder vielmehr organisirende Kraft. Das' ist es, was unsere modernsten Philo¬ sophen gewöhnlich verkennen, wenn sie in dem Christenthum, um es als, eine consequente Erscheinung zu fassen, die reine Abstraction sehen, sowie aus dem¬ selben Grunde die frühern Nationalisten alles aus dem Christenthume zu ent¬ fernen strebten, was ihrem, Bilde der allgemeinen Liebe, Eintracht und Huma¬ nität widersprach. Wie jede große historische Erscheinung, enthielt auch das Christenthum widersprechende Momente in sich; und grade weil es weltumfassend war, traten in ihm die Widersprüche in einer viel kühnerem Form hervor. Es war revolutionär im gewaltigsten Sinne dieses Wortes, denn es leugnete die Wahrheit der Welt, der sittlichen wie der natürlichen. Daß es aber ebenso kräftig im Organisiren war, zeigt das Gemeindeleben, die Hierarchie und die Wissenschaft, die es aus sich heraus entwickelt, die es dem profanen Staats¬ leben und der profanen Wissenschaft gegenüber Jahrtausende hindurch > siegreich behauptet hat. Diese historische, aber einseitige Auffassung ist diejenige, die wir in Bunsens Werke ausschließlich zu' suchen haben, und in dieser Beziehung ist, es um so lehrreicher, da der Verfasser nicht blos mit dem Verstände, sondern mit der ganzen Wärme seines Herzens sich in das christliche Gemeinleben vertieft. Um so etwas darzustellen, ist eine gemüthliche Theilnahme unerläßlich. Darum ist dieser uns vorliegende zweite Theil, der die eigentliche organische Darstellung enthält, interessanter, als der erste kritische. In dem ersten Abschnitte ist ein zusammengedrängter, volksmäßiger (d. h. aus das Interesse und das Verständ¬ niß des Volks berechneter) Text der Denkmäler des Urchristenthums vorgelegt, in welchem sich das Gesammtbewußtsein jener Ze.it urkundlich darstellt, in Schule und Gemeinde, im Gottesdienst und in den geselligen Verhältnissen des Lebens. Die Auslegung und Anwendung dieser Bilder versucht der zweite Abschnitt'zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/381>, abgerufen am 23.07.2024.