Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zeigt sich die ruhige Fläche des kleinen Lac dEspingo; etwas über demselben,
und kaum um einige hundert Schritte davon entfernt, der noch kleinere Saounsat,
dessen Wasser sich in den tieferliegenden See ergießen. Hin und wieder liegen
kolossale Granitblöcke von Moos und'Flechten bedeckt, hin und wieder glänzt
eine zarte Alpenblume im kurzen Grase, das den Boden bekleidet; über die
Einöde erheben sich Felsenmauern, Kegel und Hörner, durch Abgründe getrennt;
oder durch Gletscher verbunden und siebenmal erscheint und verschwindet zwischen
Schneefeldern und Felszacken die Cascade de nerf, die das Wasser des obersten
Sees zum Lac de Laounsat hinabträgt.

Gern hätten wir, der Richtung dieser Fälle nachgehend, auch das oberste
Wasserbecken,, der See von Oo genannt, besucht -- aber unsere Ermüdung
war zu groß, die Sonne stand schon hoch und ein beschwerlicher Rückweg lag
vor.uns. Jetzt galt es vor allen Dingen, ein Plätzchen zu finden, wo wir
vor dem schneidenden Ostwinde geschützt ausruhen und die Vorräthe aus des
Führers Körbchen verzehren konnten. Wir stiegen in das Becken hinab, um
eine schützende Felswand zu suchen, und fanden hier, wo alles Leben zu er¬
starren scheint, zu unsrer unaussprechlichen Ueberraschung einen Hirten mit
einigen hundert Schafen. Mit seinem Mantel von Schafpelz, seinen nackten
Armen und den bis an die Knie nackten Beinen, seinem langen Bart und
Haupthaar sah er ziemlich verwildert aus, aber sein freundliches, gutmüthiges
Wesen beruhigte uns. .Er bot uns Milch und Schafkäse an, unterhielt sich
mit Miß Sara über die Pflanzen und Kräuter des Gebirges, hatte den Lauf
der Gestirne beobachtet und war auf seine Kenntniß, seine Heimat und sein
Volk nicht wenig stolz. Mit großer Liebe sprach er von seiner Familie, wo¬
bei er sich stets der hochtrabenden Ausdrücke: wor "pouss und ass clsmoisizllss
bediente; diese "Fräuleins" konnten, nach der Versicherung des glücklichen
Vaters, lesen und schreiben, wie ein "Herr Pfarrer" und fast ebenso gut
singen, wie ihr Vater. ,Mr alares, moi aussi", versicherte der Hirt mit
so leuchtendem Gesicht, daß wir nicht umhin konnten, ihn um eine Probe sei¬
ner Kunst zu bitten. Er sträubte sich anfangs -- es scheint, daß überall
kokettes Sträuben Virtuosen-Art oder Unart ist. -- und. dann sang er ein Lied
zum Preise der Jungfrau Maria, das aus den Ebenen des Languedoc in diese
Berge getragen sein mußte. Mir erschien es als eins der schönsten, die ich
jemals hörte. Lag es an der schönen Stimme, an dem einfachen, würdigen
Vortrage des Hirten, an der Großartigkeit der Umgebung, an der Stille rings¬
umher, oder ist wirklich in diesen Versen eine ungewöhnliche Tiefe des Gefühls,
eine besondere Schönheit des Ausdrucks? Mir,ist, wenn ich die Worte lese,
als säße ich wieder im Schatten der Felsenwände von Espingo, sähe vor mir
den blinkenden See, über mir die Kuppen und Zacken des Gebirges, die
Schneefelder, den leuchtenden Himmel und hörte Nie einfache Weise des Gebetes


zeigt sich die ruhige Fläche des kleinen Lac dEspingo; etwas über demselben,
und kaum um einige hundert Schritte davon entfernt, der noch kleinere Saounsat,
dessen Wasser sich in den tieferliegenden See ergießen. Hin und wieder liegen
kolossale Granitblöcke von Moos und'Flechten bedeckt, hin und wieder glänzt
eine zarte Alpenblume im kurzen Grase, das den Boden bekleidet; über die
Einöde erheben sich Felsenmauern, Kegel und Hörner, durch Abgründe getrennt;
oder durch Gletscher verbunden und siebenmal erscheint und verschwindet zwischen
Schneefeldern und Felszacken die Cascade de nerf, die das Wasser des obersten
Sees zum Lac de Laounsat hinabträgt.

Gern hätten wir, der Richtung dieser Fälle nachgehend, auch das oberste
Wasserbecken,, der See von Oo genannt, besucht — aber unsere Ermüdung
war zu groß, die Sonne stand schon hoch und ein beschwerlicher Rückweg lag
vor.uns. Jetzt galt es vor allen Dingen, ein Plätzchen zu finden, wo wir
vor dem schneidenden Ostwinde geschützt ausruhen und die Vorräthe aus des
Führers Körbchen verzehren konnten. Wir stiegen in das Becken hinab, um
eine schützende Felswand zu suchen, und fanden hier, wo alles Leben zu er¬
starren scheint, zu unsrer unaussprechlichen Ueberraschung einen Hirten mit
einigen hundert Schafen. Mit seinem Mantel von Schafpelz, seinen nackten
Armen und den bis an die Knie nackten Beinen, seinem langen Bart und
Haupthaar sah er ziemlich verwildert aus, aber sein freundliches, gutmüthiges
Wesen beruhigte uns. .Er bot uns Milch und Schafkäse an, unterhielt sich
mit Miß Sara über die Pflanzen und Kräuter des Gebirges, hatte den Lauf
der Gestirne beobachtet und war auf seine Kenntniß, seine Heimat und sein
Volk nicht wenig stolz. Mit großer Liebe sprach er von seiner Familie, wo¬
bei er sich stets der hochtrabenden Ausdrücke: wor «pouss und ass clsmoisizllss
bediente; diese „Fräuleins" konnten, nach der Versicherung des glücklichen
Vaters, lesen und schreiben, wie ein „Herr Pfarrer" und fast ebenso gut
singen, wie ihr Vater. ,Mr alares, moi aussi", versicherte der Hirt mit
so leuchtendem Gesicht, daß wir nicht umhin konnten, ihn um eine Probe sei¬
ner Kunst zu bitten. Er sträubte sich anfangs — es scheint, daß überall
kokettes Sträuben Virtuosen-Art oder Unart ist. — und. dann sang er ein Lied
zum Preise der Jungfrau Maria, das aus den Ebenen des Languedoc in diese
Berge getragen sein mußte. Mir erschien es als eins der schönsten, die ich
jemals hörte. Lag es an der schönen Stimme, an dem einfachen, würdigen
Vortrage des Hirten, an der Großartigkeit der Umgebung, an der Stille rings¬
umher, oder ist wirklich in diesen Versen eine ungewöhnliche Tiefe des Gefühls,
eine besondere Schönheit des Ausdrucks? Mir,ist, wenn ich die Worte lese,
als säße ich wieder im Schatten der Felsenwände von Espingo, sähe vor mir
den blinkenden See, über mir die Kuppen und Zacken des Gebirges, die
Schneefelder, den leuchtenden Himmel und hörte Nie einfache Weise des Gebetes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0378" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98158"/>
            <p xml:id="ID_1182" prev="#ID_1181"> zeigt sich die ruhige Fläche des kleinen Lac dEspingo; etwas über demselben,<lb/>
und kaum um einige hundert Schritte davon entfernt, der noch kleinere Saounsat,<lb/>
dessen Wasser sich in den tieferliegenden See ergießen. Hin und wieder liegen<lb/>
kolossale Granitblöcke von Moos und'Flechten bedeckt, hin und wieder glänzt<lb/>
eine zarte Alpenblume im kurzen Grase, das den Boden bekleidet; über die<lb/>
Einöde erheben sich Felsenmauern, Kegel und Hörner, durch Abgründe getrennt;<lb/>
oder durch Gletscher verbunden und siebenmal erscheint und verschwindet zwischen<lb/>
Schneefeldern und Felszacken die Cascade de nerf, die das Wasser des obersten<lb/>
Sees zum Lac de Laounsat hinabträgt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1183" next="#ID_1184"> Gern hätten wir, der Richtung dieser Fälle nachgehend, auch das oberste<lb/>
Wasserbecken,, der See von Oo genannt, besucht &#x2014; aber unsere Ermüdung<lb/>
war zu groß, die Sonne stand schon hoch und ein beschwerlicher Rückweg lag<lb/>
vor.uns. Jetzt galt es vor allen Dingen, ein Plätzchen zu finden, wo wir<lb/>
vor dem schneidenden Ostwinde geschützt ausruhen und die Vorräthe aus des<lb/>
Führers Körbchen verzehren konnten. Wir stiegen in das Becken hinab, um<lb/>
eine schützende Felswand zu suchen, und fanden hier, wo alles Leben zu er¬<lb/>
starren scheint, zu unsrer unaussprechlichen Ueberraschung einen Hirten mit<lb/>
einigen hundert Schafen. Mit seinem Mantel von Schafpelz, seinen nackten<lb/>
Armen und den bis an die Knie nackten Beinen, seinem langen Bart und<lb/>
Haupthaar sah er ziemlich verwildert aus, aber sein freundliches, gutmüthiges<lb/>
Wesen beruhigte uns. .Er bot uns Milch und Schafkäse an, unterhielt sich<lb/>
mit Miß Sara über die Pflanzen und Kräuter des Gebirges, hatte den Lauf<lb/>
der Gestirne beobachtet und war auf seine Kenntniß, seine Heimat und sein<lb/>
Volk nicht wenig stolz. Mit großer Liebe sprach er von seiner Familie, wo¬<lb/>
bei er sich stets der hochtrabenden Ausdrücke: wor «pouss und ass clsmoisizllss<lb/>
bediente; diese &#x201E;Fräuleins" konnten, nach der Versicherung des glücklichen<lb/>
Vaters, lesen und schreiben, wie ein &#x201E;Herr Pfarrer" und fast ebenso gut<lb/>
singen, wie ihr Vater. ,Mr alares, moi aussi", versicherte der Hirt mit<lb/>
so leuchtendem Gesicht, daß wir nicht umhin konnten, ihn um eine Probe sei¬<lb/>
ner Kunst zu bitten. Er sträubte sich anfangs &#x2014; es scheint, daß überall<lb/>
kokettes Sträuben Virtuosen-Art oder Unart ist. &#x2014; und. dann sang er ein Lied<lb/>
zum Preise der Jungfrau Maria, das aus den Ebenen des Languedoc in diese<lb/>
Berge getragen sein mußte. Mir erschien es als eins der schönsten, die ich<lb/>
jemals hörte. Lag es an der schönen Stimme, an dem einfachen, würdigen<lb/>
Vortrage des Hirten, an der Großartigkeit der Umgebung, an der Stille rings¬<lb/>
umher, oder ist wirklich in diesen Versen eine ungewöhnliche Tiefe des Gefühls,<lb/>
eine besondere Schönheit des Ausdrucks? Mir,ist, wenn ich die Worte lese,<lb/>
als säße ich wieder im Schatten der Felsenwände von Espingo, sähe vor mir<lb/>
den blinkenden See, über mir die Kuppen und Zacken des Gebirges, die<lb/>
Schneefelder, den leuchtenden Himmel und hörte Nie einfache Weise des Gebetes</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0378] zeigt sich die ruhige Fläche des kleinen Lac dEspingo; etwas über demselben, und kaum um einige hundert Schritte davon entfernt, der noch kleinere Saounsat, dessen Wasser sich in den tieferliegenden See ergießen. Hin und wieder liegen kolossale Granitblöcke von Moos und'Flechten bedeckt, hin und wieder glänzt eine zarte Alpenblume im kurzen Grase, das den Boden bekleidet; über die Einöde erheben sich Felsenmauern, Kegel und Hörner, durch Abgründe getrennt; oder durch Gletscher verbunden und siebenmal erscheint und verschwindet zwischen Schneefeldern und Felszacken die Cascade de nerf, die das Wasser des obersten Sees zum Lac de Laounsat hinabträgt. Gern hätten wir, der Richtung dieser Fälle nachgehend, auch das oberste Wasserbecken,, der See von Oo genannt, besucht — aber unsere Ermüdung war zu groß, die Sonne stand schon hoch und ein beschwerlicher Rückweg lag vor.uns. Jetzt galt es vor allen Dingen, ein Plätzchen zu finden, wo wir vor dem schneidenden Ostwinde geschützt ausruhen und die Vorräthe aus des Führers Körbchen verzehren konnten. Wir stiegen in das Becken hinab, um eine schützende Felswand zu suchen, und fanden hier, wo alles Leben zu er¬ starren scheint, zu unsrer unaussprechlichen Ueberraschung einen Hirten mit einigen hundert Schafen. Mit seinem Mantel von Schafpelz, seinen nackten Armen und den bis an die Knie nackten Beinen, seinem langen Bart und Haupthaar sah er ziemlich verwildert aus, aber sein freundliches, gutmüthiges Wesen beruhigte uns. .Er bot uns Milch und Schafkäse an, unterhielt sich mit Miß Sara über die Pflanzen und Kräuter des Gebirges, hatte den Lauf der Gestirne beobachtet und war auf seine Kenntniß, seine Heimat und sein Volk nicht wenig stolz. Mit großer Liebe sprach er von seiner Familie, wo¬ bei er sich stets der hochtrabenden Ausdrücke: wor «pouss und ass clsmoisizllss bediente; diese „Fräuleins" konnten, nach der Versicherung des glücklichen Vaters, lesen und schreiben, wie ein „Herr Pfarrer" und fast ebenso gut singen, wie ihr Vater. ,Mr alares, moi aussi", versicherte der Hirt mit so leuchtendem Gesicht, daß wir nicht umhin konnten, ihn um eine Probe sei¬ ner Kunst zu bitten. Er sträubte sich anfangs — es scheint, daß überall kokettes Sträuben Virtuosen-Art oder Unart ist. — und. dann sang er ein Lied zum Preise der Jungfrau Maria, das aus den Ebenen des Languedoc in diese Berge getragen sein mußte. Mir erschien es als eins der schönsten, die ich jemals hörte. Lag es an der schönen Stimme, an dem einfachen, würdigen Vortrage des Hirten, an der Großartigkeit der Umgebung, an der Stille rings¬ umher, oder ist wirklich in diesen Versen eine ungewöhnliche Tiefe des Gefühls, eine besondere Schönheit des Ausdrucks? Mir,ist, wenn ich die Worte lese, als säße ich wieder im Schatten der Felsenwände von Espingo, sähe vor mir den blinkenden See, über mir die Kuppen und Zacken des Gebirges, die Schneefelder, den leuchtenden Himmel und hörte Nie einfache Weise des Gebetes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/377
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/377>, abgerufen am 22.12.2024.