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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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heit, und die übrigen Tugendhaften werden zum Schluß so davon gerührt, daß
sie sich vor ihm demüthigen. Bei so allgemeiner Tugend kann ein wirk¬
licher Conflict nur künstlich herbeigeführt werden. Einem jungen Lieutenant,
dem Pflegesohn des Grotius, wird die Bewachung desselben anvertraut, seiner
Ehre anvertraut von seinem Vorgesetzten, seiner Freundschaft von einem Freunde.
Außerdem liebt er die Tochter des Grotius und wird also auf eine wahr¬
haft Calderonsche Weise von Freundschaft, Liebe und Ehre zugleich bestürmt.
Die Ehre siegt nach schwerem Kampf, er vereitelt einen Fluchtversuch und wird
dafür von der Familie sanft verwünscht. So weit wäre es in der Ordnung,
aber die Liebe macht sich, auch geltend: er unterstützt zwar nicht den offenen
Fluchtversuch, aber er sieht durch die Finger und läßt ihn halb mit, halb ohne
Wissen geschehen. Nun kommt der Heroismus. Die Flucht wird entdeckt und
die Angehörigen des Grotius sollen bestraft werden. Da nimmt der Lieutenant
mit edler Lüge die ganze Schuld auf sich, er wird zum Tode verurtheilt und
soll hängen. Selbst die Schmach dieses Todes will ihm der Prinz nicht er¬
sparen. Da eilt Grotius in sein Gefängniß zurück, erklärt, er sei nur geflohen,
um die Gegner des Prinzen zum Schweigen zu bringen und den Frieden her¬
zustellen, und so geht alles nach Wunsch aus. Das Disciplinarvergehen des
jungen Lieutenants geräth vollständig in Vergessenheit, obgleich es doch durch
den veränderten Erfolg nicht aufgehoben werden konnte, und obgleich der Prinz
vorher von dem abstracten Rechtsprincip ein großes Wesen gemacht hatt!. Es
ist nicht leicht möglich, sich eine weinerlichere Geschichte zu erdenken.--Ein
anderes Drama Heinrich Reuß von Plauen (180S) hat aus diesem fin¬
stern dämonischen Helden, dessen Schicksal um so tragischer war, weil in ihm die
allgemeine Schuld des Zeitalters mit der individuellen Schuld in Verbindung
trat, einen sanften, frommen, milden Heiligen gemacht, der durch seine Tugend
junge Heiden und Heidinnen zum Christenthum bekehrt und nur von Böse¬
wichter verkannt werden konnte. -- Von einem dritten Stück Rudolph von
Habs bürg wollen wir nichts weitersagen, als daß es in Beziehung auf die
Form noch mehr ins Ideale geht. Die fünffüßigen Jamben sind nämlich regel¬
mäßig gereimt, so daß immer die 1. und 3., 2. und 4. Zeile einander ent¬
sprechen.

Kotzebue hat auch von Zeit zu Zeit der höher" Romantik gehuldigt. Der
merkwürdigste Versuch der Art ist das Zauberspiel: "die kluge Frau im
Walde öder der stumme Ritter" (-1801). Es steht zwischen der "Zauber¬
flöte" und den "Söhnen des Thals". Die großartigsten Wunder, Elfengestalten
von allen Seiten, kostbare idealische Kleidung, geheime Ritterschaften, finstere
Gräber geliebter Todten, die noch leben, das Gelübde des Schweigens drei
Jahre lang von einem treuen Cavalier gehalten, die höhere Mystik u. s. w., das
alles sind vortreffliche Ingredienzen für ein romantisches Gebräu/ Nur sind sie


heit, und die übrigen Tugendhaften werden zum Schluß so davon gerührt, daß
sie sich vor ihm demüthigen. Bei so allgemeiner Tugend kann ein wirk¬
licher Conflict nur künstlich herbeigeführt werden. Einem jungen Lieutenant,
dem Pflegesohn des Grotius, wird die Bewachung desselben anvertraut, seiner
Ehre anvertraut von seinem Vorgesetzten, seiner Freundschaft von einem Freunde.
Außerdem liebt er die Tochter des Grotius und wird also auf eine wahr¬
haft Calderonsche Weise von Freundschaft, Liebe und Ehre zugleich bestürmt.
Die Ehre siegt nach schwerem Kampf, er vereitelt einen Fluchtversuch und wird
dafür von der Familie sanft verwünscht. So weit wäre es in der Ordnung,
aber die Liebe macht sich, auch geltend: er unterstützt zwar nicht den offenen
Fluchtversuch, aber er sieht durch die Finger und läßt ihn halb mit, halb ohne
Wissen geschehen. Nun kommt der Heroismus. Die Flucht wird entdeckt und
die Angehörigen des Grotius sollen bestraft werden. Da nimmt der Lieutenant
mit edler Lüge die ganze Schuld auf sich, er wird zum Tode verurtheilt und
soll hängen. Selbst die Schmach dieses Todes will ihm der Prinz nicht er¬
sparen. Da eilt Grotius in sein Gefängniß zurück, erklärt, er sei nur geflohen,
um die Gegner des Prinzen zum Schweigen zu bringen und den Frieden her¬
zustellen, und so geht alles nach Wunsch aus. Das Disciplinarvergehen des
jungen Lieutenants geräth vollständig in Vergessenheit, obgleich es doch durch
den veränderten Erfolg nicht aufgehoben werden konnte, und obgleich der Prinz
vorher von dem abstracten Rechtsprincip ein großes Wesen gemacht hatt!. Es
ist nicht leicht möglich, sich eine weinerlichere Geschichte zu erdenken.--Ein
anderes Drama Heinrich Reuß von Plauen (180S) hat aus diesem fin¬
stern dämonischen Helden, dessen Schicksal um so tragischer war, weil in ihm die
allgemeine Schuld des Zeitalters mit der individuellen Schuld in Verbindung
trat, einen sanften, frommen, milden Heiligen gemacht, der durch seine Tugend
junge Heiden und Heidinnen zum Christenthum bekehrt und nur von Böse¬
wichter verkannt werden konnte. — Von einem dritten Stück Rudolph von
Habs bürg wollen wir nichts weitersagen, als daß es in Beziehung auf die
Form noch mehr ins Ideale geht. Die fünffüßigen Jamben sind nämlich regel¬
mäßig gereimt, so daß immer die 1. und 3., 2. und 4. Zeile einander ent¬
sprechen.

Kotzebue hat auch von Zeit zu Zeit der höher» Romantik gehuldigt. Der
merkwürdigste Versuch der Art ist das Zauberspiel: „die kluge Frau im
Walde öder der stumme Ritter" (-1801). Es steht zwischen der „Zauber¬
flöte" und den „Söhnen des Thals". Die großartigsten Wunder, Elfengestalten
von allen Seiten, kostbare idealische Kleidung, geheime Ritterschaften, finstere
Gräber geliebter Todten, die noch leben, das Gelübde des Schweigens drei
Jahre lang von einem treuen Cavalier gehalten, die höhere Mystik u. s. w., das
alles sind vortreffliche Ingredienzen für ein romantisches Gebräu/ Nur sind sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/348>, abgerufen am 23.07.2024.