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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Der Unterschied gegen das französische Theater besteht nur darin, daß die
Unzucht nicht physisch ausgeführt wird, daß sie in der Einbildung bleibt, daher
auch der zweite Titel "die schuldlosen schuldbewußten". Die Stimme der
Natur macht sich aus eine solche Weise vernehmlich, daß, wenn z. B. ein >
junger Mann sich zu einer Frau ins Bett legt, es sich findet, daß er eine ver¬
kleidete Dame ist, daß, wenn eine Gräfin ihren Stallmeister umarmt, sich dieser
als ihr Bruder herausstellt u. s. w. kurz, die Tugend wird gewahrt, und die
Liederlichkeit kann sich doch amüsiren. Auf diese Weise wäre allerdings auch
Voltaires "Pucelle" ein sittliches Buch. Es ist aber sehr die Frage, ob die
in diesen Lustspielen dargestellte Gewohnheit, sich in unsittlichen Darstellungen,
zu ergehen, nicht etwas Schlimmeres ist, als das wirklich ausgeführte indivi¬
duelle Verbrechen. Was in dieser angeblich guten Gesellschaft alles gesprochen
und gefühlt wird, übersteigt alle Begriffe. -- In den beiden "Klingsbergen"
wird das Gefühl der Unsittlichkeit noch dadurch gesteigert, daß Empfindsamkeit
hineingelegt ist. Daß ein alter und ein junger Wüstling jedem Mädchen nach¬
laufen, um es zu verführen^ und daß diese Versuche endlich zum Guten aus¬
schlagen, dagegen wäre nichts einzuwenden; aber daß ein tugendhafter Offizier,
dessen Schwester durch einen dieser Wüstling? beleidigt ist, sich vor ihm de¬
müthigt, ja sich von ihm im Duell erstechen lassen will, weil jener ihm das
Versprechen gegeben hat, im Fall seines Todes für die SMvester zu sorgen,
das ist eine'Unwürdigkeit, die durch keinen glücklichen Ausgang aufgehoben
werden kann. -- Am frechsten finden wir die unsittlichen Begriffe von der Ehe
in einem Stück "der Russe in Deutschland" (-1803) ausgesprochen. Die Mög¬
lichkeit', innerhalb der protestantischen Kirche eine wirklich > unsittliche Ehe zu
scheiden, ist allerdings ein Vorzug, aber die Frivolität, mit welcher hier diese
immer doch sehr ernsthafte Angelegenheit behandelt wird, ist wahrhaft empörend.
Ueberhaupt geniren sich bei Kotzebue auch die tugendhaftesten und gebildetsten
Frauen nicht im geringsten, einen jungen Mann, der ihnen die Cour macht,
die Geheimnisse ihrer eignen Ehe zu enthüllen.

In der spätern Zeit, wo Kotzebues Productionskraft überhaupt schwächer
war, hat er sich mehr auf das kleine Genre geworfen. Einzelne von diesen
Burlesken (z. B. die Zerstreuter, 1809) sind sehr komisch, in andern dagegen,
namentlich in den Travestien, trägt er eine wahrhaft widerwärtige Gemeinheit
zur Schau. Ueberhaupt ist trotz der großen Fruchtbarkeit seiner Einbildungs¬
kraft in seinen Erfindungen, in seinen Motiven und namentlich in seinen
Formen eine gewisse Monotonie, die um so mehr ermüdet, da sie immer mit
großem Anspruch auf Neuheit und Ungewöhnlichkeit auftreten.

Wir wenden uns zu den heroischen Stücken.

"Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf Kamtschatka" (1794)
eröffnete diese Reihe. So gering man von der Structur dieses Stücks denken


Der Unterschied gegen das französische Theater besteht nur darin, daß die
Unzucht nicht physisch ausgeführt wird, daß sie in der Einbildung bleibt, daher
auch der zweite Titel „die schuldlosen schuldbewußten". Die Stimme der
Natur macht sich aus eine solche Weise vernehmlich, daß, wenn z. B. ein >
junger Mann sich zu einer Frau ins Bett legt, es sich findet, daß er eine ver¬
kleidete Dame ist, daß, wenn eine Gräfin ihren Stallmeister umarmt, sich dieser
als ihr Bruder herausstellt u. s. w. kurz, die Tugend wird gewahrt, und die
Liederlichkeit kann sich doch amüsiren. Auf diese Weise wäre allerdings auch
Voltaires „Pucelle" ein sittliches Buch. Es ist aber sehr die Frage, ob die
in diesen Lustspielen dargestellte Gewohnheit, sich in unsittlichen Darstellungen,
zu ergehen, nicht etwas Schlimmeres ist, als das wirklich ausgeführte indivi¬
duelle Verbrechen. Was in dieser angeblich guten Gesellschaft alles gesprochen
und gefühlt wird, übersteigt alle Begriffe. — In den beiden „Klingsbergen"
wird das Gefühl der Unsittlichkeit noch dadurch gesteigert, daß Empfindsamkeit
hineingelegt ist. Daß ein alter und ein junger Wüstling jedem Mädchen nach¬
laufen, um es zu verführen^ und daß diese Versuche endlich zum Guten aus¬
schlagen, dagegen wäre nichts einzuwenden; aber daß ein tugendhafter Offizier,
dessen Schwester durch einen dieser Wüstling? beleidigt ist, sich vor ihm de¬
müthigt, ja sich von ihm im Duell erstechen lassen will, weil jener ihm das
Versprechen gegeben hat, im Fall seines Todes für die SMvester zu sorgen,
das ist eine'Unwürdigkeit, die durch keinen glücklichen Ausgang aufgehoben
werden kann. — Am frechsten finden wir die unsittlichen Begriffe von der Ehe
in einem Stück „der Russe in Deutschland" (-1803) ausgesprochen. Die Mög¬
lichkeit', innerhalb der protestantischen Kirche eine wirklich > unsittliche Ehe zu
scheiden, ist allerdings ein Vorzug, aber die Frivolität, mit welcher hier diese
immer doch sehr ernsthafte Angelegenheit behandelt wird, ist wahrhaft empörend.
Ueberhaupt geniren sich bei Kotzebue auch die tugendhaftesten und gebildetsten
Frauen nicht im geringsten, einen jungen Mann, der ihnen die Cour macht,
die Geheimnisse ihrer eignen Ehe zu enthüllen.

In der spätern Zeit, wo Kotzebues Productionskraft überhaupt schwächer
war, hat er sich mehr auf das kleine Genre geworfen. Einzelne von diesen
Burlesken (z. B. die Zerstreuter, 1809) sind sehr komisch, in andern dagegen,
namentlich in den Travestien, trägt er eine wahrhaft widerwärtige Gemeinheit
zur Schau. Ueberhaupt ist trotz der großen Fruchtbarkeit seiner Einbildungs¬
kraft in seinen Erfindungen, in seinen Motiven und namentlich in seinen
Formen eine gewisse Monotonie, die um so mehr ermüdet, da sie immer mit
großem Anspruch auf Neuheit und Ungewöhnlichkeit auftreten.

Wir wenden uns zu den heroischen Stücken.

„Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf Kamtschatka" (1794)
eröffnete diese Reihe. So gering man von der Structur dieses Stücks denken


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[0342] Der Unterschied gegen das französische Theater besteht nur darin, daß die Unzucht nicht physisch ausgeführt wird, daß sie in der Einbildung bleibt, daher auch der zweite Titel „die schuldlosen schuldbewußten". Die Stimme der Natur macht sich aus eine solche Weise vernehmlich, daß, wenn z. B. ein > junger Mann sich zu einer Frau ins Bett legt, es sich findet, daß er eine ver¬ kleidete Dame ist, daß, wenn eine Gräfin ihren Stallmeister umarmt, sich dieser als ihr Bruder herausstellt u. s. w. kurz, die Tugend wird gewahrt, und die Liederlichkeit kann sich doch amüsiren. Auf diese Weise wäre allerdings auch Voltaires „Pucelle" ein sittliches Buch. Es ist aber sehr die Frage, ob die in diesen Lustspielen dargestellte Gewohnheit, sich in unsittlichen Darstellungen, zu ergehen, nicht etwas Schlimmeres ist, als das wirklich ausgeführte indivi¬ duelle Verbrechen. Was in dieser angeblich guten Gesellschaft alles gesprochen und gefühlt wird, übersteigt alle Begriffe. — In den beiden „Klingsbergen" wird das Gefühl der Unsittlichkeit noch dadurch gesteigert, daß Empfindsamkeit hineingelegt ist. Daß ein alter und ein junger Wüstling jedem Mädchen nach¬ laufen, um es zu verführen^ und daß diese Versuche endlich zum Guten aus¬ schlagen, dagegen wäre nichts einzuwenden; aber daß ein tugendhafter Offizier, dessen Schwester durch einen dieser Wüstling? beleidigt ist, sich vor ihm de¬ müthigt, ja sich von ihm im Duell erstechen lassen will, weil jener ihm das Versprechen gegeben hat, im Fall seines Todes für die SMvester zu sorgen, das ist eine'Unwürdigkeit, die durch keinen glücklichen Ausgang aufgehoben werden kann. — Am frechsten finden wir die unsittlichen Begriffe von der Ehe in einem Stück „der Russe in Deutschland" (-1803) ausgesprochen. Die Mög¬ lichkeit', innerhalb der protestantischen Kirche eine wirklich > unsittliche Ehe zu scheiden, ist allerdings ein Vorzug, aber die Frivolität, mit welcher hier diese immer doch sehr ernsthafte Angelegenheit behandelt wird, ist wahrhaft empörend. Ueberhaupt geniren sich bei Kotzebue auch die tugendhaftesten und gebildetsten Frauen nicht im geringsten, einen jungen Mann, der ihnen die Cour macht, die Geheimnisse ihrer eignen Ehe zu enthüllen. In der spätern Zeit, wo Kotzebues Productionskraft überhaupt schwächer war, hat er sich mehr auf das kleine Genre geworfen. Einzelne von diesen Burlesken (z. B. die Zerstreuter, 1809) sind sehr komisch, in andern dagegen, namentlich in den Travestien, trägt er eine wahrhaft widerwärtige Gemeinheit zur Schau. Ueberhaupt ist trotz der großen Fruchtbarkeit seiner Einbildungs¬ kraft in seinen Erfindungen, in seinen Motiven und namentlich in seinen Formen eine gewisse Monotonie, die um so mehr ermüdet, da sie immer mit großem Anspruch auf Neuheit und Ungewöhnlichkeit auftreten. Wir wenden uns zu den heroischen Stücken. „Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf Kamtschatka" (1794) eröffnete diese Reihe. So gering man von der Structur dieses Stücks denken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/341>, abgerufen am 22.12.2024.