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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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dem Grafen von Gleichen, und da er mit seinen beiden Weibern in einem
ähnlichen Paradies der Unschuld lebt, wie es Moritz der Sonderling sucht,
nimmt dieser Kampf gegen das Vorurtheil ein zweckmäßigeres Ende, als in
Goethe's Stella. In dem Opfertod (1798>, welches Kotzebue für das beste
seiner Stücke erklärt, wird drei Acte hindurch auf das schrecklichste gehungert.
Ein verarmter Kaufmann, seine Frau, sein Kind und seine alte blinde Mutter
hungern wetteifernd. Ein großer Moment ist es, als der hungernde Vater
eine Semmel sieht, die sein Sohn zurückgelassen hat, und nun einen schweren
Kampf, mit sich selbst besteht, ob er sich dieser, Semmel bemächtigen oder sie
einem gleichfalls halbverhungerter Hunde geben soll., Das Princip siegt über
das Gefühl. Mit dem großen Ausruf: "Gib sie dem Phylar!" schließt der
erste Act. Vergebens sucht der unglückliche Vater Hilfe bei seinen Freunden,
nur einer bietet ihm Beistand an, ein europäischer Rolla, der ehemalige
Geliebte seiner Frau.. Allein von diesem verbietet ihm die Ehre, eine Unter¬
stützung anzunehmen, obgleich er vor Hunger in Ohnmacht fällt. Und so faßt
er denn den großen Entschluß, ins Wasser zu springen um jenem treuen Lieb¬
haber seine Frau zu überlassen. Er wird gerettet, ein reicher Mann adoptirt
ihn und so endet das Stück, nachdem alle Krämpfe der Verzweiflung durch¬
geführt sind, auf eine erwünschte Weise. -- Weniger schrecklich Äußere sich der
Hunger in Armuth und Evelsinn (1793). Der arme Lieutenant Ceder-
ström hat wenigstens noch ein Stück schwarzes Brod, das er in der Tasche
mit sich herumführt, aber dieses Brod bringt seine Ehre in Gefahr; denn als
in einer größeren Gesellschaft eine werthvolle Tabaksdose verschwindet und alle
Anwesenden ihre Taschen umkehren, weigert er sich, es zu thun und kommt
dadurch in den Verdacht des Diebstahls: für einen Offizier jedenfalls eine sehr
unästhetische Lage, auch wenn sich seine Unschuld nachher herausstellt. --
Schlimmer wird mit der Phantasie in dem dramatischen Gemälde die Neger¬
sklaven gespielt (1796). Mehr ist selbst im Onkel Tom nicht gelastet. Ein
schändlicher Pflanzer mißhandelt seine Neger vom Anfang bis zu Ende und
erzählt mit großem Wohlgefallen von seinen früheren Heldenthaten. Als z. B.
eine junge Negerin sich ihm nicht ergeben wollte, ließ er ihr den ganzen Leib
mit Stecknadeln sanft zerprickeln, dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle
um die Finger gewickelt und , angezündet. Aehnliche sinnreiche Erfindungen
ergötzen das Publicum das ganze Stück hindurch. In unsrer Zeit sind wir
schon mehr daran gewöhnt, denn wir erfreuen uns bereits einer ganz bedeuten¬
den Zahl ähnlicher Negerstücke. Sehr bös ist auch e,in Schauspiel die Ver¬
leumder (1796). Eine Madame Emilie Moorland hat die seltsame Leiden¬
schaft, ihren Wohlthätigkeitstrieb vorzugsweise um Mitternacht auszuüben, sie
macht um diese Zeit geheime Besuche in den entfernten Stadttheilen. So kann
es denn nicht Wunder nehmen, daß ihr Mann durch einen bösen Verleumder


Ärenzbolen. II. -I86i. , 42

dem Grafen von Gleichen, und da er mit seinen beiden Weibern in einem
ähnlichen Paradies der Unschuld lebt, wie es Moritz der Sonderling sucht,
nimmt dieser Kampf gegen das Vorurtheil ein zweckmäßigeres Ende, als in
Goethe's Stella. In dem Opfertod (1798>, welches Kotzebue für das beste
seiner Stücke erklärt, wird drei Acte hindurch auf das schrecklichste gehungert.
Ein verarmter Kaufmann, seine Frau, sein Kind und seine alte blinde Mutter
hungern wetteifernd. Ein großer Moment ist es, als der hungernde Vater
eine Semmel sieht, die sein Sohn zurückgelassen hat, und nun einen schweren
Kampf, mit sich selbst besteht, ob er sich dieser, Semmel bemächtigen oder sie
einem gleichfalls halbverhungerter Hunde geben soll., Das Princip siegt über
das Gefühl. Mit dem großen Ausruf: „Gib sie dem Phylar!" schließt der
erste Act. Vergebens sucht der unglückliche Vater Hilfe bei seinen Freunden,
nur einer bietet ihm Beistand an, ein europäischer Rolla, der ehemalige
Geliebte seiner Frau.. Allein von diesem verbietet ihm die Ehre, eine Unter¬
stützung anzunehmen, obgleich er vor Hunger in Ohnmacht fällt. Und so faßt
er denn den großen Entschluß, ins Wasser zu springen um jenem treuen Lieb¬
haber seine Frau zu überlassen. Er wird gerettet, ein reicher Mann adoptirt
ihn und so endet das Stück, nachdem alle Krämpfe der Verzweiflung durch¬
geführt sind, auf eine erwünschte Weise. — Weniger schrecklich Äußere sich der
Hunger in Armuth und Evelsinn (1793). Der arme Lieutenant Ceder-
ström hat wenigstens noch ein Stück schwarzes Brod, das er in der Tasche
mit sich herumführt, aber dieses Brod bringt seine Ehre in Gefahr; denn als
in einer größeren Gesellschaft eine werthvolle Tabaksdose verschwindet und alle
Anwesenden ihre Taschen umkehren, weigert er sich, es zu thun und kommt
dadurch in den Verdacht des Diebstahls: für einen Offizier jedenfalls eine sehr
unästhetische Lage, auch wenn sich seine Unschuld nachher herausstellt. —
Schlimmer wird mit der Phantasie in dem dramatischen Gemälde die Neger¬
sklaven gespielt (1796). Mehr ist selbst im Onkel Tom nicht gelastet. Ein
schändlicher Pflanzer mißhandelt seine Neger vom Anfang bis zu Ende und
erzählt mit großem Wohlgefallen von seinen früheren Heldenthaten. Als z. B.
eine junge Negerin sich ihm nicht ergeben wollte, ließ er ihr den ganzen Leib
mit Stecknadeln sanft zerprickeln, dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle
um die Finger gewickelt und , angezündet. Aehnliche sinnreiche Erfindungen
ergötzen das Publicum das ganze Stück hindurch. In unsrer Zeit sind wir
schon mehr daran gewöhnt, denn wir erfreuen uns bereits einer ganz bedeuten¬
den Zahl ähnlicher Negerstücke. Sehr bös ist auch e,in Schauspiel die Ver¬
leumder (1796). Eine Madame Emilie Moorland hat die seltsame Leiden¬
schaft, ihren Wohlthätigkeitstrieb vorzugsweise um Mitternacht auszuüben, sie
macht um diese Zeit geheime Besuche in den entfernten Stadttheilen. So kann
es denn nicht Wunder nehmen, daß ihr Mann durch einen bösen Verleumder


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[0337] dem Grafen von Gleichen, und da er mit seinen beiden Weibern in einem ähnlichen Paradies der Unschuld lebt, wie es Moritz der Sonderling sucht, nimmt dieser Kampf gegen das Vorurtheil ein zweckmäßigeres Ende, als in Goethe's Stella. In dem Opfertod (1798>, welches Kotzebue für das beste seiner Stücke erklärt, wird drei Acte hindurch auf das schrecklichste gehungert. Ein verarmter Kaufmann, seine Frau, sein Kind und seine alte blinde Mutter hungern wetteifernd. Ein großer Moment ist es, als der hungernde Vater eine Semmel sieht, die sein Sohn zurückgelassen hat, und nun einen schweren Kampf, mit sich selbst besteht, ob er sich dieser, Semmel bemächtigen oder sie einem gleichfalls halbverhungerter Hunde geben soll., Das Princip siegt über das Gefühl. Mit dem großen Ausruf: „Gib sie dem Phylar!" schließt der erste Act. Vergebens sucht der unglückliche Vater Hilfe bei seinen Freunden, nur einer bietet ihm Beistand an, ein europäischer Rolla, der ehemalige Geliebte seiner Frau.. Allein von diesem verbietet ihm die Ehre, eine Unter¬ stützung anzunehmen, obgleich er vor Hunger in Ohnmacht fällt. Und so faßt er denn den großen Entschluß, ins Wasser zu springen um jenem treuen Lieb¬ haber seine Frau zu überlassen. Er wird gerettet, ein reicher Mann adoptirt ihn und so endet das Stück, nachdem alle Krämpfe der Verzweiflung durch¬ geführt sind, auf eine erwünschte Weise. — Weniger schrecklich Äußere sich der Hunger in Armuth und Evelsinn (1793). Der arme Lieutenant Ceder- ström hat wenigstens noch ein Stück schwarzes Brod, das er in der Tasche mit sich herumführt, aber dieses Brod bringt seine Ehre in Gefahr; denn als in einer größeren Gesellschaft eine werthvolle Tabaksdose verschwindet und alle Anwesenden ihre Taschen umkehren, weigert er sich, es zu thun und kommt dadurch in den Verdacht des Diebstahls: für einen Offizier jedenfalls eine sehr unästhetische Lage, auch wenn sich seine Unschuld nachher herausstellt. — Schlimmer wird mit der Phantasie in dem dramatischen Gemälde die Neger¬ sklaven gespielt (1796). Mehr ist selbst im Onkel Tom nicht gelastet. Ein schändlicher Pflanzer mißhandelt seine Neger vom Anfang bis zu Ende und erzählt mit großem Wohlgefallen von seinen früheren Heldenthaten. Als z. B. eine junge Negerin sich ihm nicht ergeben wollte, ließ er ihr den ganzen Leib mit Stecknadeln sanft zerprickeln, dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle um die Finger gewickelt und , angezündet. Aehnliche sinnreiche Erfindungen ergötzen das Publicum das ganze Stück hindurch. In unsrer Zeit sind wir schon mehr daran gewöhnt, denn wir erfreuen uns bereits einer ganz bedeuten¬ den Zahl ähnlicher Negerstücke. Sehr bös ist auch e,in Schauspiel die Ver¬ leumder (1796). Eine Madame Emilie Moorland hat die seltsame Leiden¬ schaft, ihren Wohlthätigkeitstrieb vorzugsweise um Mitternacht auszuüben, sie macht um diese Zeit geheime Besuche in den entfernten Stadttheilen. So kann es denn nicht Wunder nehmen, daß ihr Mann durch einen bösen Verleumder Ärenzbolen. II. -I86i. , 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/336>, abgerufen am 23.07.2024.