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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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ziehung ebenso widerwärtig, als in moralischer verwerflich ist. Die christliche
Humanität kann Toleranz ausüben, die Kunst hat nicht das Recht dazu, sonst
erniedrigt sie sich zum Anwalt der Gemeinheit, und am häßlichsten wird diese
sophistische Analyse des Gefühls und der Pflicht, wenn sie den trivialen Empfin¬
dungen des Pöbels schmeichelt.

Eine neue Stimme der Natur schallt uns aus dem Lustspiel Bruder
Moritz der Sonderling (1791) entgegen. Zwei edle Männer, Moritz, der
aus Huldigung gegen die Fortschritte des Zeitalters hen Grafentitel niedergelegt
hat, und Omar, der in einen Araber verkleidete Rolla,- kämpfen verbrüdert
gegen die Vorurtheile der europäischen Civilisation. Moritz ist so ungeschickt,
diesen Omar, der ihm unter verschiedenen, sehr erschwerenden Umständen das
Leben gerettet hat und dessen Sklave er in Afrika war, für seinen Bedienten
auszugeben und der ganzen Familie durch die Vertraulichkeit, mit der er ihn
behandelt, ein Aergerniß zu geben, aus keinem andern Grunde, als um gegen
den Unterschied der Stände zu protestiren. Moritz erklärt es sü-r ein Vorurtheil,
was man die Bande des Bluts nennt: er erklärt es für ein Vorurtheil, daß
man seine Schwester nicht heirathen solle, er ist bereit, seinem Freunde seine
sämmtlichen Schwestern, zu Frauen zu geben; er duzt alle Menschen, er findet
das Dienstmädchen seiner Schwester schön, sieht Tugend in ihren Augen und
erklärt ohne-weiteres, er wolle sie heirathen. Daraus gesteht diese edle Seele,
mit schwerem Herzen, sie sei ein gefallener Engel, sie habe schon ein Kind,
welches sie auch vorfeigt. "Was schadet das?" antwortet Moritz. "Das ist
auch so ein europäisches Vorurtheil. Weibliche Tugend ist ein Vorurtheil,
Wenn mir mein Weib nicht behagt, nehme ich mir ein anderes." Dann wird
über die Ehre discutirt und er spricht darüber grade wie Falstaff. Dieser wackere
Prophet findet eine ganze Reihe von Anhängern, die ebenso wie er die
europäischen Vorurtheile verachten. Sie begatten sich alle untereinander, denn
es ist grade ein warmer Frühlingstag und alle Schwalben bauen ihre Nester,
setzen sich auf das Schiff und reisen zusamuien nach dem Pelewinseln, jenem
Paradies der Unschuld und Natur, welches damals erst entdeckt und durch
Campes Reisebeschreibungen der aufwachsenden Jugend empfohlen war. Das
erträglichste Wesen dieser neuen Kolonie' ist Nettchen, die civilistrte Guru,
d. h. die ausgemachte Kokette', die ihren sentimentalen arabischen Liebhaber an
einem Faden flattern läßt, wie der Knabe den Schmetterling und wie es alle
die späteren, Nettchen thun, die uns seit der Zeit auf dem Theater entzücken.

Es würde höchst ermüdend sein, die verschiedenen Variationen, in denen
sich unsrem Dichter die Stimme der Natur vernehmlich macht und in denen er
die Vorurtheile der menschlichen Gesellschaft bekämpft, im einzelnen zu ver¬
folgen. Wir heben nur einige charakteristische Züge hervor. In La Peyrouse
(1797) wird diesem verunglückten Weltumsegler eine Doppelehe angedichtet, wie


ziehung ebenso widerwärtig, als in moralischer verwerflich ist. Die christliche
Humanität kann Toleranz ausüben, die Kunst hat nicht das Recht dazu, sonst
erniedrigt sie sich zum Anwalt der Gemeinheit, und am häßlichsten wird diese
sophistische Analyse des Gefühls und der Pflicht, wenn sie den trivialen Empfin¬
dungen des Pöbels schmeichelt.

Eine neue Stimme der Natur schallt uns aus dem Lustspiel Bruder
Moritz der Sonderling (1791) entgegen. Zwei edle Männer, Moritz, der
aus Huldigung gegen die Fortschritte des Zeitalters hen Grafentitel niedergelegt
hat, und Omar, der in einen Araber verkleidete Rolla,- kämpfen verbrüdert
gegen die Vorurtheile der europäischen Civilisation. Moritz ist so ungeschickt,
diesen Omar, der ihm unter verschiedenen, sehr erschwerenden Umständen das
Leben gerettet hat und dessen Sklave er in Afrika war, für seinen Bedienten
auszugeben und der ganzen Familie durch die Vertraulichkeit, mit der er ihn
behandelt, ein Aergerniß zu geben, aus keinem andern Grunde, als um gegen
den Unterschied der Stände zu protestiren. Moritz erklärt es sü-r ein Vorurtheil,
was man die Bande des Bluts nennt: er erklärt es für ein Vorurtheil, daß
man seine Schwester nicht heirathen solle, er ist bereit, seinem Freunde seine
sämmtlichen Schwestern, zu Frauen zu geben; er duzt alle Menschen, er findet
das Dienstmädchen seiner Schwester schön, sieht Tugend in ihren Augen und
erklärt ohne-weiteres, er wolle sie heirathen. Daraus gesteht diese edle Seele,
mit schwerem Herzen, sie sei ein gefallener Engel, sie habe schon ein Kind,
welches sie auch vorfeigt. „Was schadet das?" antwortet Moritz. „Das ist
auch so ein europäisches Vorurtheil. Weibliche Tugend ist ein Vorurtheil,
Wenn mir mein Weib nicht behagt, nehme ich mir ein anderes." Dann wird
über die Ehre discutirt und er spricht darüber grade wie Falstaff. Dieser wackere
Prophet findet eine ganze Reihe von Anhängern, die ebenso wie er die
europäischen Vorurtheile verachten. Sie begatten sich alle untereinander, denn
es ist grade ein warmer Frühlingstag und alle Schwalben bauen ihre Nester,
setzen sich auf das Schiff und reisen zusamuien nach dem Pelewinseln, jenem
Paradies der Unschuld und Natur, welches damals erst entdeckt und durch
Campes Reisebeschreibungen der aufwachsenden Jugend empfohlen war. Das
erträglichste Wesen dieser neuen Kolonie' ist Nettchen, die civilistrte Guru,
d. h. die ausgemachte Kokette', die ihren sentimentalen arabischen Liebhaber an
einem Faden flattern läßt, wie der Knabe den Schmetterling und wie es alle
die späteren, Nettchen thun, die uns seit der Zeit auf dem Theater entzücken.

Es würde höchst ermüdend sein, die verschiedenen Variationen, in denen
sich unsrem Dichter die Stimme der Natur vernehmlich macht und in denen er
die Vorurtheile der menschlichen Gesellschaft bekämpft, im einzelnen zu ver¬
folgen. Wir heben nur einige charakteristische Züge hervor. In La Peyrouse
(1797) wird diesem verunglückten Weltumsegler eine Doppelehe angedichtet, wie


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[0336] ziehung ebenso widerwärtig, als in moralischer verwerflich ist. Die christliche Humanität kann Toleranz ausüben, die Kunst hat nicht das Recht dazu, sonst erniedrigt sie sich zum Anwalt der Gemeinheit, und am häßlichsten wird diese sophistische Analyse des Gefühls und der Pflicht, wenn sie den trivialen Empfin¬ dungen des Pöbels schmeichelt. Eine neue Stimme der Natur schallt uns aus dem Lustspiel Bruder Moritz der Sonderling (1791) entgegen. Zwei edle Männer, Moritz, der aus Huldigung gegen die Fortschritte des Zeitalters hen Grafentitel niedergelegt hat, und Omar, der in einen Araber verkleidete Rolla,- kämpfen verbrüdert gegen die Vorurtheile der europäischen Civilisation. Moritz ist so ungeschickt, diesen Omar, der ihm unter verschiedenen, sehr erschwerenden Umständen das Leben gerettet hat und dessen Sklave er in Afrika war, für seinen Bedienten auszugeben und der ganzen Familie durch die Vertraulichkeit, mit der er ihn behandelt, ein Aergerniß zu geben, aus keinem andern Grunde, als um gegen den Unterschied der Stände zu protestiren. Moritz erklärt es sü-r ein Vorurtheil, was man die Bande des Bluts nennt: er erklärt es für ein Vorurtheil, daß man seine Schwester nicht heirathen solle, er ist bereit, seinem Freunde seine sämmtlichen Schwestern, zu Frauen zu geben; er duzt alle Menschen, er findet das Dienstmädchen seiner Schwester schön, sieht Tugend in ihren Augen und erklärt ohne-weiteres, er wolle sie heirathen. Daraus gesteht diese edle Seele, mit schwerem Herzen, sie sei ein gefallener Engel, sie habe schon ein Kind, welches sie auch vorfeigt. „Was schadet das?" antwortet Moritz. „Das ist auch so ein europäisches Vorurtheil. Weibliche Tugend ist ein Vorurtheil, Wenn mir mein Weib nicht behagt, nehme ich mir ein anderes." Dann wird über die Ehre discutirt und er spricht darüber grade wie Falstaff. Dieser wackere Prophet findet eine ganze Reihe von Anhängern, die ebenso wie er die europäischen Vorurtheile verachten. Sie begatten sich alle untereinander, denn es ist grade ein warmer Frühlingstag und alle Schwalben bauen ihre Nester, setzen sich auf das Schiff und reisen zusamuien nach dem Pelewinseln, jenem Paradies der Unschuld und Natur, welches damals erst entdeckt und durch Campes Reisebeschreibungen der aufwachsenden Jugend empfohlen war. Das erträglichste Wesen dieser neuen Kolonie' ist Nettchen, die civilistrte Guru, d. h. die ausgemachte Kokette', die ihren sentimentalen arabischen Liebhaber an einem Faden flattern läßt, wie der Knabe den Schmetterling und wie es alle die späteren, Nettchen thun, die uns seit der Zeit auf dem Theater entzücken. Es würde höchst ermüdend sein, die verschiedenen Variationen, in denen sich unsrem Dichter die Stimme der Natur vernehmlich macht und in denen er die Vorurtheile der menschlichen Gesellschaft bekämpft, im einzelnen zu ver¬ folgen. Wir heben nur einige charakteristische Züge hervor. In La Peyrouse (1797) wird diesem verunglückten Weltumsegler eine Doppelehe angedichtet, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/335>, abgerufen am 23.07.2024.