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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Sehr charakteristisch ist wieder das Kind der Liebe (1790). Der ganze
1. Act beschäftigt sich damit, daß eine -in Lumpen gehüllte, abgehärmte Gestalt,
Namens Wilhelmine, die das Fieber hat und schrecklich hungert, vor den
Thüren bettelt. Endlich kommt ihr Sohn Fritz dazu und sie gesteht ihm, daß
er ein Kind der Liebe ist, die Frucht der Verführung. Im A. Act geht die
Bettelei weiter fort. Zum Ueberfluß beschließt ihr Sohn seinerseits gleichfalls
zu betteln oder zu stehlen, welchen Borsatz er im 3. Act ausführt. Er spricht
einen Herrn um Almosen an und ruft, als dieser ihm nicht genug geben will,
!a Kourse on ig, viel.Er wird infolge dessen verhaftet und es ergibt sich, daß
dieser Herr sein Water ist. Man erwartet in diesem einen herzlosen Aristokraten
zu finden, aber nichts weniger, er hat in Beziehung auf den Adel gar keine
Vorurtheile, und als seine Tochter Guru einem armen demüthigen Prediger auf
den Leib rückt, ihm erklärt, sie'wolle ihn heirathen und trotz der kläglichen
Bescheidenheit dieses Mannes auch darauf besteht, nimmt er keinen Anstand,
seinen Segen zu geben.. Es muß ihn natürlich sehr unangenehm überraschen,
als er in dem Räuber seinen Sohn, in der unglücklichen Bettlerin seine ver¬
lassene Geliebte entdeckt. Er will ihr zu Hilfe kommen, aber Fritz auf der
einen, der Pfarrer, der sich nun ermannt, auf der andern Seite, katechisiren
ihn ernsthaft, und nachdem mit Wilhelmine eine strenge Prüfung vorgenommen
ist, wird sie geheirathet. Weiter kann die Misere des Lebens nicht getrieben
werden. Zum Ueberfluß spricht der Dichter noch durch den Mund des Pre¬
digers seine sittlichen Grundsätze aus. "Manches Vergehen, in zwei Worte
gefaßt, dünkt uns abscheulich. Wüßten wir aber alles, was dazwischen lag,
alles, was den Handelnden bestimmte, ohne daß er selbst es wußte, alle die
Kleinigkeiten, deren Einfluß so unmerklich und doch so groß ist; hätten wir
den Verbrecher von Schritt zu Schritt begleitet, statt daß uns jetzt nur der erste,
zehnte und zwanzigste ins Auge fällt; wahrlich, wir würden oft entschuldigen, wo
wir jetzt verdammen. Auch ein guter Mensch.kann wol einmal einen schlechten
Streich machen, ohne daß er eben aufhört, ein guter Mensch zu sein. Wo ist
der Halbgott, der von sich rühmen darf: mein Gewissen ist rein, wie frisch ge¬
fallener Schnee? Und gibt es einen solchen Prahler, so trauen Sie ihm um
Gottes willen nicht; er ist gefährlicher, als ein reuiger Sünder." -- In dem
Munde eines Predigers mag ein solcher Grundsatz, wenn er nur mit den
nöthigen Einschränkungen angewendet wird, ganz passend sein. Für die Poesie
dagegen hat er die höchsten Bedenken. Denn die Poesie soll, was im Leben
steh zerstreut und auseinanderfällt, in kräftigen Strichen zusammenfassen; sie
soll das Wesentliche von dem Unwesentlichen scheiden und dadurch aus der
zerstreuten Wirklichke.it das ideale Bild herstellen. Werden nun in dieses ideale
Bild die unwesentlichen, die accidentellen Motive aufgenommen, treten sie wol
gar in den Vordergrund, so entsteht daraus eine Fratze,' die in ästhetischer Be-


Sehr charakteristisch ist wieder das Kind der Liebe (1790). Der ganze
1. Act beschäftigt sich damit, daß eine -in Lumpen gehüllte, abgehärmte Gestalt,
Namens Wilhelmine, die das Fieber hat und schrecklich hungert, vor den
Thüren bettelt. Endlich kommt ihr Sohn Fritz dazu und sie gesteht ihm, daß
er ein Kind der Liebe ist, die Frucht der Verführung. Im A. Act geht die
Bettelei weiter fort. Zum Ueberfluß beschließt ihr Sohn seinerseits gleichfalls
zu betteln oder zu stehlen, welchen Borsatz er im 3. Act ausführt. Er spricht
einen Herrn um Almosen an und ruft, als dieser ihm nicht genug geben will,
!a Kourse on ig, viel.Er wird infolge dessen verhaftet und es ergibt sich, daß
dieser Herr sein Water ist. Man erwartet in diesem einen herzlosen Aristokraten
zu finden, aber nichts weniger, er hat in Beziehung auf den Adel gar keine
Vorurtheile, und als seine Tochter Guru einem armen demüthigen Prediger auf
den Leib rückt, ihm erklärt, sie'wolle ihn heirathen und trotz der kläglichen
Bescheidenheit dieses Mannes auch darauf besteht, nimmt er keinen Anstand,
seinen Segen zu geben.. Es muß ihn natürlich sehr unangenehm überraschen,
als er in dem Räuber seinen Sohn, in der unglücklichen Bettlerin seine ver¬
lassene Geliebte entdeckt. Er will ihr zu Hilfe kommen, aber Fritz auf der
einen, der Pfarrer, der sich nun ermannt, auf der andern Seite, katechisiren
ihn ernsthaft, und nachdem mit Wilhelmine eine strenge Prüfung vorgenommen
ist, wird sie geheirathet. Weiter kann die Misere des Lebens nicht getrieben
werden. Zum Ueberfluß spricht der Dichter noch durch den Mund des Pre¬
digers seine sittlichen Grundsätze aus. „Manches Vergehen, in zwei Worte
gefaßt, dünkt uns abscheulich. Wüßten wir aber alles, was dazwischen lag,
alles, was den Handelnden bestimmte, ohne daß er selbst es wußte, alle die
Kleinigkeiten, deren Einfluß so unmerklich und doch so groß ist; hätten wir
den Verbrecher von Schritt zu Schritt begleitet, statt daß uns jetzt nur der erste,
zehnte und zwanzigste ins Auge fällt; wahrlich, wir würden oft entschuldigen, wo
wir jetzt verdammen. Auch ein guter Mensch.kann wol einmal einen schlechten
Streich machen, ohne daß er eben aufhört, ein guter Mensch zu sein. Wo ist
der Halbgott, der von sich rühmen darf: mein Gewissen ist rein, wie frisch ge¬
fallener Schnee? Und gibt es einen solchen Prahler, so trauen Sie ihm um
Gottes willen nicht; er ist gefährlicher, als ein reuiger Sünder." — In dem
Munde eines Predigers mag ein solcher Grundsatz, wenn er nur mit den
nöthigen Einschränkungen angewendet wird, ganz passend sein. Für die Poesie
dagegen hat er die höchsten Bedenken. Denn die Poesie soll, was im Leben
steh zerstreut und auseinanderfällt, in kräftigen Strichen zusammenfassen; sie
soll das Wesentliche von dem Unwesentlichen scheiden und dadurch aus der
zerstreuten Wirklichke.it das ideale Bild herstellen. Werden nun in dieses ideale
Bild die unwesentlichen, die accidentellen Motive aufgenommen, treten sie wol
gar in den Vordergrund, so entsteht daraus eine Fratze,' die in ästhetischer Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/334>, abgerufen am 22.12.2024.