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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Wir würden auf diesen Umstand nicht ein so großes Gewicht legen, wenn
nicht in dieser Bewegung des Gedankens Lessing seinen eignen Charakter ent¬
wickelt hätte. Die Phasen der religiösen Ueberzeugung, die er Nathan durch¬
laufen läßt, sind seine eignen. Die fortwährende Rücksichtnahme auf die historische
Begründung der Religion war die Waffe, die er seinen Gegnern vorhielt, um sich
gegen ihre heimtückischen Angriffe zu decken; die Erkenntniß von der Nothwen¬
digkeit individueller Glaubensformen, in deren keiner die absolute Wahrheit voll¬
kommen erschiene, war das Resultat seiner philosophischen Ueberzeugung, und die
Hoffnung einer künstigen "Offenbarung, die das Widersprechende verwirklichen
sollte, der geheime Traum seines Herzens, jener Traum, den er auch in der Er¬
ziehung des Menschengeschlechts so rührend ausgesprochen hat. Daß er' diese
Gegensätze nicht zu überwinden wußte, lag darin, daß er den Begriff der Religion
niemals kritisch untersucht hat. In dieser Untersuchung sind wir durch die neuere
Philosophie jetzt weiter gekommen. Wir wissen, daß von der Form der Religion
das Moment des Individuellen, des gebrochenen Lichts nicht getrennt werden
kann, so wenig wie von der Form der Kunst, daß aber das souveräne Denken
in seinem Streben nach Wahrheit durch diese Form nicht eingeengt wird. Und
darum können wir hoffen, auch nach dieser Seite hin freier und erfolgreicher zu
arbeiten, als es Lesstng verstattet war.

Die Auseinandersetzung, was in der theologischen Polemik Lessings lediglich
auf die Gegner berechnet war und was ihm eigen angehörte, ist vortrefflich, und
wir können dem Resultat fast in allen Punkten beipflichten. Lessing war ^der
größte Aufklärer, der größte Freigeist unter den Deutschen des vorigen Jahrhun¬
derts, wenn ihm auch seine Bildung das Verständniß für die tiefe Bedeutung des
Christenthums, für seinen sittlichen und gemüthlichen Inhalt in viel höherem
Grade vermittelte, als es selbst bei den meisten Theologen der Fall war; -aber
dieses warme und starke Gefühl für das Positive und Gegebene engte die freie
Bewegung seines Geistes nicht im mindesten ein. Wenn er gegen den protestan¬
tischen Bibelglauben und für die Tradition kämpfte, so war das. nicht Hinneigung
zum Katholicismus, sondern richtige historische Erkenntniß. Wir gehen darin
weiter als Herr Schwarz. Für den Protestantismus war zwar die kritische Be¬
gründung der Religion durch die Bibel eine wichtige und folgenreiche Waffe, aber
historisch gerechtfertigt ist Lessings Ansicht vollkommen: das Christenthum ist nicht
lediglich ans die Bibel basirt, und man könnte die gesammte Bibel historisch-kritisch
widerlegen, ohne damit das Christenthum vollständig widerlegt zu haben. -- Wie
Lessing über die Orthodoxie dachte, hat er namentlich in den Briefen an seinen
Bruder^ so klar und unumwunden ausgesprochen, daß" darüber nicht der leiseste
Schatten eiues Zweifels stattfinden kann. Daß die rationalistische Zurechtmacherei
jener Tage seinem wissenschaftlichen Gewissen noch vielmehr zuwider war, daß er
sie "Mistjauche" nannte, während jene nur "unreines Wasser" war, machte ihn


.34 *

Wir würden auf diesen Umstand nicht ein so großes Gewicht legen, wenn
nicht in dieser Bewegung des Gedankens Lessing seinen eignen Charakter ent¬
wickelt hätte. Die Phasen der religiösen Ueberzeugung, die er Nathan durch¬
laufen läßt, sind seine eignen. Die fortwährende Rücksichtnahme auf die historische
Begründung der Religion war die Waffe, die er seinen Gegnern vorhielt, um sich
gegen ihre heimtückischen Angriffe zu decken; die Erkenntniß von der Nothwen¬
digkeit individueller Glaubensformen, in deren keiner die absolute Wahrheit voll¬
kommen erschiene, war das Resultat seiner philosophischen Ueberzeugung, und die
Hoffnung einer künstigen "Offenbarung, die das Widersprechende verwirklichen
sollte, der geheime Traum seines Herzens, jener Traum, den er auch in der Er¬
ziehung des Menschengeschlechts so rührend ausgesprochen hat. Daß er' diese
Gegensätze nicht zu überwinden wußte, lag darin, daß er den Begriff der Religion
niemals kritisch untersucht hat. In dieser Untersuchung sind wir durch die neuere
Philosophie jetzt weiter gekommen. Wir wissen, daß von der Form der Religion
das Moment des Individuellen, des gebrochenen Lichts nicht getrennt werden
kann, so wenig wie von der Form der Kunst, daß aber das souveräne Denken
in seinem Streben nach Wahrheit durch diese Form nicht eingeengt wird. Und
darum können wir hoffen, auch nach dieser Seite hin freier und erfolgreicher zu
arbeiten, als es Lesstng verstattet war.

Die Auseinandersetzung, was in der theologischen Polemik Lessings lediglich
auf die Gegner berechnet war und was ihm eigen angehörte, ist vortrefflich, und
wir können dem Resultat fast in allen Punkten beipflichten. Lessing war ^der
größte Aufklärer, der größte Freigeist unter den Deutschen des vorigen Jahrhun¬
derts, wenn ihm auch seine Bildung das Verständniß für die tiefe Bedeutung des
Christenthums, für seinen sittlichen und gemüthlichen Inhalt in viel höherem
Grade vermittelte, als es selbst bei den meisten Theologen der Fall war; -aber
dieses warme und starke Gefühl für das Positive und Gegebene engte die freie
Bewegung seines Geistes nicht im mindesten ein. Wenn er gegen den protestan¬
tischen Bibelglauben und für die Tradition kämpfte, so war das. nicht Hinneigung
zum Katholicismus, sondern richtige historische Erkenntniß. Wir gehen darin
weiter als Herr Schwarz. Für den Protestantismus war zwar die kritische Be¬
gründung der Religion durch die Bibel eine wichtige und folgenreiche Waffe, aber
historisch gerechtfertigt ist Lessings Ansicht vollkommen: das Christenthum ist nicht
lediglich ans die Bibel basirt, und man könnte die gesammte Bibel historisch-kritisch
widerlegen, ohne damit das Christenthum vollständig widerlegt zu haben. — Wie
Lessing über die Orthodoxie dachte, hat er namentlich in den Briefen an seinen
Bruder^ so klar und unumwunden ausgesprochen, daß" darüber nicht der leiseste
Schatten eiues Zweifels stattfinden kann. Daß die rationalistische Zurechtmacherei
jener Tage seinem wissenschaftlichen Gewissen noch vielmehr zuwider war, daß er
sie „Mistjauche" nannte, während jene nur „unreines Wasser" war, machte ihn


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[0275] Wir würden auf diesen Umstand nicht ein so großes Gewicht legen, wenn nicht in dieser Bewegung des Gedankens Lessing seinen eignen Charakter ent¬ wickelt hätte. Die Phasen der religiösen Ueberzeugung, die er Nathan durch¬ laufen läßt, sind seine eignen. Die fortwährende Rücksichtnahme auf die historische Begründung der Religion war die Waffe, die er seinen Gegnern vorhielt, um sich gegen ihre heimtückischen Angriffe zu decken; die Erkenntniß von der Nothwen¬ digkeit individueller Glaubensformen, in deren keiner die absolute Wahrheit voll¬ kommen erschiene, war das Resultat seiner philosophischen Ueberzeugung, und die Hoffnung einer künstigen "Offenbarung, die das Widersprechende verwirklichen sollte, der geheime Traum seines Herzens, jener Traum, den er auch in der Er¬ ziehung des Menschengeschlechts so rührend ausgesprochen hat. Daß er' diese Gegensätze nicht zu überwinden wußte, lag darin, daß er den Begriff der Religion niemals kritisch untersucht hat. In dieser Untersuchung sind wir durch die neuere Philosophie jetzt weiter gekommen. Wir wissen, daß von der Form der Religion das Moment des Individuellen, des gebrochenen Lichts nicht getrennt werden kann, so wenig wie von der Form der Kunst, daß aber das souveräne Denken in seinem Streben nach Wahrheit durch diese Form nicht eingeengt wird. Und darum können wir hoffen, auch nach dieser Seite hin freier und erfolgreicher zu arbeiten, als es Lesstng verstattet war. Die Auseinandersetzung, was in der theologischen Polemik Lessings lediglich auf die Gegner berechnet war und was ihm eigen angehörte, ist vortrefflich, und wir können dem Resultat fast in allen Punkten beipflichten. Lessing war ^der größte Aufklärer, der größte Freigeist unter den Deutschen des vorigen Jahrhun¬ derts, wenn ihm auch seine Bildung das Verständniß für die tiefe Bedeutung des Christenthums, für seinen sittlichen und gemüthlichen Inhalt in viel höherem Grade vermittelte, als es selbst bei den meisten Theologen der Fall war; -aber dieses warme und starke Gefühl für das Positive und Gegebene engte die freie Bewegung seines Geistes nicht im mindesten ein. Wenn er gegen den protestan¬ tischen Bibelglauben und für die Tradition kämpfte, so war das. nicht Hinneigung zum Katholicismus, sondern richtige historische Erkenntniß. Wir gehen darin weiter als Herr Schwarz. Für den Protestantismus war zwar die kritische Be¬ gründung der Religion durch die Bibel eine wichtige und folgenreiche Waffe, aber historisch gerechtfertigt ist Lessings Ansicht vollkommen: das Christenthum ist nicht lediglich ans die Bibel basirt, und man könnte die gesammte Bibel historisch-kritisch widerlegen, ohne damit das Christenthum vollständig widerlegt zu haben. — Wie Lessing über die Orthodoxie dachte, hat er namentlich in den Briefen an seinen Bruder^ so klar und unumwunden ausgesprochen, daß" darüber nicht der leiseste Schatten eiues Zweifels stattfinden kann. Daß die rationalistische Zurechtmacherei jener Tage seinem wissenschaftlichen Gewissen noch vielmehr zuwider war, daß er sie „Mistjauche" nannte, während jene nur „unreines Wasser" war, machte ihn .34 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/274>, abgerufen am 22.12.2024.