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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Schwurgerichte hervorzuheben, daß vor ihnen jeder einzelne Proceß als ein Ganzes
in ununterbrochenem Verlauf und engstem inneren Zusammenhang verhandelt
wird; statt aus vereinzelten todten Elementen zu bestehen, gewinnt er eine Art
von Leben, eine organische Gliederung und innere Nothwendigkeit; und so muß
denn zuletzt der Wahrspruch der Geschworenen nicht wie das Resultat eines künst¬
lichen Rechenexempels, sondern wie die natürliche Entwicklung des Ganzen, gleich¬
sam wie eine reife Frucht sich von selbst ergeben. Hiermit stimmt denn anch
meine Erfahrung insoweit, als wir fast alle unsre Aussprüche einstimmig gethan
haben; die größte Verschiedenheit war einmal in Betreff eines Nebennmstandes:
nenn gegen drei Stimmen.

Dagegen will ich hier einen Mangel der Schwurgerichte erwähnen, der aber
der Gerechtigkeit gewiß keinen Eintrag thut. Bei den berühmten Darstellungen wich¬
tiger Strafrechtsfälle von Feuerbach oder den besten Abschnitten des neuen Pitaval
erfüllt uns die psychologische Kunst, mit der die leisesten Seelcnregungen des
werdenden und des vollendeten Verbrechers belauscht und dargelegt werden, mit
einem grauenvollen Interesse. Diese psychologische Vertiefung in das Subject
des Verbrechers fällt jetzt weg; nur grade so weit wird ni,s der Thatbestand
vorgeführt, als er zur Entscheidung über Schuld oder Unschuld erforderlich ist.
Ob jeuer Greis, der das ihm anvertraute Vermögen eines Landesabwesenden,
gegen 2000 Gulden, bis auf den letzten Heller veruntreut hatte, ob er es ver¬
schlemmt oder verpraßt, oder ob er es zum Vortheil der Seinen verwendet, oder
ob er es blos in unbedachtsamem Leichtsinn zur Erleichterung seiner nicht glän¬
zenden Lage nach und nach aufgezehrt hatte, das bleibt unerörtert. Aber darunter
leidet das Recht, das wirkliche und wahrhaftige Recht nicht. Im Gegentheil, .je
tiefere psychologische Studien der Kriminalist an seinem Inquisiten macht, desto
leichter wird er wenigstens in den Fall kommen können, daß ihn und durch ihn
die Richter nicht das eine ewige und unwandelbare Recht, sondern die jedesmalige
Auffassung des einzelnen Subjects bei der Entscheidung leitet. Also grade das,
was an unsrer Zeit so oft vermißt wird, das strengste Festhalten an dem einfachen,
nnter allen Verhältnissen gleichen Rechtsbegriff, grade dies wird durch die Schwur¬
gerichte eher gewinnen als verlieren. Und deshalb ist es dem französischen Ver¬
fahren gegenüber gewiß ein glänzender Vorzug, wo die Strafproceßordnnng den
Geschworenen nicht gestattet, ohne eine desfallsige Frage des Gerichtshofes aus
eign?r Machtvollkommenheit ans "mildernde Umstände" zu erkennen.

Was ich bis hierher für die Schwurgerichte vorgebracht, gilt ziemlich alles
ebenso für das mündliche und öffentliche Verfahren einer rechtsgelehrten Richterbank.
Die Gegner des Schwurgerichts fügen hinzu, das Volk sei doch im allgemeinen
nicht "reif" zur Ausübung des Nichteramtes; es fehle an Männern, die geneigt
und fähig seien, diese Pflicht mit aller Gewissenhaftigkeit und ausreichender
Urtheilskraft zu erfüllen. Ans einzelne, wenn auch wirklich irrige Wahrsprüche


Schwurgerichte hervorzuheben, daß vor ihnen jeder einzelne Proceß als ein Ganzes
in ununterbrochenem Verlauf und engstem inneren Zusammenhang verhandelt
wird; statt aus vereinzelten todten Elementen zu bestehen, gewinnt er eine Art
von Leben, eine organische Gliederung und innere Nothwendigkeit; und so muß
denn zuletzt der Wahrspruch der Geschworenen nicht wie das Resultat eines künst¬
lichen Rechenexempels, sondern wie die natürliche Entwicklung des Ganzen, gleich¬
sam wie eine reife Frucht sich von selbst ergeben. Hiermit stimmt denn anch
meine Erfahrung insoweit, als wir fast alle unsre Aussprüche einstimmig gethan
haben; die größte Verschiedenheit war einmal in Betreff eines Nebennmstandes:
nenn gegen drei Stimmen.

Dagegen will ich hier einen Mangel der Schwurgerichte erwähnen, der aber
der Gerechtigkeit gewiß keinen Eintrag thut. Bei den berühmten Darstellungen wich¬
tiger Strafrechtsfälle von Feuerbach oder den besten Abschnitten des neuen Pitaval
erfüllt uns die psychologische Kunst, mit der die leisesten Seelcnregungen des
werdenden und des vollendeten Verbrechers belauscht und dargelegt werden, mit
einem grauenvollen Interesse. Diese psychologische Vertiefung in das Subject
des Verbrechers fällt jetzt weg; nur grade so weit wird ni,s der Thatbestand
vorgeführt, als er zur Entscheidung über Schuld oder Unschuld erforderlich ist.
Ob jeuer Greis, der das ihm anvertraute Vermögen eines Landesabwesenden,
gegen 2000 Gulden, bis auf den letzten Heller veruntreut hatte, ob er es ver¬
schlemmt oder verpraßt, oder ob er es zum Vortheil der Seinen verwendet, oder
ob er es blos in unbedachtsamem Leichtsinn zur Erleichterung seiner nicht glän¬
zenden Lage nach und nach aufgezehrt hatte, das bleibt unerörtert. Aber darunter
leidet das Recht, das wirkliche und wahrhaftige Recht nicht. Im Gegentheil, .je
tiefere psychologische Studien der Kriminalist an seinem Inquisiten macht, desto
leichter wird er wenigstens in den Fall kommen können, daß ihn und durch ihn
die Richter nicht das eine ewige und unwandelbare Recht, sondern die jedesmalige
Auffassung des einzelnen Subjects bei der Entscheidung leitet. Also grade das,
was an unsrer Zeit so oft vermißt wird, das strengste Festhalten an dem einfachen,
nnter allen Verhältnissen gleichen Rechtsbegriff, grade dies wird durch die Schwur¬
gerichte eher gewinnen als verlieren. Und deshalb ist es dem französischen Ver¬
fahren gegenüber gewiß ein glänzender Vorzug, wo die Strafproceßordnnng den
Geschworenen nicht gestattet, ohne eine desfallsige Frage des Gerichtshofes aus
eign?r Machtvollkommenheit ans „mildernde Umstände" zu erkennen.

Was ich bis hierher für die Schwurgerichte vorgebracht, gilt ziemlich alles
ebenso für das mündliche und öffentliche Verfahren einer rechtsgelehrten Richterbank.
Die Gegner des Schwurgerichts fügen hinzu, das Volk sei doch im allgemeinen
nicht „reif" zur Ausübung des Nichteramtes; es fehle an Männern, die geneigt
und fähig seien, diese Pflicht mit aller Gewissenhaftigkeit und ausreichender
Urtheilskraft zu erfüllen. Ans einzelne, wenn auch wirklich irrige Wahrsprüche


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[0262] Schwurgerichte hervorzuheben, daß vor ihnen jeder einzelne Proceß als ein Ganzes in ununterbrochenem Verlauf und engstem inneren Zusammenhang verhandelt wird; statt aus vereinzelten todten Elementen zu bestehen, gewinnt er eine Art von Leben, eine organische Gliederung und innere Nothwendigkeit; und so muß denn zuletzt der Wahrspruch der Geschworenen nicht wie das Resultat eines künst¬ lichen Rechenexempels, sondern wie die natürliche Entwicklung des Ganzen, gleich¬ sam wie eine reife Frucht sich von selbst ergeben. Hiermit stimmt denn anch meine Erfahrung insoweit, als wir fast alle unsre Aussprüche einstimmig gethan haben; die größte Verschiedenheit war einmal in Betreff eines Nebennmstandes: nenn gegen drei Stimmen. Dagegen will ich hier einen Mangel der Schwurgerichte erwähnen, der aber der Gerechtigkeit gewiß keinen Eintrag thut. Bei den berühmten Darstellungen wich¬ tiger Strafrechtsfälle von Feuerbach oder den besten Abschnitten des neuen Pitaval erfüllt uns die psychologische Kunst, mit der die leisesten Seelcnregungen des werdenden und des vollendeten Verbrechers belauscht und dargelegt werden, mit einem grauenvollen Interesse. Diese psychologische Vertiefung in das Subject des Verbrechers fällt jetzt weg; nur grade so weit wird ni,s der Thatbestand vorgeführt, als er zur Entscheidung über Schuld oder Unschuld erforderlich ist. Ob jeuer Greis, der das ihm anvertraute Vermögen eines Landesabwesenden, gegen 2000 Gulden, bis auf den letzten Heller veruntreut hatte, ob er es ver¬ schlemmt oder verpraßt, oder ob er es zum Vortheil der Seinen verwendet, oder ob er es blos in unbedachtsamem Leichtsinn zur Erleichterung seiner nicht glän¬ zenden Lage nach und nach aufgezehrt hatte, das bleibt unerörtert. Aber darunter leidet das Recht, das wirkliche und wahrhaftige Recht nicht. Im Gegentheil, .je tiefere psychologische Studien der Kriminalist an seinem Inquisiten macht, desto leichter wird er wenigstens in den Fall kommen können, daß ihn und durch ihn die Richter nicht das eine ewige und unwandelbare Recht, sondern die jedesmalige Auffassung des einzelnen Subjects bei der Entscheidung leitet. Also grade das, was an unsrer Zeit so oft vermißt wird, das strengste Festhalten an dem einfachen, nnter allen Verhältnissen gleichen Rechtsbegriff, grade dies wird durch die Schwur¬ gerichte eher gewinnen als verlieren. Und deshalb ist es dem französischen Ver¬ fahren gegenüber gewiß ein glänzender Vorzug, wo die Strafproceßordnnng den Geschworenen nicht gestattet, ohne eine desfallsige Frage des Gerichtshofes aus eign?r Machtvollkommenheit ans „mildernde Umstände" zu erkennen. Was ich bis hierher für die Schwurgerichte vorgebracht, gilt ziemlich alles ebenso für das mündliche und öffentliche Verfahren einer rechtsgelehrten Richterbank. Die Gegner des Schwurgerichts fügen hinzu, das Volk sei doch im allgemeinen nicht „reif" zur Ausübung des Nichteramtes; es fehle an Männern, die geneigt und fähig seien, diese Pflicht mit aller Gewissenhaftigkeit und ausreichender Urtheilskraft zu erfüllen. Ans einzelne, wenn auch wirklich irrige Wahrsprüche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/261>, abgerufen am 23.07.2024.