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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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besang gleichkommt, und daß dadurch seine Frontalstärke nothwendig geschwächt,
ja vielleicht auf ein- bedenkliches und unhaltbares Minimum reducirt werden würde.
Ich befinde mich daher wol im Recht, wenn ich von der Annahme ausgehe,
Rußland werde den Westmächten und der Türkei gegenüber fortan
keinen Offensiv-, sondern einen Vertheidigungskrieg führen.

Die Defensive Rußlands wird indeß andrerseits eine bestimmte räumliche
Grenze innehalten; sie wird, das kann wol mit einiger Zuversicht vorhergesagt
werde", nicht so weit ausreichender Natur sein, daß sie sich veranlaßt finden
sollte, die Moldau und Walachei zu räumen. Eine Verzichtleistung auf den
militärischen Besitz dieser beiden Fürstenthümer wäre nämlich in zu hohem Maße
ein Eingeständniß Rußlands, daß es sich in eine unhaltbare Stellung vorgewagt
und eine Drohung gegenüber den Westmächten ausgesprochen habe, die es nicht
wahr zu machen im Stande sei. Außerdem ist die Donau eine viel zu vor¬
treffliche Vertheidigungslinie, als daß man annehmen dürste, die Armee des Zaren
werde dieselbe freiwillig verlassen.

Rußland wird demnach mit seiner Defensive nicht minder die Fürstenthümer
an der Donau wie sein ganzes übriges Gebiet umfassen; sollte aber ja anfangs
gleich die Rücksicht einer Raumeinschränkung für die Vertheidigung sich gebietend
geltend machen, so ist es meine Ansicht, daß man am ehesten auf eine Preisgabe
des transkaukasischen Rußlands, als irgend einer andern Provinz, zu rechnen hat.
Letzteres wird um so wahrscheinlicher, je näher man die Schwierigkeiten prüft,
gegen welche eine russische Defenflonsarmee in diesen Gegenden anzukämpfen
haben würde. Transkaukasiens Vertheidigung wird, im Fall eine englische
Armee in Batna ans Land gesetzt werden sollte, aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht weniger als 100,000 Mann erheischen; und diese Macht wird von Briten,
Tscherkessen und Türken letztlich dennoch dermaßen eingeengt sein, daß sie kaum
einer großen Katastrophe entgehen dürste.

Die große Schwierigkeit, mit welcher die russische Defensive im allgemeinen
zu kämpfen haben wird, beruht ans dem Umstände, daß es dem Angriff zwei ex¬
treme, durch ungeheuere Räume voneinander geschiedene Fronten, die eine am
baltischen Meere, die andere am Pontus und an der Donau darbietet. Für die
Angreifer ist es aber eine glückliche Fügung, daß die daraus dem Gegner er¬
wachsenden- Verlegenheiten noch nicht durch den Ausbau des längst entworfenen
strategischen Eisenbahnnetzes vermindert wird. Nur eine große Hauptlinie von
Petersburg nach Moskau befindet sich im Betrieb, und kann zu Gunsten der
baltischen Fronte, welcher freilich unermeßliche Vortheile aus derselben erwachsen,
benutzt werden. 'Dagegen entbehren die südlichen Provinzen jeder beschleunigten
Verbindung, sowol mit dem Reichsmittelpunkt, als untereinander. Im Fall
eine lange Kriegsdauer vom Se. Petersburger Cabinet vorausgesehen wird, wäre
es nicht unwahrscheinlich, daß man jetzt die Ausführung der großen Linie von


besang gleichkommt, und daß dadurch seine Frontalstärke nothwendig geschwächt,
ja vielleicht auf ein- bedenkliches und unhaltbares Minimum reducirt werden würde.
Ich befinde mich daher wol im Recht, wenn ich von der Annahme ausgehe,
Rußland werde den Westmächten und der Türkei gegenüber fortan
keinen Offensiv-, sondern einen Vertheidigungskrieg führen.

Die Defensive Rußlands wird indeß andrerseits eine bestimmte räumliche
Grenze innehalten; sie wird, das kann wol mit einiger Zuversicht vorhergesagt
werde», nicht so weit ausreichender Natur sein, daß sie sich veranlaßt finden
sollte, die Moldau und Walachei zu räumen. Eine Verzichtleistung auf den
militärischen Besitz dieser beiden Fürstenthümer wäre nämlich in zu hohem Maße
ein Eingeständniß Rußlands, daß es sich in eine unhaltbare Stellung vorgewagt
und eine Drohung gegenüber den Westmächten ausgesprochen habe, die es nicht
wahr zu machen im Stande sei. Außerdem ist die Donau eine viel zu vor¬
treffliche Vertheidigungslinie, als daß man annehmen dürste, die Armee des Zaren
werde dieselbe freiwillig verlassen.

Rußland wird demnach mit seiner Defensive nicht minder die Fürstenthümer
an der Donau wie sein ganzes übriges Gebiet umfassen; sollte aber ja anfangs
gleich die Rücksicht einer Raumeinschränkung für die Vertheidigung sich gebietend
geltend machen, so ist es meine Ansicht, daß man am ehesten auf eine Preisgabe
des transkaukasischen Rußlands, als irgend einer andern Provinz, zu rechnen hat.
Letzteres wird um so wahrscheinlicher, je näher man die Schwierigkeiten prüft,
gegen welche eine russische Defenflonsarmee in diesen Gegenden anzukämpfen
haben würde. Transkaukasiens Vertheidigung wird, im Fall eine englische
Armee in Batna ans Land gesetzt werden sollte, aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht weniger als 100,000 Mann erheischen; und diese Macht wird von Briten,
Tscherkessen und Türken letztlich dennoch dermaßen eingeengt sein, daß sie kaum
einer großen Katastrophe entgehen dürste.

Die große Schwierigkeit, mit welcher die russische Defensive im allgemeinen
zu kämpfen haben wird, beruht ans dem Umstände, daß es dem Angriff zwei ex¬
treme, durch ungeheuere Räume voneinander geschiedene Fronten, die eine am
baltischen Meere, die andere am Pontus und an der Donau darbietet. Für die
Angreifer ist es aber eine glückliche Fügung, daß die daraus dem Gegner er¬
wachsenden- Verlegenheiten noch nicht durch den Ausbau des längst entworfenen
strategischen Eisenbahnnetzes vermindert wird. Nur eine große Hauptlinie von
Petersburg nach Moskau befindet sich im Betrieb, und kann zu Gunsten der
baltischen Fronte, welcher freilich unermeßliche Vortheile aus derselben erwachsen,
benutzt werden. 'Dagegen entbehren die südlichen Provinzen jeder beschleunigten
Verbindung, sowol mit dem Reichsmittelpunkt, als untereinander. Im Fall
eine lange Kriegsdauer vom Se. Petersburger Cabinet vorausgesehen wird, wäre
es nicht unwahrscheinlich, daß man jetzt die Ausführung der großen Linie von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/231>, abgerufen am 22.12.2024.