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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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dert, -- das kann man von einem umsichtigen Dirigenten verlangen, daß er nicht
mit einer unreifen, unfertigen, ja rohen Production hervortrete. In diesem Falle
darf man auch bei eiiiem gebildeten Künstler so viel Pietät, voraussetzen, daß er
nicht durch eine solche Aufführung das Publicum an einem großen, keineswegs
schon allgemein verstandenen und gewürdigten Kunstwerk irre mache und damit
einen Stein ans das Grab des Meisters werfe.

Die Bachsche Cantate bietet keine technischen Schwierigkeiten der Art,
ließ aber alles vermissen, woran sich die geistige Auffassung bewähre" sollte.
Bekanntlich ist die gewöhnliche Form der Bachschen - Cantaten die, daß auf
einen ausgeführten Chor mehre Sologesänge und Recitative folgen, welche
dann ein Choral abschließt. Befremden mußte es daher, daß für die Auf¬
führung kurzweg alle Arien weggestrichen waren und nur der Chor und Cho¬
ral blieben. Hat denn ein Kunstwerk eines Meisters wie Bach keine orga¬
nische Gliederung , daß man nur so ohne Weiteres wegschneiden kann? und ist
es nicht für jeden fühlbar, daß dieses stumpfe. Aufeinanderstoßet des Chors
und Chorals ästhetisch und musikalisch sinnlos ist? Der Chor hat den deut¬
lich ausgesprochenen Charakter des Einleitenden, die Ausführung der einzelnen
Momente liegt in den Arien, der Choral bildet den kurzen bekräftigenden Schluß,
der jene detaillirte Ausführung voraussetzt; wie kann man da Anfang und Ende
verbinden und die Mittelglieder hinauswerfen! Vermuthlich sind die Arien zu ver¬
altet und langweilig erschienen, um sie dem Publicum zuzumuthen. Zwar ist
dies, namentlich in Beziehung ans die Alt- und Tenoraric, kaum zuzugeben; allein
sollte man einem Publicum, das auf Bildung und Urtheil Anspruch macht, und
dem doch so manche Virtnosenfadaisen impntirt werden, nicht zutrauen, daß es
einer Bachschen Composition folgen könne? oder, wenn das nicht zu wagen war,
mußte mau uicht eine andere wählen, die nicht so schlechthin in ahnen on-IMni
castrirt zu werden brauchte? oder war es nicht eine besser verstandene Pietät
gegen Bach, gar keine seiner Cantaten aufzuführen, als eine so verstümmelte ?
Uebrigens hätten grade diese Arien eine vortreffliche Gelegenheit geboten, durch
eine aus wahrem Verständniß des Meisters hervorgegangene Ausführung der in
der Partitur nnr angedeuteten Harmonie, die überlieferte Umrißzeichnung zu
beleben und dem Publicum zugänglich und genußreich zu machen. Aber auffal-
lenderweise war es sogar im ersten Chor versäumt, an den erforderlichen Stellen
die mangelnde Orgelbegleitung im.Orchester zu ersetzen, wo nun die einsamen Contra¬
bässe einen Eindruck von Dürftigkeit machten, der keineswegs in der Absicht des
Componisten lag. Ebensowenig ist es seine Meinung gewesen, daß seine Composi-
tionen ohne alle Abwechslung und Nnancirung des Vertrags in einem nnansgc-
sekten inWi5<? torts hertmtergegeigt, geblasen und gesungen werden sollten. Darin
liegt die Würde und Kraft'der alten Musik nicht. Nicht allein die theoretische ^
Verarbeitung verlangt eine scharf gesonderte Betonung der verschiedenen Motive,


dert, — das kann man von einem umsichtigen Dirigenten verlangen, daß er nicht
mit einer unreifen, unfertigen, ja rohen Production hervortrete. In diesem Falle
darf man auch bei eiiiem gebildeten Künstler so viel Pietät, voraussetzen, daß er
nicht durch eine solche Aufführung das Publicum an einem großen, keineswegs
schon allgemein verstandenen und gewürdigten Kunstwerk irre mache und damit
einen Stein ans das Grab des Meisters werfe.

Die Bachsche Cantate bietet keine technischen Schwierigkeiten der Art,
ließ aber alles vermissen, woran sich die geistige Auffassung bewähre» sollte.
Bekanntlich ist die gewöhnliche Form der Bachschen - Cantaten die, daß auf
einen ausgeführten Chor mehre Sologesänge und Recitative folgen, welche
dann ein Choral abschließt. Befremden mußte es daher, daß für die Auf¬
führung kurzweg alle Arien weggestrichen waren und nur der Chor und Cho¬
ral blieben. Hat denn ein Kunstwerk eines Meisters wie Bach keine orga¬
nische Gliederung , daß man nur so ohne Weiteres wegschneiden kann? und ist
es nicht für jeden fühlbar, daß dieses stumpfe. Aufeinanderstoßet des Chors
und Chorals ästhetisch und musikalisch sinnlos ist? Der Chor hat den deut¬
lich ausgesprochenen Charakter des Einleitenden, die Ausführung der einzelnen
Momente liegt in den Arien, der Choral bildet den kurzen bekräftigenden Schluß,
der jene detaillirte Ausführung voraussetzt; wie kann man da Anfang und Ende
verbinden und die Mittelglieder hinauswerfen! Vermuthlich sind die Arien zu ver¬
altet und langweilig erschienen, um sie dem Publicum zuzumuthen. Zwar ist
dies, namentlich in Beziehung ans die Alt- und Tenoraric, kaum zuzugeben; allein
sollte man einem Publicum, das auf Bildung und Urtheil Anspruch macht, und
dem doch so manche Virtnosenfadaisen impntirt werden, nicht zutrauen, daß es
einer Bachschen Composition folgen könne? oder, wenn das nicht zu wagen war,
mußte mau uicht eine andere wählen, die nicht so schlechthin in ahnen on-IMni
castrirt zu werden brauchte? oder war es nicht eine besser verstandene Pietät
gegen Bach, gar keine seiner Cantaten aufzuführen, als eine so verstümmelte ?
Uebrigens hätten grade diese Arien eine vortreffliche Gelegenheit geboten, durch
eine aus wahrem Verständniß des Meisters hervorgegangene Ausführung der in
der Partitur nnr angedeuteten Harmonie, die überlieferte Umrißzeichnung zu
beleben und dem Publicum zugänglich und genußreich zu machen. Aber auffal-
lenderweise war es sogar im ersten Chor versäumt, an den erforderlichen Stellen
die mangelnde Orgelbegleitung im.Orchester zu ersetzen, wo nun die einsamen Contra¬
bässe einen Eindruck von Dürftigkeit machten, der keineswegs in der Absicht des
Componisten lag. Ebensowenig ist es seine Meinung gewesen, daß seine Composi-
tionen ohne alle Abwechslung und Nnancirung des Vertrags in einem nnansgc-
sekten inWi5<? torts hertmtergegeigt, geblasen und gesungen werden sollten. Darin
liegt die Würde und Kraft'der alten Musik nicht. Nicht allein die theoretische ^
Verarbeitung verlangt eine scharf gesonderte Betonung der verschiedenen Motive,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/213>, abgerufen am 23.07.2024.