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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Juli, schon naht der Beginn der Jagdzeit im Norden und man fängt an, sich
nach Ferien zu sehnen. Es bleibt kein anderes Mittel übrig, als das Verzeichnis)
der Gesetzentwürfe, die noch der Berathung harren, zu decimiren, eine Maßregel,
die in der parlamentarischen Sprache der bethlehemitische Kindermord heißt.
Jeden Tag tritt ein Minister mit der Anzeige auf, daß das Cabinet den oder
jenen Gesetzentwurf für diese Session zurückzunehmen gedenkt. Auch der Sprecher
hat jetzt ciuiffe Nuhe, denn die ComiMtzuugeu, wo er nicht den Vorsitz führt
und wo die einzelnen Paragraphen der Gesetze behandelt werden, siud jetzt zahl¬
reicher. Der Stuhl des Sprechers ist alsdann leer, das Scepter liegt muter dem
Tische und als Präsident sitzt der Vorsitzende der Comite's auf einem Stuhle auf
der rechten Seite der Tafel: dieser Vorsitzende liest jeden Paragraphen des Ge¬
setzes vor, der dann ohne alle Formalitäten in Erwägung gezogen wird. Hier
kann jeder so oft sprechen wie er will, nicht blos einmal über die Frage wie in
der regelmäßigen Sitzung und auch die Anwesenheit von i>0 Mitgliedern ist hier
nicht nothwendig. Dies ist der eigentliche Tummelplatz für die praktischen Talente
des Unterhauses, die nicht durch große Rednergaben in den entscheidenden Schlach¬
ten, sondern durch Geschäftskenntniß und Fleiß in diesen Comiteberathuugeu gläu-
zen, welche der Berichterstatter in den Zeitungen nnr flüchtig berührt. Auf den
Antrag, daß der Vorsitzende über die Fortschritte der Berathung Bericht erstatte,
verläßt derselbe deu Stuhl; der Sprecher tritt ein und übernimmt den Vorsitz,
das Scepter erscheint wieder ans der Tafel und der Vorsitzende gibt an, wie
weit die Bill vorgeschritten ist. Ist man. nicht mit sämmtlichen Paragraphen
fertig geworden, so bittet er um Erlaubniß, wieder Sitzung halten zu dürfen;
ist man bis zum letzten Paragraphen gelaugt, so wird die dritte Lesung bean¬
tragt, womit für gewöhnlich die Annahme gesichert ist, denn nur in äußerst sel¬
tene" Fallen versucht die Opposition, noch in diesem Stadium oder bei der aller-
letzten Frage, "ob die Bill passiren soll?" Widerstand.

Von Mitte Juli an, wo die Regierung anßer dem Dienstag alle Abende in
Anspruch nimmt und auch noch Sitzungen früh Morgens veranlaßt, kommt es
immer häufiger vor, daß man den Dienstag, wo nur Privatanträge zur Berathung
kommen, durch Auszählen des Hauses zu Ferien zu benutzen sucht. Man merkt
es sehr bald, wenn es dazu kommen soll. Die Bänke sind vereinsamt; die Stimme
des Antragstellers, der sein Schicksal-voraussieht, wird unsichrer und langsamer;
ein Mitglied nach dem andern steht auf, bleibt noch ein paar Minuten an den
Schranken oder'unter den Galerien und gleitet unversehens zur Thür hinaus.
Derjenige, welcher das Auszählen beantragen will, zählt die Anwesenden; es sind
36; es wäre gefährlich, jetzt den Antrag zu stellen, denn es könnten vor Thor¬
schluß uoch drei Maun zufällig kommen. Fünf Minuten später siud es mir 32, --
aber immer noch könnte der Zufall das Auszählen verhindern; jetzt sind es 27 --
mau hört etwas sprechen, ohne die Worte zu verstehen, aber das Mitglied, wei-
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Juli, schon naht der Beginn der Jagdzeit im Norden und man fängt an, sich
nach Ferien zu sehnen. Es bleibt kein anderes Mittel übrig, als das Verzeichnis)
der Gesetzentwürfe, die noch der Berathung harren, zu decimiren, eine Maßregel,
die in der parlamentarischen Sprache der bethlehemitische Kindermord heißt.
Jeden Tag tritt ein Minister mit der Anzeige auf, daß das Cabinet den oder
jenen Gesetzentwurf für diese Session zurückzunehmen gedenkt. Auch der Sprecher
hat jetzt ciuiffe Nuhe, denn die ComiMtzuugeu, wo er nicht den Vorsitz führt
und wo die einzelnen Paragraphen der Gesetze behandelt werden, siud jetzt zahl¬
reicher. Der Stuhl des Sprechers ist alsdann leer, das Scepter liegt muter dem
Tische und als Präsident sitzt der Vorsitzende der Comite's auf einem Stuhle auf
der rechten Seite der Tafel: dieser Vorsitzende liest jeden Paragraphen des Ge¬
setzes vor, der dann ohne alle Formalitäten in Erwägung gezogen wird. Hier
kann jeder so oft sprechen wie er will, nicht blos einmal über die Frage wie in
der regelmäßigen Sitzung und auch die Anwesenheit von i>0 Mitgliedern ist hier
nicht nothwendig. Dies ist der eigentliche Tummelplatz für die praktischen Talente
des Unterhauses, die nicht durch große Rednergaben in den entscheidenden Schlach¬
ten, sondern durch Geschäftskenntniß und Fleiß in diesen Comiteberathuugeu gläu-
zen, welche der Berichterstatter in den Zeitungen nnr flüchtig berührt. Auf den
Antrag, daß der Vorsitzende über die Fortschritte der Berathung Bericht erstatte,
verläßt derselbe deu Stuhl; der Sprecher tritt ein und übernimmt den Vorsitz,
das Scepter erscheint wieder ans der Tafel und der Vorsitzende gibt an, wie
weit die Bill vorgeschritten ist. Ist man. nicht mit sämmtlichen Paragraphen
fertig geworden, so bittet er um Erlaubniß, wieder Sitzung halten zu dürfen;
ist man bis zum letzten Paragraphen gelaugt, so wird die dritte Lesung bean¬
tragt, womit für gewöhnlich die Annahme gesichert ist, denn nur in äußerst sel¬
tene» Fallen versucht die Opposition, noch in diesem Stadium oder bei der aller-
letzten Frage, „ob die Bill passiren soll?" Widerstand.

Von Mitte Juli an, wo die Regierung anßer dem Dienstag alle Abende in
Anspruch nimmt und auch noch Sitzungen früh Morgens veranlaßt, kommt es
immer häufiger vor, daß man den Dienstag, wo nur Privatanträge zur Berathung
kommen, durch Auszählen des Hauses zu Ferien zu benutzen sucht. Man merkt
es sehr bald, wenn es dazu kommen soll. Die Bänke sind vereinsamt; die Stimme
des Antragstellers, der sein Schicksal-voraussieht, wird unsichrer und langsamer;
ein Mitglied nach dem andern steht auf, bleibt noch ein paar Minuten an den
Schranken oder'unter den Galerien und gleitet unversehens zur Thür hinaus.
Derjenige, welcher das Auszählen beantragen will, zählt die Anwesenden; es sind
36; es wäre gefährlich, jetzt den Antrag zu stellen, denn es könnten vor Thor¬
schluß uoch drei Maun zufällig kommen. Fünf Minuten später siud es mir 32, —
aber immer noch könnte der Zufall das Auszählen verhindern; jetzt sind es 27 —
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/18>, abgerufen am 23.07.2024.