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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Vorschriften enthielte." Das alles ist uns ans der Seele gesprochen, und wir
wollen sogar in der Beistimmung noch einen Schritt weiter gehen. 4) Herr
Erdmann tadelt nämlich diejenigen Naturforscher, welche alle höheren Gesetze auf
Gesetze einer bestimmten niedere" Ordnung zurückführen, z. B. die Biologie auf
die Chemie, die Chemie auf die Mechanik, die Mechanik ans die reine Mathe¬
matik. Dies Unternehmen ist in der That stets zwecklos, denn in jeder höheren
Ordnung tritt ein neuer Begriff ein (z. B. hier in der Mechanik die Kraft, in
der Chemie der Stoff u. s. w.), welcher in jener niederen Stufe noch nicht vor¬
kommt, zu dessen tieferer Begründung qlso eine neue Untersuchung nöthig ist.
Herr Ervmann sagt mit Recht, daß es von einem Schüler der Mathematik sehr
löblich sein würde, sich für die Wahrheit, daß die Summe der Winkel im ebenen
Dreieck zwei Rechte beträgt, todtschlagen zu lassen, daß es aber sehr lächerlich
von ihm sein würde, dieselbe Wahrheit von dem sphärischen Dreieck zu behaup¬
ten. Aber hier müssen wir uns sogleich unsere Stellung sichern, denn dies scheint
der Punkt zu sein, bei dem die Unklarheit des Verfassers beginnt. Allerdings
würde ein Schüler der Mathematik sich sehr lächerlich machen, wenn er die Ge¬
setze des ebenen Dreiecks ohne weiteres ans das sphärische Dreieck anwenden wollte;
denn das sphärische Dreieck hat mit dem ebenen Dreieck zunächst nichts weiter gemein,
als den Namen, es ist in der That etwas ganz Anderes. Aber wenn derselbe Schüler,
der im Kursus der Elementargeometrie davon überzeugt ist, daß die Summe des
ebenen Dreiecks zwei Rechte beträgt, wenn er in den höhern Kursus der Stereo¬
metrie eintritt, die Vermuthung aufstellen sollte, in diesem Cursus dürste etwa jenes
Gesetz auch für das ebene Dreieck seine Geltung verlieren, so würde man ihm die
Ruthe geben. Und so scheint es uns doch in dem gestimmten Gebiet der Wissenschaft
zu sein. Wenn man die Gesetze der gemeinen Naturwissenschaft ohne weiteres auf das
geistige Leben anwenden wollte, .vielleicht durch den gleichen Klang der Bezeichnung
verführt, so würde man allerdings sehr fehl greifen, und dies ist, was dem schlechten
Naturalismus gewöhnlich begegnet, wie er >am dreistesten in dem LMemo w
nawrs und in Helvetius Ac 1'lzsprit, ausgedrückt ist, aber einen ebenso großen
Irrthum würde derjenige begehe", der da meinte, die Gesetze der bloßen Natur,
aus dieselben Gegenstände angewendet, könnten in irgend einem höherem Gebiet
des Lebens oder der Wissenschaft nngiltig sein, und das thun alle offenen oder
verkappten Supranaturalisteu, wenn sie nicht in ihrer Consequenz soweit gehen,
das Naturgesetz ganz und gar zu leugnen. Wir wollen uoch eine" andern Punkt
aus de-r Mathematik hervorheben, in dem der Unterschied noch deutlicher in die
Augen springt. Die Lehre von den Potenzen führt, uns auf gebrochene und
negative Exponenten, ein vorschneller Rationalist würde nun ans diese ohne
weiteres das Gesetz der einfachen Exponenten anwenden, die Wissenschaft dagegen
beweist erst, indem sie den neuen Begriff zerlegt und die alten einfacheren
Gesetze combinirt, daß es sich in der That so verhält. So einfach wird es


Vorschriften enthielte." Das alles ist uns ans der Seele gesprochen, und wir
wollen sogar in der Beistimmung noch einen Schritt weiter gehen. 4) Herr
Erdmann tadelt nämlich diejenigen Naturforscher, welche alle höheren Gesetze auf
Gesetze einer bestimmten niedere» Ordnung zurückführen, z. B. die Biologie auf
die Chemie, die Chemie auf die Mechanik, die Mechanik ans die reine Mathe¬
matik. Dies Unternehmen ist in der That stets zwecklos, denn in jeder höheren
Ordnung tritt ein neuer Begriff ein (z. B. hier in der Mechanik die Kraft, in
der Chemie der Stoff u. s. w.), welcher in jener niederen Stufe noch nicht vor¬
kommt, zu dessen tieferer Begründung qlso eine neue Untersuchung nöthig ist.
Herr Ervmann sagt mit Recht, daß es von einem Schüler der Mathematik sehr
löblich sein würde, sich für die Wahrheit, daß die Summe der Winkel im ebenen
Dreieck zwei Rechte beträgt, todtschlagen zu lassen, daß es aber sehr lächerlich
von ihm sein würde, dieselbe Wahrheit von dem sphärischen Dreieck zu behaup¬
ten. Aber hier müssen wir uns sogleich unsere Stellung sichern, denn dies scheint
der Punkt zu sein, bei dem die Unklarheit des Verfassers beginnt. Allerdings
würde ein Schüler der Mathematik sich sehr lächerlich machen, wenn er die Ge¬
setze des ebenen Dreiecks ohne weiteres ans das sphärische Dreieck anwenden wollte;
denn das sphärische Dreieck hat mit dem ebenen Dreieck zunächst nichts weiter gemein,
als den Namen, es ist in der That etwas ganz Anderes. Aber wenn derselbe Schüler,
der im Kursus der Elementargeometrie davon überzeugt ist, daß die Summe des
ebenen Dreiecks zwei Rechte beträgt, wenn er in den höhern Kursus der Stereo¬
metrie eintritt, die Vermuthung aufstellen sollte, in diesem Cursus dürste etwa jenes
Gesetz auch für das ebene Dreieck seine Geltung verlieren, so würde man ihm die
Ruthe geben. Und so scheint es uns doch in dem gestimmten Gebiet der Wissenschaft
zu sein. Wenn man die Gesetze der gemeinen Naturwissenschaft ohne weiteres auf das
geistige Leben anwenden wollte, .vielleicht durch den gleichen Klang der Bezeichnung
verführt, so würde man allerdings sehr fehl greifen, und dies ist, was dem schlechten
Naturalismus gewöhnlich begegnet, wie er >am dreistesten in dem LMemo w
nawrs und in Helvetius Ac 1'lzsprit, ausgedrückt ist, aber einen ebenso großen
Irrthum würde derjenige begehe», der da meinte, die Gesetze der bloßen Natur,
aus dieselben Gegenstände angewendet, könnten in irgend einem höherem Gebiet
des Lebens oder der Wissenschaft nngiltig sein, und das thun alle offenen oder
verkappten Supranaturalisteu, wenn sie nicht in ihrer Consequenz soweit gehen,
das Naturgesetz ganz und gar zu leugnen. Wir wollen uoch eine» andern Punkt
aus de-r Mathematik hervorheben, in dem der Unterschied noch deutlicher in die
Augen springt. Die Lehre von den Potenzen führt, uns auf gebrochene und
negative Exponenten, ein vorschneller Rationalist würde nun ans diese ohne
weiteres das Gesetz der einfachen Exponenten anwenden, die Wissenschaft dagegen
beweist erst, indem sie den neuen Begriff zerlegt und die alten einfacheren
Gesetze combinirt, daß es sich in der That so verhält. So einfach wird es


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[0066] Vorschriften enthielte." Das alles ist uns ans der Seele gesprochen, und wir wollen sogar in der Beistimmung noch einen Schritt weiter gehen. 4) Herr Erdmann tadelt nämlich diejenigen Naturforscher, welche alle höheren Gesetze auf Gesetze einer bestimmten niedere» Ordnung zurückführen, z. B. die Biologie auf die Chemie, die Chemie auf die Mechanik, die Mechanik ans die reine Mathe¬ matik. Dies Unternehmen ist in der That stets zwecklos, denn in jeder höheren Ordnung tritt ein neuer Begriff ein (z. B. hier in der Mechanik die Kraft, in der Chemie der Stoff u. s. w.), welcher in jener niederen Stufe noch nicht vor¬ kommt, zu dessen tieferer Begründung qlso eine neue Untersuchung nöthig ist. Herr Ervmann sagt mit Recht, daß es von einem Schüler der Mathematik sehr löblich sein würde, sich für die Wahrheit, daß die Summe der Winkel im ebenen Dreieck zwei Rechte beträgt, todtschlagen zu lassen, daß es aber sehr lächerlich von ihm sein würde, dieselbe Wahrheit von dem sphärischen Dreieck zu behaup¬ ten. Aber hier müssen wir uns sogleich unsere Stellung sichern, denn dies scheint der Punkt zu sein, bei dem die Unklarheit des Verfassers beginnt. Allerdings würde ein Schüler der Mathematik sich sehr lächerlich machen, wenn er die Ge¬ setze des ebenen Dreiecks ohne weiteres ans das sphärische Dreieck anwenden wollte; denn das sphärische Dreieck hat mit dem ebenen Dreieck zunächst nichts weiter gemein, als den Namen, es ist in der That etwas ganz Anderes. Aber wenn derselbe Schüler, der im Kursus der Elementargeometrie davon überzeugt ist, daß die Summe des ebenen Dreiecks zwei Rechte beträgt, wenn er in den höhern Kursus der Stereo¬ metrie eintritt, die Vermuthung aufstellen sollte, in diesem Cursus dürste etwa jenes Gesetz auch für das ebene Dreieck seine Geltung verlieren, so würde man ihm die Ruthe geben. Und so scheint es uns doch in dem gestimmten Gebiet der Wissenschaft zu sein. Wenn man die Gesetze der gemeinen Naturwissenschaft ohne weiteres auf das geistige Leben anwenden wollte, .vielleicht durch den gleichen Klang der Bezeichnung verführt, so würde man allerdings sehr fehl greifen, und dies ist, was dem schlechten Naturalismus gewöhnlich begegnet, wie er >am dreistesten in dem LMemo w nawrs und in Helvetius Ac 1'lzsprit, ausgedrückt ist, aber einen ebenso großen Irrthum würde derjenige begehe», der da meinte, die Gesetze der bloßen Natur, aus dieselben Gegenstände angewendet, könnten in irgend einem höherem Gebiet des Lebens oder der Wissenschaft nngiltig sein, und das thun alle offenen oder verkappten Supranaturalisteu, wenn sie nicht in ihrer Consequenz soweit gehen, das Naturgesetz ganz und gar zu leugnen. Wir wollen uoch eine» andern Punkt aus de-r Mathematik hervorheben, in dem der Unterschied noch deutlicher in die Augen springt. Die Lehre von den Potenzen führt, uns auf gebrochene und negative Exponenten, ein vorschneller Rationalist würde nun ans diese ohne weiteres das Gesetz der einfachen Exponenten anwenden, die Wissenschaft dagegen beweist erst, indem sie den neuen Begriff zerlegt und die alten einfacheren Gesetze combinirt, daß es sich in der That so verhält. So einfach wird es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/66>, abgerufen am 22.07.2024.