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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Sachlage nicht klar durchschaut, weil es den Ernst des Augenblicks wenigstens
nicht in seiner Phantasie gegenwärtig hat. Seit sechs Jahren sind wir durch
den fortwährenden Wechsel der Erwartungen, durch die fortwährende Auflösung
von Illusionen so ermüdet und abgespannt geworden, daß uns auch das Uner¬
hörte kalt läßt, weil wir niemals wirklich darau glauben, es könne Ernst werden.
Die orientalische Frage spielt nun schon ein Jahr hindurch, man erkannte auch
die Schwierigkeiten derselben sehr wohl heraus, aber man war fest davon über¬
zeugt, in dieser abgeschwächten Zeit werde niemand den Muth haben, einen
Entschluß zu fassen. Nun haben sich die Thatsachen mächtiger erwiesen, als die
feige Klugheit der Menschen, und es gibt vielleicht auch in Deutschland niemand,
d!r in seinem Verstände die Größe des Moments zu leugnen wagte; aber diese
Verstandsüberzcnguug hat sich noch nicht der Phantasie eingeprägt, und erst durch
diese Vermittlung gewinnt die öffentliche Meinung eine feste, achtunggebietende
Gestalt.

Mit wie kindischen Redensarten man diese Phantasie zu beschäftigen sucht,
zeigt am besten die Behauptung, es sei ein Krieg zwischen den Gläubigen und
Ungläubigen. Es ist vielmehr ein Streit zwischen der abendländischen und der
morgenländischen Kirche innerhalb des türkischen Gebiets. Der russische Kaiser
bekriegt die Türken angeblich deshalb, weil sie die morgenländische Kirche nicht
gegen die abendländische begünstigen. Die Türkei ist, was den Rechtsgrund be¬
trifft, nur der leidende Schauplatz des Streites, die streitenden Parteien dagegen
sind die beiden Kirchen. Wenn wir also nur auf das rechtliche Motiv des Kampfes
eingehen, so ist es vollkommen in der Ordnung, daß alle Angehörigen der abend¬
ländischen Kirchen, der katholischen und der protestantischen sich gegen den Chef
der morgenländischen vereinigen, der ihre Rechte in der Türkei schmälern will.

Allerdings gibt diese Streitfrage nur den Namen her. Jener Schutz der
morgeuläsidischeu Kirche ist "ur der Vorwand, unter dem sich Rußland der Türkei
bemächtigen will. Man fragt uns nnn, was wir Preußen sür ein Interesse daran
haben können, ob die Türkei russisch wird oder nicht, da wir an den orientali¬
schen Zuständen nicht im cntferMsten betheiligt sind? Ja selbst wohlmeinende
und patriotische Männer sind der Ansicht. Preußen müsse neutral bleiben und
seine Betheiligung von der bestimmten Aussicht eines Gewinns abhängig machen.
Es liegt darin ein doppelter Irrthum. Zwar ist es vollkommen richtig, daß
Preußen bei einem Kriege am meiste", exponirt ist und daß für den Fall eines
Sieges sich für diesen Staat am schwersten eine angemessene Landentschädigung
finden wird, während im Fall einer Niederlage starke Verluste nicht abzuwenden
sind. Allein diese sehr gewichtigen Reflexionen können Preuße" doch nur be¬
stimmen, nicht eher an dem Kriege theil zu nehmen, als bis es die sichersten
Garantien hat, von seinen. Bundesgenossen nicht im Stiche gelassen zu werden.
Daß aber für den Fall eines Zusammengehens von England, Frankreich, Preußen


Sachlage nicht klar durchschaut, weil es den Ernst des Augenblicks wenigstens
nicht in seiner Phantasie gegenwärtig hat. Seit sechs Jahren sind wir durch
den fortwährenden Wechsel der Erwartungen, durch die fortwährende Auflösung
von Illusionen so ermüdet und abgespannt geworden, daß uns auch das Uner¬
hörte kalt läßt, weil wir niemals wirklich darau glauben, es könne Ernst werden.
Die orientalische Frage spielt nun schon ein Jahr hindurch, man erkannte auch
die Schwierigkeiten derselben sehr wohl heraus, aber man war fest davon über¬
zeugt, in dieser abgeschwächten Zeit werde niemand den Muth haben, einen
Entschluß zu fassen. Nun haben sich die Thatsachen mächtiger erwiesen, als die
feige Klugheit der Menschen, und es gibt vielleicht auch in Deutschland niemand,
d!r in seinem Verstände die Größe des Moments zu leugnen wagte; aber diese
Verstandsüberzcnguug hat sich noch nicht der Phantasie eingeprägt, und erst durch
diese Vermittlung gewinnt die öffentliche Meinung eine feste, achtunggebietende
Gestalt.

Mit wie kindischen Redensarten man diese Phantasie zu beschäftigen sucht,
zeigt am besten die Behauptung, es sei ein Krieg zwischen den Gläubigen und
Ungläubigen. Es ist vielmehr ein Streit zwischen der abendländischen und der
morgenländischen Kirche innerhalb des türkischen Gebiets. Der russische Kaiser
bekriegt die Türken angeblich deshalb, weil sie die morgenländische Kirche nicht
gegen die abendländische begünstigen. Die Türkei ist, was den Rechtsgrund be¬
trifft, nur der leidende Schauplatz des Streites, die streitenden Parteien dagegen
sind die beiden Kirchen. Wenn wir also nur auf das rechtliche Motiv des Kampfes
eingehen, so ist es vollkommen in der Ordnung, daß alle Angehörigen der abend¬
ländischen Kirchen, der katholischen und der protestantischen sich gegen den Chef
der morgenländischen vereinigen, der ihre Rechte in der Türkei schmälern will.

Allerdings gibt diese Streitfrage nur den Namen her. Jener Schutz der
morgeuläsidischeu Kirche ist »ur der Vorwand, unter dem sich Rußland der Türkei
bemächtigen will. Man fragt uns nnn, was wir Preußen sür ein Interesse daran
haben können, ob die Türkei russisch wird oder nicht, da wir an den orientali¬
schen Zuständen nicht im cntferMsten betheiligt sind? Ja selbst wohlmeinende
und patriotische Männer sind der Ansicht. Preußen müsse neutral bleiben und
seine Betheiligung von der bestimmten Aussicht eines Gewinns abhängig machen.
Es liegt darin ein doppelter Irrthum. Zwar ist es vollkommen richtig, daß
Preußen bei einem Kriege am meiste», exponirt ist und daß für den Fall eines
Sieges sich für diesen Staat am schwersten eine angemessene Landentschädigung
finden wird, während im Fall einer Niederlage starke Verluste nicht abzuwenden
sind. Allein diese sehr gewichtigen Reflexionen können Preuße» doch nur be¬
stimmen, nicht eher an dem Kriege theil zu nehmen, als bis es die sichersten
Garantien hat, von seinen. Bundesgenossen nicht im Stiche gelassen zu werden.
Daß aber für den Fall eines Zusammengehens von England, Frankreich, Preußen


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[0509] Sachlage nicht klar durchschaut, weil es den Ernst des Augenblicks wenigstens nicht in seiner Phantasie gegenwärtig hat. Seit sechs Jahren sind wir durch den fortwährenden Wechsel der Erwartungen, durch die fortwährende Auflösung von Illusionen so ermüdet und abgespannt geworden, daß uns auch das Uner¬ hörte kalt läßt, weil wir niemals wirklich darau glauben, es könne Ernst werden. Die orientalische Frage spielt nun schon ein Jahr hindurch, man erkannte auch die Schwierigkeiten derselben sehr wohl heraus, aber man war fest davon über¬ zeugt, in dieser abgeschwächten Zeit werde niemand den Muth haben, einen Entschluß zu fassen. Nun haben sich die Thatsachen mächtiger erwiesen, als die feige Klugheit der Menschen, und es gibt vielleicht auch in Deutschland niemand, d!r in seinem Verstände die Größe des Moments zu leugnen wagte; aber diese Verstandsüberzcnguug hat sich noch nicht der Phantasie eingeprägt, und erst durch diese Vermittlung gewinnt die öffentliche Meinung eine feste, achtunggebietende Gestalt. Mit wie kindischen Redensarten man diese Phantasie zu beschäftigen sucht, zeigt am besten die Behauptung, es sei ein Krieg zwischen den Gläubigen und Ungläubigen. Es ist vielmehr ein Streit zwischen der abendländischen und der morgenländischen Kirche innerhalb des türkischen Gebiets. Der russische Kaiser bekriegt die Türken angeblich deshalb, weil sie die morgenländische Kirche nicht gegen die abendländische begünstigen. Die Türkei ist, was den Rechtsgrund be¬ trifft, nur der leidende Schauplatz des Streites, die streitenden Parteien dagegen sind die beiden Kirchen. Wenn wir also nur auf das rechtliche Motiv des Kampfes eingehen, so ist es vollkommen in der Ordnung, daß alle Angehörigen der abend¬ ländischen Kirchen, der katholischen und der protestantischen sich gegen den Chef der morgenländischen vereinigen, der ihre Rechte in der Türkei schmälern will. Allerdings gibt diese Streitfrage nur den Namen her. Jener Schutz der morgeuläsidischeu Kirche ist »ur der Vorwand, unter dem sich Rußland der Türkei bemächtigen will. Man fragt uns nnn, was wir Preußen sür ein Interesse daran haben können, ob die Türkei russisch wird oder nicht, da wir an den orientali¬ schen Zuständen nicht im cntferMsten betheiligt sind? Ja selbst wohlmeinende und patriotische Männer sind der Ansicht. Preußen müsse neutral bleiben und seine Betheiligung von der bestimmten Aussicht eines Gewinns abhängig machen. Es liegt darin ein doppelter Irrthum. Zwar ist es vollkommen richtig, daß Preußen bei einem Kriege am meiste», exponirt ist und daß für den Fall eines Sieges sich für diesen Staat am schwersten eine angemessene Landentschädigung finden wird, während im Fall einer Niederlage starke Verluste nicht abzuwenden sind. Allein diese sehr gewichtigen Reflexionen können Preuße» doch nur be¬ stimmen, nicht eher an dem Kriege theil zu nehmen, als bis es die sichersten Garantien hat, von seinen. Bundesgenossen nicht im Stiche gelassen zu werden. Daß aber für den Fall eines Zusammengehens von England, Frankreich, Preußen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/509>, abgerufen am 22.07.2024.