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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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aber nicht mehr, ein Rückwärtsgehen ist nicht möglich, denn rechts und links stehen
kampsgerüstete Mächte:' will mein der einen entgehen, so stößt man auf die
Bajonette der andern. Man wird sich also entscheiden müssen, und die letzte
Geschichte Preußens läßt befürchten, daß diese Entscheidung nicht von der Maxime
des Rechts oder^des Staatswvhls, sondern von dem reinen Zufall abhängen wird.
Wie alle aufstrebenden und unfertigen Staate", wenn sie nicht durch eiuen genialen
Geist geleitet werde", hat Preußen im Laufe dieses Jahrhunderts die bedenkliche
Neigung entwickelt, nie Partei zu ergreifen, sondern sich seine "souveräne" Wil-
lensmeinung vorzubehalten, in der Ueberzeugung, im kritischen Augenblick ein
entscheidendes Gewicht in die Wagschale zu werfen. Es liegt dieser Politik der
Wahn zu Grunde, die'Ereignisse würde" den Gedankengang eines U"schlüssigen
abwarte", jener Wahn, durch den Preußen im Jahre 1806 der schmachvollsten
Erniedrigung anheimfiel. In der Stimmung, die jetzt in Preuße" herrscht, liegt
nur zu viel, was an jenes unglückliche Jahr erinnert, derselbe Uebermuth der
Unentschlossenheit, der sich freut, das Spiel in den Händen zu haben, so lange
er sich nicht entscheidet, derselbe Stolz auf historische Reminiscenzen, die doch
nur Werth haben, wenn sie in lebendiger Gegenwart fortdauern, dieselbe höhere
Weisheit, die alle Ereignisse aus der Vogelperspective betrachtet und deshalb
alle falsch sieht. Aber damals konnte man nur die Regierung wegen ihrer Irr¬
thümer anschuldigen, nicht das Volk, dem die Möglichkeit, sich auszusprechen
versagt war. Diesmal wird man das Volk von der Negierung nicht unterscheiden.

Die Politik des gegenwärtigen Ministeriums ist eine Politik der Umstände,
die nicht durch ein großes Princip getragen, sondern durch zufällige Einwirkun¬
gen bestimmt wird und die daher rathlos hin und. her tamuelt, bis sie der Drang
der Ereignisse gewaltsam mit sich fortreißt. Und dieser rathlosen Verwaltung
steht eine entschlossene und rücksichtslose Partei gegenüber, die sehr genau weiß,
was sie will, die sehr umsichtig und besonnen zu Werke geht, die keine Mittel
scheut, um ihre Zwecke zu erreiche". Gege" eine solche Partei ist es fruchtlos,
kleine Intriguen spielen zu lassen, um die eine oder die andre Person von Ein¬
fluß zu gewinnen. In diesen Intriguen ist unsre Partei, Gott sei Dank, nicht
zu Hause; sie kaun mir durch sittlichen Ernst wirken. Wenn der souveränen
Willkür eine große, sittliche und stark ausgeprägte Ueberzeugung gegenübertritt,
eine opferbereite und unerschütterliche Ueberzeugung, eine Ueberzeugung, von der
die ganze Nation ergriffen wird -- welche Form des Staatsmechanismus konnte
die wohlthätige Einwirkung dieser sittlichen Macht aufwiegen? Die Form, in
der die Opposition zuerst aufgetreten ist, dürfte nicht geeignet sein,^ jene Achtung
einzuflößen, die man der starken, warmen Ueberzeugung nie versagt, die aber
keine Stätte findet, wo kleine Mittel sich an kleinen Mitteln reiben.

Wichtiger noch ist die Einwirkung nach der andren Seite hin. Die öffent¬
liche Meinung hat bis jetzt nur darum noch keine Macht, weil das Volk die


aber nicht mehr, ein Rückwärtsgehen ist nicht möglich, denn rechts und links stehen
kampsgerüstete Mächte:' will mein der einen entgehen, so stößt man auf die
Bajonette der andern. Man wird sich also entscheiden müssen, und die letzte
Geschichte Preußens läßt befürchten, daß diese Entscheidung nicht von der Maxime
des Rechts oder^des Staatswvhls, sondern von dem reinen Zufall abhängen wird.
Wie alle aufstrebenden und unfertigen Staate», wenn sie nicht durch eiuen genialen
Geist geleitet werde», hat Preußen im Laufe dieses Jahrhunderts die bedenkliche
Neigung entwickelt, nie Partei zu ergreifen, sondern sich seine „souveräne" Wil-
lensmeinung vorzubehalten, in der Ueberzeugung, im kritischen Augenblick ein
entscheidendes Gewicht in die Wagschale zu werfen. Es liegt dieser Politik der
Wahn zu Grunde, die'Ereignisse würde» den Gedankengang eines U»schlüssigen
abwarte», jener Wahn, durch den Preußen im Jahre 1806 der schmachvollsten
Erniedrigung anheimfiel. In der Stimmung, die jetzt in Preuße» herrscht, liegt
nur zu viel, was an jenes unglückliche Jahr erinnert, derselbe Uebermuth der
Unentschlossenheit, der sich freut, das Spiel in den Händen zu haben, so lange
er sich nicht entscheidet, derselbe Stolz auf historische Reminiscenzen, die doch
nur Werth haben, wenn sie in lebendiger Gegenwart fortdauern, dieselbe höhere
Weisheit, die alle Ereignisse aus der Vogelperspective betrachtet und deshalb
alle falsch sieht. Aber damals konnte man nur die Regierung wegen ihrer Irr¬
thümer anschuldigen, nicht das Volk, dem die Möglichkeit, sich auszusprechen
versagt war. Diesmal wird man das Volk von der Negierung nicht unterscheiden.

Die Politik des gegenwärtigen Ministeriums ist eine Politik der Umstände,
die nicht durch ein großes Princip getragen, sondern durch zufällige Einwirkun¬
gen bestimmt wird und die daher rathlos hin und. her tamuelt, bis sie der Drang
der Ereignisse gewaltsam mit sich fortreißt. Und dieser rathlosen Verwaltung
steht eine entschlossene und rücksichtslose Partei gegenüber, die sehr genau weiß,
was sie will, die sehr umsichtig und besonnen zu Werke geht, die keine Mittel
scheut, um ihre Zwecke zu erreiche». Gege» eine solche Partei ist es fruchtlos,
kleine Intriguen spielen zu lassen, um die eine oder die andre Person von Ein¬
fluß zu gewinnen. In diesen Intriguen ist unsre Partei, Gott sei Dank, nicht
zu Hause; sie kaun mir durch sittlichen Ernst wirken. Wenn der souveränen
Willkür eine große, sittliche und stark ausgeprägte Ueberzeugung gegenübertritt,
eine opferbereite und unerschütterliche Ueberzeugung, eine Ueberzeugung, von der
die ganze Nation ergriffen wird — welche Form des Staatsmechanismus konnte
die wohlthätige Einwirkung dieser sittlichen Macht aufwiegen? Die Form, in
der die Opposition zuerst aufgetreten ist, dürfte nicht geeignet sein,^ jene Achtung
einzuflößen, die man der starken, warmen Ueberzeugung nie versagt, die aber
keine Stätte findet, wo kleine Mittel sich an kleinen Mitteln reiben.

Wichtiger noch ist die Einwirkung nach der andren Seite hin. Die öffent¬
liche Meinung hat bis jetzt nur darum noch keine Macht, weil das Volk die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/508>, abgerufen am 22.07.2024.