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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Gastlichkeit Vorwissen verfertigt, was konnte damit beabsichtigt werden? . . .
Nichts Anderes, als keineswegs ein Aergerniß, sondern die öffentliche Lehre und
Warnung, solchem Beispiele nicht zu folgen." -- Arme feine Welt des 19. Jahr¬
hunderts, wie tief ist deine Sittlichkeit gesunken! Du fällst in Ohnmacht, wenn
man dir ein Frauenzimmer zeigt, das seine eigne Brust abgeschnitten in der
Schüssel mit sich trägt; du fällst in Ohnmacht, wenn ein Mönch einer Nonne den
Rock aufhebt nud dir zeigt, was nicht gesehen werden sollte; und du fällst nicht
in Ohnmacht, wenn man dir einen richtig gezeichneten menschlichen Körper vor¬
stellt. Geh ins Kloster! Auf eine andere Weise wird dir nicht zu helfen sein. --

Wir schöpfen wieder freien Athem, wen" wir der trüben Athmosphäre dieses
angeblich künstlerischen, eigentlich aber klösterlichen Buchs entfliehen, und in der
Kunstarchäologie von Otte wieder die reine Luft einer künstlerischen Ath¬
mosphäre einfangen. Dieses vortreffliche Buch hat bereits in der bescheidenen
Form, in der es früher auftrat, sich seinen Weg gebahnt. Die nenerweiterte und
unendlich bereicherte Form, in der es erscheint, wird diese Anerkennung nur "och
erweitern. -- Der Verfasser geht, wie billig, nicht vom abstract-ästhetischen
Staudpunkte, sondern von den kirchlichen Voraussetzungen ans, aber er be¬
trachtet diese nur als die unumgängliche Voraussetzung, aus der die Kunst
erst das ihrem Wesen Entsprechende zu schaffen hatte. Er zeigt uns zu¬
nächst das Kirchengebäude, gleichsam wie Goethe seine Urpflanze, in der
allgemeinen Form, die in allen Metamorphosen sich gleich geblieben ist, indem
er diese Form aus dem Wesen der Sache entwickelt. Nachdem er uns in diesen
Grundformen nach allen Seiten hin auf das genaueste orientirt hat, geht er zur
historischen, Entwicklung des Kirchenbaues über, "ud indem er den Gegensatz
zwischen der romanischen und germanischen Form (der byzantinischen und der
gothischen) zu Grunde legt, weist er Schritt für Schritt nach, wie der Wechsel
in den Bedürfnissen und im Geschmack eine naturgemäße Entwicklung in den
Formen herbeiführte. Er ist auch in dieser Darstellung durchaus objectiv und hebt
ohne irgendwie seiue subjective Vorliebe aufzudrängen, alles dasjenige hervor,
was die verschiedenen Stile in ihrer innern Uebereinstimmung, ihrer Zweckmäßig¬
keit und Schönheit Beachtenswerthes hatten. In Beziehung auf die Klarheit,
Durchsichtigkeit und verständige Gruppirung des Einzelnen ist das Buch ein
Muster, was mau umsomehr anerkennen muß, da der Verfasser das Material
vo" allen Seiten her in der reichsten Fülle aufgespeichert hat. sowol der litur¬
gische, als der eigentlich architektonische Theil ist bis zur detaillirtesten Voll¬
ständigkeit durchgeführt. Wir finden über alle Fragen Auskunft, und die zahl¬
reichen hinzugefügten Stiche geben uns auch eine lebhafte sinnliche Vorstellung.
Nach der historischen Entwicklung folgt eine Aufzählung der sämmtlichen deutschen
Kirchen ans dem Mittelalter mit Angabe der wesentlichsten Merkmale. Hier
würde vielleicht bei einer neuen Abgabe noch eine größere Reichhaltigkeit


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Gastlichkeit Vorwissen verfertigt, was konnte damit beabsichtigt werden? . . .
Nichts Anderes, als keineswegs ein Aergerniß, sondern die öffentliche Lehre und
Warnung, solchem Beispiele nicht zu folgen." — Arme feine Welt des 19. Jahr¬
hunderts, wie tief ist deine Sittlichkeit gesunken! Du fällst in Ohnmacht, wenn
man dir ein Frauenzimmer zeigt, das seine eigne Brust abgeschnitten in der
Schüssel mit sich trägt; du fällst in Ohnmacht, wenn ein Mönch einer Nonne den
Rock aufhebt nud dir zeigt, was nicht gesehen werden sollte; und du fällst nicht
in Ohnmacht, wenn man dir einen richtig gezeichneten menschlichen Körper vor¬
stellt. Geh ins Kloster! Auf eine andere Weise wird dir nicht zu helfen sein. —

Wir schöpfen wieder freien Athem, wen» wir der trüben Athmosphäre dieses
angeblich künstlerischen, eigentlich aber klösterlichen Buchs entfliehen, und in der
Kunstarchäologie von Otte wieder die reine Luft einer künstlerischen Ath¬
mosphäre einfangen. Dieses vortreffliche Buch hat bereits in der bescheidenen
Form, in der es früher auftrat, sich seinen Weg gebahnt. Die nenerweiterte und
unendlich bereicherte Form, in der es erscheint, wird diese Anerkennung nur »och
erweitern. — Der Verfasser geht, wie billig, nicht vom abstract-ästhetischen
Staudpunkte, sondern von den kirchlichen Voraussetzungen ans, aber er be¬
trachtet diese nur als die unumgängliche Voraussetzung, aus der die Kunst
erst das ihrem Wesen Entsprechende zu schaffen hatte. Er zeigt uns zu¬
nächst das Kirchengebäude, gleichsam wie Goethe seine Urpflanze, in der
allgemeinen Form, die in allen Metamorphosen sich gleich geblieben ist, indem
er diese Form aus dem Wesen der Sache entwickelt. Nachdem er uns in diesen
Grundformen nach allen Seiten hin auf das genaueste orientirt hat, geht er zur
historischen, Entwicklung des Kirchenbaues über, »ud indem er den Gegensatz
zwischen der romanischen und germanischen Form (der byzantinischen und der
gothischen) zu Grunde legt, weist er Schritt für Schritt nach, wie der Wechsel
in den Bedürfnissen und im Geschmack eine naturgemäße Entwicklung in den
Formen herbeiführte. Er ist auch in dieser Darstellung durchaus objectiv und hebt
ohne irgendwie seiue subjective Vorliebe aufzudrängen, alles dasjenige hervor,
was die verschiedenen Stile in ihrer innern Uebereinstimmung, ihrer Zweckmäßig¬
keit und Schönheit Beachtenswerthes hatten. In Beziehung auf die Klarheit,
Durchsichtigkeit und verständige Gruppirung des Einzelnen ist das Buch ein
Muster, was mau umsomehr anerkennen muß, da der Verfasser das Material
vo» allen Seiten her in der reichsten Fülle aufgespeichert hat. sowol der litur¬
gische, als der eigentlich architektonische Theil ist bis zur detaillirtesten Voll¬
ständigkeit durchgeführt. Wir finden über alle Fragen Auskunft, und die zahl¬
reichen hinzugefügten Stiche geben uns auch eine lebhafte sinnliche Vorstellung.
Nach der historischen Entwicklung folgt eine Aufzählung der sämmtlichen deutschen
Kirchen ans dem Mittelalter mit Angabe der wesentlichsten Merkmale. Hier
würde vielleicht bei einer neuen Abgabe noch eine größere Reichhaltigkeit


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[0467] Gastlichkeit Vorwissen verfertigt, was konnte damit beabsichtigt werden? . . . Nichts Anderes, als keineswegs ein Aergerniß, sondern die öffentliche Lehre und Warnung, solchem Beispiele nicht zu folgen." — Arme feine Welt des 19. Jahr¬ hunderts, wie tief ist deine Sittlichkeit gesunken! Du fällst in Ohnmacht, wenn man dir ein Frauenzimmer zeigt, das seine eigne Brust abgeschnitten in der Schüssel mit sich trägt; du fällst in Ohnmacht, wenn ein Mönch einer Nonne den Rock aufhebt nud dir zeigt, was nicht gesehen werden sollte; und du fällst nicht in Ohnmacht, wenn man dir einen richtig gezeichneten menschlichen Körper vor¬ stellt. Geh ins Kloster! Auf eine andere Weise wird dir nicht zu helfen sein. — Wir schöpfen wieder freien Athem, wen» wir der trüben Athmosphäre dieses angeblich künstlerischen, eigentlich aber klösterlichen Buchs entfliehen, und in der Kunstarchäologie von Otte wieder die reine Luft einer künstlerischen Ath¬ mosphäre einfangen. Dieses vortreffliche Buch hat bereits in der bescheidenen Form, in der es früher auftrat, sich seinen Weg gebahnt. Die nenerweiterte und unendlich bereicherte Form, in der es erscheint, wird diese Anerkennung nur »och erweitern. — Der Verfasser geht, wie billig, nicht vom abstract-ästhetischen Staudpunkte, sondern von den kirchlichen Voraussetzungen ans, aber er be¬ trachtet diese nur als die unumgängliche Voraussetzung, aus der die Kunst erst das ihrem Wesen Entsprechende zu schaffen hatte. Er zeigt uns zu¬ nächst das Kirchengebäude, gleichsam wie Goethe seine Urpflanze, in der allgemeinen Form, die in allen Metamorphosen sich gleich geblieben ist, indem er diese Form aus dem Wesen der Sache entwickelt. Nachdem er uns in diesen Grundformen nach allen Seiten hin auf das genaueste orientirt hat, geht er zur historischen, Entwicklung des Kirchenbaues über, »ud indem er den Gegensatz zwischen der romanischen und germanischen Form (der byzantinischen und der gothischen) zu Grunde legt, weist er Schritt für Schritt nach, wie der Wechsel in den Bedürfnissen und im Geschmack eine naturgemäße Entwicklung in den Formen herbeiführte. Er ist auch in dieser Darstellung durchaus objectiv und hebt ohne irgendwie seiue subjective Vorliebe aufzudrängen, alles dasjenige hervor, was die verschiedenen Stile in ihrer innern Uebereinstimmung, ihrer Zweckmäßig¬ keit und Schönheit Beachtenswerthes hatten. In Beziehung auf die Klarheit, Durchsichtigkeit und verständige Gruppirung des Einzelnen ist das Buch ein Muster, was mau umsomehr anerkennen muß, da der Verfasser das Material vo» allen Seiten her in der reichsten Fülle aufgespeichert hat. sowol der litur¬ gische, als der eigentlich architektonische Theil ist bis zur detaillirtesten Voll¬ ständigkeit durchgeführt. Wir finden über alle Fragen Auskunft, und die zahl¬ reichen hinzugefügten Stiche geben uns auch eine lebhafte sinnliche Vorstellung. Nach der historischen Entwicklung folgt eine Aufzählung der sämmtlichen deutschen Kirchen ans dem Mittelalter mit Angabe der wesentlichsten Merkmale. Hier würde vielleicht bei einer neuen Abgabe noch eine größere Reichhaltigkeit 68*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/467>, abgerufen am 22.07.2024.