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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Knaben auch noch außerdem ohne allen Zweck eine ganze Reihe schlechter Streiche
aufbürdet. Soweit würden wir allenfalls noch mitgehen, obgleich die einzelnen
Umstände schon ans Unerhörte und Fabelhafte streifen. Aber nun weiter. Jene
Knaben werdeu als' überwiesen betrachtet, den härtesten körperlichen Züchtigungen
ausgesetzt und mehre Wochen hindurch auf die Schandbank gesetzt, und wie ver¬
hält sich der grüne Heinrich dazu? "Mir war das angerichtete Unheil nicht nur
gleichgiltig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poe¬
tische Gerechtigkeit meine Erfindung so schon und sichtbarlich abrundete, daß etwas
Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das infolge meines
schöpferischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so
lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Ge¬
schichte sich von selbst verstand und ich/hierau so wenig etwas ändern konnte,
als die alten Götter am Fatum." -- Das ist nicht nur abscheulich, sondern es
ist auch durch und durch unwahr. Knaben bringen es zwar in der Erfindsamkeit
des Lügens häufig sehr weit; sobald, aber die schlimme Folge ihres Lügens ihnen
sinnlich vor Angen tritt, so regt sich auch in der wildesten Natur das Gewissen.
Mau erinnere sich an die ähnliche Stelle in Rousseaus Bekenntnissen, wo er
einen Diebstahl, den er selber begangen, ans ein Mädchen schiebt, das er liebt.
Ueber dieses Ereigniß geht Rousseau, was die moralische Würdigung betrifft, zwar
mit einer empörenden Frivolität hinweg, aber psychologisch hat er es vollkommen
logisch und verständlich entwickelt. Das Gewissen ist zwar nicht immer das be¬
stimmende Motiv d.er Handlungen, aber es ist vorhanden, nud es ist es allein,
was den Charakter macht. Durch die absolute Vertiefung in das Traumreich hat
unser Dichter das Gewissen vollständig aufgelöst und> dadurch auch die Bildung
von Charakteren unmöglich gemacht. Denn wo kein fester Kern des Willens da
ist, kann man die glänzendsten individuellen Erscheinungen des Lebens zusammen-
häufen, und es wird doch nie ein Ganzes daraus. -- Mau glaube nicht, daß
es mit diesem einzelnen Fall abgethan ist. Das Leben der Einbildung übt auch
später seine Macht aus, und wenn wir von den verschiedenen Diebstählen, die
Heinrich als Knabe begeht, vou seiner Untreue als Liebhaber n. s. w. absehen,
so ist eine Geschichte, mit der seiue Jngeudlaufbahn sich schließt, gradezu empörend.
Heinrich will Maler werden. Zufällig trifft ihn ein fremder Maler, der sich seiner
annimmt nud ihn auf den richtigen Weg der Kunst führt. Gegen diesen, dem
er die größte Dankbarkeit schuldig wäre, begeht Heinrich einen Zug so raffinirter
schändlicher Undankbarkeit und zwar in einem vollkommen zurechnungsfähigen
Alter, daß wir nicht wissen, ob wir mehr erstaunen oder uns empören sollen.
Die alte Sentimentalität der Romanschreiber, die ihre Helden in Tugend "ud
Aufopferungsfähigkeit vollständig auflösen, war zwar im ganzen auch sehr
poetisch, allein sie war doch in jeder Weise diesem modernen Raffinement vorzu¬
ziehen, welches ganz ohne ersichtlichen Zweck das Leben derselben durch schändliche


Knaben auch noch außerdem ohne allen Zweck eine ganze Reihe schlechter Streiche
aufbürdet. Soweit würden wir allenfalls noch mitgehen, obgleich die einzelnen
Umstände schon ans Unerhörte und Fabelhafte streifen. Aber nun weiter. Jene
Knaben werdeu als' überwiesen betrachtet, den härtesten körperlichen Züchtigungen
ausgesetzt und mehre Wochen hindurch auf die Schandbank gesetzt, und wie ver¬
hält sich der grüne Heinrich dazu? „Mir war das angerichtete Unheil nicht nur
gleichgiltig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poe¬
tische Gerechtigkeit meine Erfindung so schon und sichtbarlich abrundete, daß etwas
Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das infolge meines
schöpferischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so
lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Ge¬
schichte sich von selbst verstand und ich/hierau so wenig etwas ändern konnte,
als die alten Götter am Fatum." — Das ist nicht nur abscheulich, sondern es
ist auch durch und durch unwahr. Knaben bringen es zwar in der Erfindsamkeit
des Lügens häufig sehr weit; sobald, aber die schlimme Folge ihres Lügens ihnen
sinnlich vor Angen tritt, so regt sich auch in der wildesten Natur das Gewissen.
Mau erinnere sich an die ähnliche Stelle in Rousseaus Bekenntnissen, wo er
einen Diebstahl, den er selber begangen, ans ein Mädchen schiebt, das er liebt.
Ueber dieses Ereigniß geht Rousseau, was die moralische Würdigung betrifft, zwar
mit einer empörenden Frivolität hinweg, aber psychologisch hat er es vollkommen
logisch und verständlich entwickelt. Das Gewissen ist zwar nicht immer das be¬
stimmende Motiv d.er Handlungen, aber es ist vorhanden, nud es ist es allein,
was den Charakter macht. Durch die absolute Vertiefung in das Traumreich hat
unser Dichter das Gewissen vollständig aufgelöst und> dadurch auch die Bildung
von Charakteren unmöglich gemacht. Denn wo kein fester Kern des Willens da
ist, kann man die glänzendsten individuellen Erscheinungen des Lebens zusammen-
häufen, und es wird doch nie ein Ganzes daraus. — Mau glaube nicht, daß
es mit diesem einzelnen Fall abgethan ist. Das Leben der Einbildung übt auch
später seine Macht aus, und wenn wir von den verschiedenen Diebstählen, die
Heinrich als Knabe begeht, vou seiner Untreue als Liebhaber n. s. w. absehen,
so ist eine Geschichte, mit der seiue Jngeudlaufbahn sich schließt, gradezu empörend.
Heinrich will Maler werden. Zufällig trifft ihn ein fremder Maler, der sich seiner
annimmt nud ihn auf den richtigen Weg der Kunst führt. Gegen diesen, dem
er die größte Dankbarkeit schuldig wäre, begeht Heinrich einen Zug so raffinirter
schändlicher Undankbarkeit und zwar in einem vollkommen zurechnungsfähigen
Alter, daß wir nicht wissen, ob wir mehr erstaunen oder uns empören sollen.
Die alte Sentimentalität der Romanschreiber, die ihre Helden in Tugend »ud
Aufopferungsfähigkeit vollständig auflösen, war zwar im ganzen auch sehr
poetisch, allein sie war doch in jeder Weise diesem modernen Raffinement vorzu¬
ziehen, welches ganz ohne ersichtlichen Zweck das Leben derselben durch schändliche


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[0412] Knaben auch noch außerdem ohne allen Zweck eine ganze Reihe schlechter Streiche aufbürdet. Soweit würden wir allenfalls noch mitgehen, obgleich die einzelnen Umstände schon ans Unerhörte und Fabelhafte streifen. Aber nun weiter. Jene Knaben werdeu als' überwiesen betrachtet, den härtesten körperlichen Züchtigungen ausgesetzt und mehre Wochen hindurch auf die Schandbank gesetzt, und wie ver¬ hält sich der grüne Heinrich dazu? „Mir war das angerichtete Unheil nicht nur gleichgiltig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poe¬ tische Gerechtigkeit meine Erfindung so schon und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das infolge meines schöpferischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Ge¬ schichte sich von selbst verstand und ich/hierau so wenig etwas ändern konnte, als die alten Götter am Fatum." — Das ist nicht nur abscheulich, sondern es ist auch durch und durch unwahr. Knaben bringen es zwar in der Erfindsamkeit des Lügens häufig sehr weit; sobald, aber die schlimme Folge ihres Lügens ihnen sinnlich vor Angen tritt, so regt sich auch in der wildesten Natur das Gewissen. Mau erinnere sich an die ähnliche Stelle in Rousseaus Bekenntnissen, wo er einen Diebstahl, den er selber begangen, ans ein Mädchen schiebt, das er liebt. Ueber dieses Ereigniß geht Rousseau, was die moralische Würdigung betrifft, zwar mit einer empörenden Frivolität hinweg, aber psychologisch hat er es vollkommen logisch und verständlich entwickelt. Das Gewissen ist zwar nicht immer das be¬ stimmende Motiv d.er Handlungen, aber es ist vorhanden, nud es ist es allein, was den Charakter macht. Durch die absolute Vertiefung in das Traumreich hat unser Dichter das Gewissen vollständig aufgelöst und> dadurch auch die Bildung von Charakteren unmöglich gemacht. Denn wo kein fester Kern des Willens da ist, kann man die glänzendsten individuellen Erscheinungen des Lebens zusammen- häufen, und es wird doch nie ein Ganzes daraus. — Mau glaube nicht, daß es mit diesem einzelnen Fall abgethan ist. Das Leben der Einbildung übt auch später seine Macht aus, und wenn wir von den verschiedenen Diebstählen, die Heinrich als Knabe begeht, vou seiner Untreue als Liebhaber n. s. w. absehen, so ist eine Geschichte, mit der seiue Jngeudlaufbahn sich schließt, gradezu empörend. Heinrich will Maler werden. Zufällig trifft ihn ein fremder Maler, der sich seiner annimmt nud ihn auf den richtigen Weg der Kunst führt. Gegen diesen, dem er die größte Dankbarkeit schuldig wäre, begeht Heinrich einen Zug so raffinirter schändlicher Undankbarkeit und zwar in einem vollkommen zurechnungsfähigen Alter, daß wir nicht wissen, ob wir mehr erstaunen oder uns empören sollen. Die alte Sentimentalität der Romanschreiber, die ihre Helden in Tugend »ud Aufopferungsfähigkeit vollständig auflösen, war zwar im ganzen auch sehr poetisch, allein sie war doch in jeder Weise diesem modernen Raffinement vorzu¬ ziehen, welches ganz ohne ersichtlichen Zweck das Leben derselben durch schändliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/412>, abgerufen am 22.07.2024.